Mittagspause hatte die Praxis verlassen, und es blieb Zeit für ein kurzes Gespräch zwischen Tür und Angel.
»Ah, gut, du hast Frau Unterholzners Besuch also überlebt«, bemerkte Daniel schmunzelnd in Richtung seines Sohnes.
»Mit knapper Not«, grinste Danny. »Wie war es mit Frau May?«
»Ich kann mich nicht beklagen. Zu mir ist sie eigentlich immer sehr nett. Ich wusste gar nicht, dass sie die Krallen derart ausfahren kann.«
»Vielleicht ist sie nur in Kombination mit der schönen Else so eine Giftspritze«, mutmaßte Danny und griff in das Glas mit den zuckerfreien Fruchtbonbons. Nachdenklich wickelte er eines aus und steckte es in den Mund. »Was fehlt Frau May eigentlich?«
»Sie leidet an einem Hallux val …«
»…gus … einem Überbein«, fiel Danny seinem Vater ins Wort.
Daniel lächelte zufrieden. »Bei dieser Verformung wandert der erste Mittelfußknochen nach außen und verbreitert den Fuß. Dies geschieht meist wegen zu enger, zu hoher Schuhe und ist daher vor allen Dingen ein Frauenproblem«, zitierte er wie aus dem Lehrbuch.
»Sieh mal einer an. Mein Sohn ist ein wandelndes Medizin-Lexikon. Besser hätte ich es auch nicht beschreiben können«, schmunzelte Dr. Norden zufrieden. »Frau May leidet schon seit einer ganzen Weile unter dieser Deformation. Bevor die Schmerzen unerträglich werden, habe ich ihr zu einer Operation geraten. Sie macht sich gleich am Montagmorgen auf den Weg in die Klinik.«
Vor Schreck schnappte Danny nach Luft. Dabei verschluckte er das Bonbon und begann furchtbar zu husten. Daniel klopfte ihm den Rücken, und Janine sprang auf und stürzte in die Küche, um ihm ein Glas Wasser zu holen. Er dankte ihr krächzend, während ihm Tränen übers Gesicht liefen.
»Ach, du liebe Zeit!«, stöhnte er, nachdem er sich endlich erholt hatte. »Dann können wir nur für Jenny und Konsorten hoffen, dass die beiden sich dort nicht über den Weg laufen.«
»Frau Unterholzner muss auch operiert werden?« Angesichts dieser Neuigkeit runzelte auch Daniel Norden die Stirn. »Bleibt zu hoffen, dass sie auf verschiedenen Stationen behandelt werden.«
Bedauernd schüttelte Danny den Kopf.
»Wenn meine Diagnose stimmt, dann leidet die schöne Else unter einem komplexen Meniskusriss, also einem Fall für die Orthopädie. Und ich kann nur hoffen, dass die Kollegen derselben Meinung sind.« Er sah sein Glas nachdenklich an, ehe er es in einem einzigen, großen Zug leerte.
Es war Wendy, die Daniels fragenden Blick bemerkte.
»Wegen Dannys fehlender Promotion zweifelt Frau Unterholzner an seiner Kompetenz«, klärte sie ihren Senior-Chef auf.
Die Falten auf Dr. Nordens Stirn wurden noch tiefer.
»Dieses Problem ist ja leider nichts Neues. Allerdings werden wir es auch nicht hier und heute lösen«, seufzte er und sah auf die Uhr. »Ich habe deiner Mutter versprochen, in der Mittagspause wieder vorbei zu kommen. Wenn ich mich nicht langsam beeile, kann ich auch gleich noch Kaffee fürs Nachmittagskränzchen mitbringen.«
»Oh, wenn Sie in die Klinik fahren, könnten Sie gleich diese Briefe mitnehmen«, bat Janine und griff nach den Kuverts, die zwischen Zettelbox und Stifthalter auf ihrem Schreibtisch lehnten und auf den Versand warteten. »Sie sind für die Buchhaltung der Klinik. Dann spar ich mir den Weg zum Briefkasten.« Sie legte den Kopf ein bisschen schief und blinzelte Daniel süß lächelnd an. »Dafür bekommen Sie auch eine Praline von mir.« Sie öffnete Wendys Schachtel und hielt sie Dr. Norden demonstrativ unter die Nase.
Der konnte dem verführerischen Duft nicht widerstehen und steckte eine davon in den Mund.
»Welcher Mann versucht eigentlich schon wieder, Sie am Arbeitsplatz zu verführen?«, fragte er, und Janine lachte belustigt auf.
»Das sollten Sie lieber mal Wendy fragen.«
»Ich hab schon mal gesagt …«, setzte die mit rot glühenden Wangen zu einer Verteidigungsrede an, als Danny plötzlich die Faust mit einem leisen Ruf in die Luft reckte.
»Ich hab’s!«
Alle Anwesenden zuckten erschrocken zusammen und starrten den Juniorchef fragend an.
Daniel Norden erholte sich zuerst von seinem Schreck.
»Was hast du?«, fragte er neugierig.
Mit glänzenden Augen drehte sich Danny zu ihm um.
»Das Thema für meine Promotion«, verkündete er so stolz, als hätte er soeben das Ei des Kolumbus gefunden. »Ich werde über das Stevens-Johnson-Syndrom schreiben. Angesichts der wenigen Forschungsergebnisse wird es höchste Zeit, dass sich mal jemand intensiver damit beschäftigt. Und möglicherweise Menschenleben rettet.«
»Wenn du das vorhast, solltest du damit anfangen, deine Kollegen nicht zu Tode zu erschrecken!«, erinnerte Wendy ihren jungen Chef mit leisem Tadel an ihr immer noch aufgeregt klopfendes Herz.
Daniel hingegen klopfte seinem Sohn anerkennend auf die Schulter.
»Das ist eine ausgezeichnete Idee! Deine Mutter wird stolz auf dich sein.« Dann wurde es wirklich Zeit für ihn. Mit einem Nicken verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern und machte sich endgültig auf den Weg in die Klinik, bevor die Patienten der Nachmittagssprechstunde nach ihm verlangten.
*
»Ach, Danny, bist du in Eile?«, fragte Wendy, nachdem sich Dr. Norden auf den Weg in die Klinik gemacht hatte.
Danny, der eben in sein Sprechzimmer zurückkehren wollte, kam noch einmal an den Tresen zurück.
»Nein, eigentlich nicht. Tatjana hat heute Mittag eh keine Zeit für mich. Sie muss irgendein Rezept ausprobieren, für das sie absolute Ruhe braucht.«
»Das trifft sich hervorragend«, stellte Wendy zufrieden fest und nahm den Hörer in die Hand. »Vor einer halben Stunde hat eine gewisse Frau Körber angerufen und um einen kurzfristigen Termin gebeten. Ich wollte ihr nichts versprechen, bevor ich mich nicht mit dir abgestimmt habe.«
»Zuviel der Ehre!«, grinste Danny gut gelaunt. »Wann kann sie hier sein?«
»Sie hat gesagt, dass sie in zehn Minuten hier sein kann«, erklärte die langjährige Assistentin noch, als sich Marion Körber am anderen Ende der Leitung meldete.
Tatsächlich hatte sich Danny kaum in die schwierige Akte eines Patienten vertieft, als es schon klopfte und Wendy eine fremde Frau hereinbrachte.
»Bitte nehmen Sie Platz, Frau Körber«, bat er sie, nachdem sich die Tür geschlossen und er sie freundlich begrüßt hatte.
Marion Körber kam seiner Aufforderung nach. Dabei musterte sie ihn neugierig.
»Sind Sie Daniel Norden?«, fragte sie, und Danny meinte, einen Hauch von Enttäuschung in ihrem Gesicht zu bemerken.
»Ich bin Daniel Norden junior. Mein Vater Dr. Daniel Norden senior leitet die Praxis«, erklärte er bereitwillig und hoffte darauf, dass die Patientin nicht seinen fehlenden Doktortitel bemängeln würde.
»Ach, so ist das!« Ein erleichtertes Lächeln huschte über Marions Gesicht, und sie entspannte sich ganz offensichtlich. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Inzwischen war Danny auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch zurückgekehrt und musterte die aparte Dame aufmerksam. Diese Art der Gesprächseröffnung war reichlich ungewöhnlich.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Körber?«
»Ich habe einen Knoten in der Brust entdeckt«, erwiderte Marion ohne Umschweife.
Danny runzelte die Stirn und griff zu Block und Stift, um sich Notizen zu machen. Dabei versuchte er, nicht zu besorgt zu wirken.
»Wann genau war das?«
»Vor ein paar Tagen beim Duschen.«
»Darf ich mir das einmal ansehen?«, fragte er und bat die Patientin