in den Park gegangen, hatte er nach ihnen gesucht. Beim Springbrunnen hatte er sie entdeckt. Er hatte sich wie ein Indianer von hinten an die Bank herangeschlichen und sich zwischen dem Gebüsch versteckt. Mit immer größer werdenden Augen hatte er gelauscht. Er hatte zwar nur einen Teil des Gesprächs verstanden, aber doch so viel, dass er begriffen hatte, dass Mutti und Vati sich trennen wollten, dass er mit seinem Vati ohne Mutti und Andreas nach München fahren sollte.
Aber Oliver wollte hierbleiben. Er wollte sich nicht von Mutti und Andreas trennen. Deshalb wollte er sich verstecken. Würde man ihn nicht finden, würde Vati bestimmt ohne ihn nach München zurückfahren, weil man ihn doch in seinem Werk brauchte, folgerte der Junge und rannte noch schneller.
Clemens sah Olivers weißblonden Haarschopf gerade noch, bevor er zwischen den Bäumen verschwand. Er folgte seinem Sohn und rief: »Oliver! Komm zurück!« Es war für ihn nicht schwer, die Zusammenhänge zu erfassen. Oliver musste einen Teil seines Gesprächs mit Gesa belauscht haben und war nun tiefunglücklich.
Clemens suchte nach Oliver, aber er fand ihn nicht. Dafür lief ihm Andreas in die Arme. »Wo ist Oliver?«, fragte er nach der Begrüßung.
»Ich weiß es nicht. Er scheint fortgelaufen zu sein.«
Es fiel Clemens schwer, seinen Blick von dem Jungen abzuwenden. Nun sah er ihn mit ganz anderen Augen. Er stellte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Gesa fest, die ihm bisher noch nicht aufgefallen war. Doch dann dachte er wieder an Oliver.
»Bestimmt hat er den Park durch die Hinterpforte verlassen«, mutmaßte Andreas und stob schon wie ein Wirbelwind davon.
Clemens wollte in Sophienlust keinen Staub aufwirbeln. Er war überzeugt, dass er Oliver ohne Hilfe finden würde. Er stieg in sein Auto, um um den Park herumzufahren.
Andreas hatte inzwischen den Park durch die Hinterpforte verlassen. Er lief aufs Geratewohl in den an den Park anschließenden Wald hinein. »Oliver!«, rief er. »Oliver! Ich bin es! Andreas!«
Oliver hörte zwar die Stimme seines Freundes, aber er blieb nicht stehen. In panischer Angst rannte er weiter und weiter. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Andreas würde ihn bestimmt verraten, dachte er.
»Oliver! Oliver!« Andreas blieb außer Atem stehen, als er sich der fast unheimlichen Stille ringsum bewusst wurde.
Clemens fuhr währenddessen langsam den Waldweg entlang. Als er Andreas’ Stimme hörte, blieb er stehen und stieg aus. Er eilte in die Richtung, aus der er Andreas’ Ruf gehört hatte.
Andreas war um fast drei Jahre älter als Oliver und konnte demnach auch schneller laufen. Kurz vor dem Waldsee erblickte er den Freund. »Oliver, bleib’ stehen!«, schrie er. »Bitte, bleib’ stehen!«
Andreas wusste, dass an dieser Stelle die Böschung zum See steil abfiel und der See hier sehr tief war. »Oliver! Oliver!«, schrie er wieder, als der Junge plötzlich seinen Blicken entschwunden war. Entsetzt sah er dann, dass Oliver ins Wasser gestürzt war und verzweifelt um sich schlug.
Ohne zu überlegen, sprang Andreas seinem Freund nach. Zwar konnte er schon schwimmen, aber er hatte keine Ahnung, wie er sich in einem solchen Fall benehmen musste. Als er Oliver im letzten Augenblick beim Haarschopf erwischte, klammerte sich der Kleine in seiner Todesangst so fest an ihn, dass er keine Luft mehr bekam. »Oliver, nicht!«, schrie Andreas. Dabei schluckte er Wasser. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.
Clemens hatte die Rufe gehört. Er kam in letzter Sekunde. Er riss sich das Jackett und die Schuhe vom Leib und sprang ins Wasser.
Andreas kam schnell wieder zu Kräften, als Oliver ihm abgenommen wurde. »Kannst du noch schwimmen?«, fragte Clemens.
»Aber ja. Nicht wahr, Oliver, ist nicht tot?«
»Nein, Andreas. Aber du hast ihm das Leben gerettet.« Clemens stieg mit Oliver auf dem Arm die Böschung hinauf.
Der Kleine erholte sich schnell von seinem Schock. Nachdem er sich übergeben hatte, begann er zu weinen. »Ich will bei meiner Mutti bleiben«, schluchzte er. »Du sollst auch bei uns bleiben. Und Andreas auch.«
Andreas zitterte vor Aufregung.
»Zieh die Sachen aus«, bat Clemens ihn und entkleidete zugleich Oliver. »Die Sonne scheint schön warm. Die Unterhöschen werden bald trocken sein.«
Andreas nickte. Oliver klagte und weinte noch immer. Clemens beruhigte ihn, so gut er konnte, und versicherte dann: »Du sollst bei deiner Mutti bleiben.«
Oliver hörte zu weinen auf. »Darf Andreas auch bei uns bleiben?«, fragte er. Die Nachgiebigkeit seines Vaters wollte er sofort ausnutzen.
Clemens nickte nur. »Kommt«, sagte er dann heiser. »Wir müssen auf dem schnellsten Weg zurück nach Sophienlust.«
Im Dauerlauf liefen sie durch den Wald. Im Wagen lag eine Decke. Clemens wickelte die beiden Jungen darin ein. Auch seine Sachen waren tropfnass. Im Kofferraum fand er eine Badehose, alte Jeans und einen Pulli. Er zog sich rasch um.
Olivers kleine Welt war wieder heil. Er kicherte und sagte: »Du siehst aber lustig aus, Vati.«
Andreas jedoch erklärte: »Mein Vati hat oft solche Sachen getragen, wenn wir einen Ausflug gemacht haben. Wir sind oft zusammen durch den Wald geradelt. Ich …«
Clemens fuhr dem Kind fast burschikos durchs Haar. »Andreas, eines Tages wirst du auch wieder glücklich sein. Ist es nicht schön, dass du nun für immer mit Oliver beisammenbleiben darfst?«
Andreas lächelte ihn unter Tränen an. »Ja, ich bin sehr glücklich, Herr Wendt.«
»Nenn’ mich ruhig Onkel Clemens«, schlug Clemens vor.
Dankbar leuchtete es in den Kinderaugen auf.
Oliver aber war so glücklich, dass er keinen Augenblick stillsitzen konnte. »Nun wirst du endlich mein Bruder«, stellte er fest. »Nicht wahr, Vati, wir dürfen ein zweites Bett in mein Zimmer daheim stellen?«
»Das könnt ihr alles mit Mutti besprechen.« Clemens hörte nur mit halbem Ohr zu. Er war nicht mehr so sicher, dass Gesa ihm jetzt noch verzeihen würde. Er rief sich jedes seiner unbeherrschten harten Worte, die er eben zu ihr gesagt hatte, ins Gedächtnis zurück. Dabei wurde ihm immer unbehaglicher zumute.
*
In Sophienlust hatte niemand etwas von Olivers Flucht bemerkt. Nachträglich erschraken jedoch alle, als Oliver und Andreas davon erzählten. Clemens fügte noch hinzu, dass Andreas Oliver durch sein tapferes Eingreifen gerettet habe.
Trotzdem wusste Gesa, dass sie es nur Clemens zu verdanken hatte, dass ihre beiden Söhne ihr erhalten geblieben waren. Ohne seine Hilfe wären beide sicherlich ertrunken.
»Mutti, stell’ dir vor, Vati hat erlaubt, dass Andreas zu uns nach München kommt. Er darf ihn auch Onkel Clemens nennen. Nicht wahr, du bist dann für ihn Tante Gesa? Vielleicht könnte er aber auch zu dir Mutti sagen«, meinte Oliver nachdenklich.
»Später vielleicht, mein Junge«, erwiderte sie ausweichend.
Schwester Regine kam und nahm sich der beiden Jungen an, die umgekleidet werden mussten. Das Hausmädchen Ulla versprach Clemens, dass er seine Hose und sein Hemd in ungefähr zwei Stunden gewaschen und gebügelt zurückbekommen würde.
Während Oliver und Andreas von den anderen Kindern umringt und mit Fragen über ihr Erlebnis am Waldsee bestürmt wurden, hielt es Gesa nicht mehr im Haus aus. Sie musste für ein Weilchen allein sein, um mit dem Chaos ihrer Gefühle fertig zu werden. Als sie die Laube erblickte, trat sie ein, setzte sich auf die Holzbank und lehnte den Kopf an die Wand. Das Jubilieren der Vögel erreichte kaum ihr Bewusstsein. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie tupfte sie immer wieder mit dem Taschentuch ab. Als sie Schritte hörte, hob sie lauschend den Kopf. Und dann sah sie Clemens. Zögernd näherte er sich der Laube. Dabei sah er sich suchend um. Dann ging es wie ein Aufatmen durch seinen Körper.
»Ich habe dich überall gesucht«, sagte er und betrat die Laube.
»Du … hast mich gesucht?«