Vielleicht kommen die Flecken ja noch. Los, wir müssen Papi anrufen und ihm den Namen dieser Krankheit sagen. Wenn die Ärzte einen Anhaltspunkt haben, finden sie bestimmt schneller raus, was Mami fehlt.«
»Deine Schwester hat recht«, stellte Lenni fest. Sie schaltete den Fernseher aus und stand ebenfalls auf, um Dési zu folgen.
Auch Janni erhob sich und wollte schon das Wohnzimmer verlassen, als sein Blick auf die Fernbedienung fiel. Schnell steckte er sie in die Hosentasche.
»Vorsorglich«, murmelte er, ehe er schnell Désis aufgeregter Stimme folgte, die bereits mit Daniel telefonierte und ihm von der bemerkenswerten Entdeckung erzählte.
*
Als die Ärzte zu Sebastian Hühn ins Zimmer gekommen waren, hatte Ricarda die Gunst der Stunde genutzt und sich einen Kaffee in der Caféteria der Klinik gekauft. Essen konnte sie nichts. Aber das heiße Getränk weckte ihre Lebensgeister, sodass sie eine halbe Stunde später sichtlich gestärkt zu ihrem Freund zurückkehrte.
»Hey, da bin ich wieder«, begrüßte sie ihn munter und wollte wieder zu ihm ins Bett schlüpfen.
Zu ihrem großen Erstaunen starrte Sebastian demonstrativ aus dem Fenster. Er würdigte sie keines Blickes. Nicht das kleinste Lächeln spielte um seine schön geschwungenen Lippen, die so fantastisch küssen konnten.
»Nicht jetzt!«, wehrte er ab, als sie trotzdem Anstalten machte, sich zu ihm zu kuscheln.
Erschrocken zuckte Ricarda zurück.
»Was ist passiert?« Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Ich werde morgen früh operiert«, erklärte er mit Grabesstimme.
»Aber das wissen wir doch schon.« Erleichtert sank Ricarda auf die Bettkante und griff nach Sebastians Hand. »Hey, falls du Angst vor der Narkose haben solltest … das ist wirklich nicht schlimm. Ich weiß noch gut, wie es mir gegangen ist. Ich bin fast gestorben, als sie bei mir letztes Jahr eine Bauchspiegelung machen mussten. Dafür hab ich auch eine Narkose gebraucht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich gezittert hab. Aber dann war auf einmal alles ganz …«
In diesem Moment hielt Sebastian es nicht mehr aus.
»Kannst du bitte endlich mal still sein!«, fuhr er seine Freundin so schroff an, dass ihr augenblicklich das Wort im Hals stecken blieb.
Ricarda war so erschrocken, dass sie von der Bettkante rutschte und mit hängenden Armen vor Sebastians Bett stehen blieb. Wie sie so vor ihm stand, wie ein tieftrauriges kleines Mädchen, tat ihm seine heftige Reaktion schon wieder leid. Denn eigentlich war ihr munteres Plaudern, ihre offensichtliche Lebendigkeit ein Teil dessen, was ihn so sehr an ihr faszinierte. »Es tut mir leid, Ricky«, rang er sich zu einer Entschuldigung durch. Bevor sie sich aber freuen konnte, fuhr er schweren Herzens fort. »Ich habe keine Angst vor der Narkose. Ganz im Gegenteil. Ich habe Angst davor, wieder aufzuwachen und festzustellen, dass ich gelähmt bin.« Jetzt war die Wahrheit heraus, und am liebsten hätte er geweint. Er wagte es nicht, sie anzusehen. Statt dessen starrte er blicklos auf seine Hände, die auf der Bettdecke lagen.
Ricarda biss sich auf die Unterlippe.
»Du hast mir nicht alles gesagt, nicht wahr?«, fragte sie fast schüchtern.
Sebastian räusperte sich umständlich.
»Ich habe es vorhin erst erfahren. Frau Dr. Behnisch meint, dass ich vielleicht gelähmt bleibe.«
»Du hast nichts gespürt, keine Schmerzen … Da dachte ich gleich an so was.« Wie zur Bestätigung nickte die Krankenschwester. »Aber ich wollte dir keine Angst machen.«
Zu ihrer großen Überraschung fuhr Sebastian herum und funkelte sie wütend an.
»Ach, du also auch? Wissen eigentlich alle um mich herum Bescheid, nur ich bin der ahnungslose Volltrottel?«, fragte er bitter. »Dann sag mir nur noch, dass es dir egal ist, dass du mich im Rollstuhl durch die Gegend schieben musst.«
Ricarda zögerte kurz. Schließlich fasste sie sich ein Herz und trat wieder dicht an Sebastians Bett. Sie griff nach seiner Hand und nahm sie zwischen die ihren.
»Aber ich liebe dich doch, Basti«, versicherte sie leise. »Ich bin so froh, dass ich dich wiedergefunden habe. Alles andere ist egal. Das Wichtigste ist doch, dass du lebst.«
Ihre Worten rührten ihn fast zu Tränen. Und doch konnte er nicht über seinen Schatten springen. Der Gedanke daran, vielleicht für den Rest seines Lebens an einen Rollstuhl gefesselt zu sein, war mehr, als er ertragen konnte. Sicher, als Geschäftsführer konnte er den Betrieb auch vom Schreibtisch aus leiten. Aber was war mit seinem Hobby, dem Geocaching? Was mit all den anderen Dingen, die das Leben seiner Ansicht nach erst lebenswert machten?
»Ich liebe dich auch«, erwiderte Sebastian heiser. »Aber wenn ich behindert bleibe, will ich dich nicht an mich binden. Was hätten wir davon? Wir könnten nichts mehr zusammen tun. Noch nicht mal mehr … Liebe machen.« Er presste die Lippen aufeinander und wagte es nicht, ihr ins Gesicht zu sehen. »Du bist noch so jung und hast was anderes verdient. Einen ganzen Mann! Deshalb will ich, dass du jetzt gehst.«
Ricarda hatte genug Berufserfahrung, um um die Verzweiflung Schwerverletzter zu wissen. Und sie tat das, was ihrer Erfahrung nach das einzig Richtige war.
»Vielleicht bin ich jung. Aber ich bin alt genug um zu wissen, was mir an einer Beziehung wichtig ist. Mal abgesehen davon, dass du ja noch gar nicht weißt, wie sehr du eingeschränkt sein wirst. Es gibt Rollstuhlfahrer, die sehr wohl noch in der Lage sind, eine Frau glücklich zu machen. Wie dem auch sei, lasse ich dich so oder so nicht im Stich. Weil du mir als Mensch wichtig bist. Deshalb bleib ich bei dir. So nah, dass du mich spüren kannst.« Während sie sprach, machte sie Anstalten, wieder ins Bett zu klettern.
Aber das war mehr, als Sebastian im Augenblick ertragen konnte.
»Hau ab!«, schrie er aus Leibeskräften. »Warum kapierst du nicht, dass du mich einfach in Ruhe lassen sollst?« Vor Wut vergaß er sogar, dass er verletzt war und wendete sich abrupt ab. Dabei verdrehte er das Bein, sodass er vor Schmerzen aufschrie.
Ricarda wusste sofort, dass etwas Schreckliches passiert war.
»Basti! Um Gottes willen!« Sie zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann rannte sie los, um Hilfe zu holen.
*
Nach dem Besuch bei dem Dachdecker hatte sich Jenny Behnisch unter einem fadenscheinigen Vorwand wieder in ihr Büro zurückgezogen. Aus gutem Grund übte der Computer an diesem Tag eine fast magische Anziehungskraft auf sie aus.
»Ach, da sind Sie ja«, begrüßte Andrea Sander ihre Chefin, als sie grußlos durch das Vorzimmer in ihr Büro stürmen wollte.
Jenny wusste, was dieser Tonfall bedeutete. Sie kehrte an den Schreibtisch ihrer Assistentin zurück und machte keinen Hehl aus ihrem Missfallen.
»Was gibt es? Welche neue Katastrophe haben Sie denn für mich?« Sie wusste, dass Andrea alles von ihr fernhielt, was möglich war.
Unwillkürlich musste Andrea Sander schmunzeln.
»Das kommt darauf an. Wenn ein Kinobesuch mit Ihrem Lebensgefährten einer Katastrophe gleichkommt …« Das Ende des Satzes schwebte im Raum, und Jenny fiel siedend heiß das Versprechen ein, das sie ihrem Lebensgefährten, dem Architekten Roman Kürschner, am Morgen gegeben hatte. Schon seit Wochen bat er sie um ein paar ungestörte Stunden, doch immer war in letzter Minute etwas dazwischen gekommen. Zuletzt hatte der Orkan dafür gesorgt, dass nur der Gedanke an einen freien Abend wie ein Traum erschien. Doch Roman hatte nicht aufgegeben und seine Lebensgefährtin erneut um einen romantischen Abend zu zweit gebeten.
»War das wirklich heute?«, fragte Jenny ihre Assistentin fast verzweifelt und dachte an die Arbeit, die auf sie wartete.
»Roman hat Karten für die 20-Uhr-Vorstellug reserviert«, nickte Andrea Sander zu Jennys Leidwesen. »Ich soll Sie daran erinnern, dass er gegen sieben Uhr hier ist, damit Sie vorher zum Essen gehen können.«
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