folgte dann Gesa, um deren Beherrschung es nun endgültig geschehen war. Aufschluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht und lehnte sich haltsuchend an die Wand.
Denises Müdigkeit verflog. Behutsam führte sie die junge Frau ins Biedermeierzimmer, wo Alexander auf sie wartete. Nach einem Wink von ihr zog er sich taktvoll zurück.
Denise war nun mit der verzweifelten Gesa allein. »Frau Wendt, wollen Sie mir nicht sagen, was Sie bedrückt?«, bat sie gütig. »Manchmal ist es eine große Hilfe, wenn man einem Menschen das Herz ausschütten kann. In diesem Zimmer habe ich schon viel Leid gehört.«
Gesa erwiderte ihren Blick und vertraute sich ihr dann an.
Erschüttert hörte Denise ihr zu. Welch’ merkwürdige Wege das Schicksal doch manchmal ging.
»Was soll ich nur tun?«, fragte Gesa, schon etwas ruhiger geworden. »Clemens will sich von mir scheiden lassen. Ich nehme das als Strafe dafür hin, dass ich Andreas einst in fremde Hände gegeben habe.«
»Seine Adoptiveltern müssen sehr lieb zu ihm gewesen sein, Frau Wendt. Sonst würde er nicht so sehr um sie trauern. Sie waren damals sehr jung und allein.«
»Sie haben Verständnis für mich. Auch Dr. Martin Hoffmann hatte das. Nur Clemens …« Wieder schossen Gesa die Tränen in die Augen.
»Frau Wendt, Sie müssen jetzt schlafen gehen«, erklärte Denise. »Sonst brechen Sie noch zusammen. Sie müssen daran denken, dass Sie nun zwei Kinder haben, die Sie brauchen. Trotzdem würde ich Andreas noch nicht die Wahrheit sagen.«
»Sie meinen, ich soll ihm nicht sagen, dass ich seine Mutter bin?«
»Ich halte es für besser, wenn Sie es nicht täten, Frau Wendt. Andreas muss innerlich erst ruhiger werden. Es würde ihn noch mehr durcheinander bringen, wenn er schon jetzt erfahren würde, dass seine Eltern gar nicht seine wirklichen Eltern waren.«
»Das sehe ich ein. Bitte, verzeihen Sie mir, dass ich Ihre Güte so lange in Anspruch genommen habe«, entschuldigte sich Gesa nach einem erschrockenen Blick auf die Uhr. »Es ist gleich Mitternacht.«
»Ich gebe zu, dass ich plötzlich sehr müde bin.« Denise erhob sich. »Morgen früh bin ich wieder in Sophienlust. Versuchen Sie zu schlafen.«
»Ich nehme eine Schlaftablette. Ich weiß, dass es schädlich ist, tagtäglich Tabletten zu nehmen. Aber ich könnte sonst keine Stunde schlafen. Und nochmals vielen Dank.«
Gesa sagte noch gute Nacht und verließ das Biedermeierzimmer. Kurz darauf ging Denise in die Halle. Dort wartete Alexander auf sie.
»Endlich!«, rief er. »Du siehst erbärmlich aus, Denise.«
»Ich kann es auch kaum erwarten, ins Bett zu kommen. Du tust mir leid, Alexander. Meinetwegen findest du niemals wirkliche Ruhe.«
»Wie du siehst, bin ich ein armer, gequälter Ehemann«, erwiderte er scherzend. Er hakte sich bei ihr unter und verließ mit ihr das Haus.
Im Auto erzählte Denise ihm mit wenigen Worten von Gesas Tragödie. »Ich möchte ihr helfen und deshalb nach München fahren, Alexander«, fügte sie hinzu.
»Ich komme natürlich mit«, erklärte Alexander mit einem tiefen Seufzer. »Sascha ist ja da. Er wird mich auf dem Gut für ein paar Tage vertreten können.«
»Ich bin über deine Begleitung froh, Alexander. Du bist der gütigste Ehemann auf Erden.« Zärtlich strich Denise ihm über die Hand.
Alexander grinste verlegen. »Na ja, das ist halb so schlimm. Ich finde eher, dass ich ein krasser Egoist bin, weil ich dich Tag und Nacht um mich haben möchte.«
»Das war eine schöne Liebeserklärung, Alexander.« Verstohlen wischte Denise sich die Tränen aus den Augenwinkeln fort. Als das Auto vor dem Portal des Herrenhauses von Schoeneich hielt, schmiegte sie sich für einen Augenblick an ihren Mann.
*
Schon am nächsten Vormittag stellte sich heraus, dass die Reise nach München nicht nötig war. Dr. Clemens Wendt rief, wie so häufig, in Sophienlust an, um sich nach Oliver zu erkundigen. Er bat auch, seinen Sohn sprechen zu dürfen.
Das Kind, das keine Ahnung von dem Zerwürfnis seiner Eltern hatte, jubelte sogleich: »Vati, lieber Vati, Mutti ist da! Sie ist schon wieder ganz gesund. Ich bin so glücklich. Andreas war fortgelaufen. Die Polizei hat ihn gesucht und im Wald gefunden. Er hat schrecklich viel grünes Obst gegessen und dann Wasser getrunken. Aber das dürfen wir doch nicht, weil wir sonst krank werden. Andreas war so traurig, weil ich jetzt wieder eine Mutti habe und seine Mutti tot ist. Vati, vielleicht können wir Andreas zu uns nehmen? Dann habe ich einen Bruder.«
In seiner Freude bemerkte der Kleine nicht, dass sein Vater gar nicht antwortete. Erst als er fragte: »Vati, bist du noch da?«, erwiderte Clemens: »Ja, Oliver. Ich werde versuchen, dich bald wieder zu besuchen. Auf Wiedersehen, mein Junge.«
»Auf Wiedersehen, Vati.«
Oliver suchte nach seiner Mutter, die er bei Andreas fand. »Mutti, Vati hat angerufen!«, rief er glücklich.
»Vati? Und?« Gesa presste beide Hände auf ihr wie verrückt hämmerndes Herz.
»Ich habe ihm gesagt, dass du bei mir bist, dass du wieder gesund bist.« Oliver sah seine Mutter glücklich an und setzte sich dann auf Andreas’ Bett.
Gesa konnte nur schwer ihre Erregung verbergen. Was würde Clemens nun unternehmen? Würde er nach Sophienlust kommen und sie zur Rede stellen?
Gesa sprach mit Denise über ihre geheimen Ängste. Diese beruhigte sie und meinte dann: »Sollte Ihr Mann tatsächlich herkommen, was ich fast glaube, hätten Sie eine Gelegenheit, sich mit ihm auszusprechen. An Ihrer Stelle würde ich ihm reinen Wein einschenken und ihm sagen, dass Sie Andreas hier gefunden haben und dass seine Adoptiveltern tödlich verunglückt sind. Es wäre gut, wenn Sie Andreas zu sich nehmen würden. Das wäre die beste Lösung für den Jungen.«
Gesa nickte beklommen. Es erschien ihr unvorstellbar, dass Clemens seine Meinung so schnell geändert haben sollte, dass er sich mit ihr aussöhnen würde. Aber vielleicht wartete er sogar auf eine solche Gelegenheit? Vielleicht bereute er bereits, dass er eine so harte Entscheidung getroffen hatte?
An diese Hoffnung klammerte sich Gesa verzweifelt. Den ganzen Tag war sie mit ihren beiden Jungen beisammen. Andreas blühte zusehends auf und aß brav seinen Haferschleim. Oliver aber ging zu Magda und bat sie, einen Brei zuzubereiten. »Damit es Andreas besser schmeckt«, erklärte er der gutmütigen Sophienluster Köchin.
»Dabei magst du doch überhaupt keinen Haferschleim. Du musst Andreas sehr lieb haben, Oliver.«
»Das habe ich auch, Magda. Und bald fahren wir heim. Vielleicht darf Andreas mit zu uns nach München kommen. Wir haben doch ein großes Haus und einen schönen Garten.«
»Das wäre fein. Dann würde Andreas wieder glücklich werden.« Magda lächelte den Knirps an. »So, dein Haferschleim ist gleich fertig. Lauf’ nur schon hinauf. Ulla wird den Brei in Andreas’ Zimmer bringen.«
Als Gesa an diesem Abend ihren beiden Jungen einen Gutenachtkuss gab, betete sie im Stillen, dass sich alles zum Guten wenden möge.
*
Clemens war völlig durcheinander. Dass Gesa Olivers Aufenthaltsort herausgefunden hatte, warf seine Pläne völlig über den Haufen. Er hatte vorgehabt, mit Gesa nur noch bei Gericht zusammenzukommen. Die Scheidung hatte er schon eingereicht. Jetzt aber war er gezwungen, Gesa schon früher gegenüberzutreten.
Am meisten machte er sich aber um Oliver Sorgen. Nun würde es noch viel schwerer sein, dem Jungen plausibel zu machen, dass seine Mutter nie mehr zu ihnen zurückkommen würde, dass sich seine Eltern scheiden lassen wollten.
Am nächsten Vormittag telefonierte Clemens mit seinem Werk, um seiner neuen Sekretärin einige Direktiven zu geben. Dann sagte er Marianne, dass er zu Oliver fahren wolle. »Ich bringe den Jungen vermutlich mit. Nicht wahr, Sie haben es sich wieder anders überlegt und bleiben hier? Oliver wird Sie