Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke


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ler­nen müs­se. Nach ei­ni­gem Hin- und Her­re­den ver­schwand Eu­ge­nie. Es ver­ging etwa eine Vier­tel­stun­de, dann kam sie zu­rück und schlüpf­te in Aga­thes Kam­mer.

      »Aga­the«, flüs­ter­te sie wei­nend, »wir ha­ben Els­beths Lei­che ge­se­hen. Ich muss­te – ich wäre sonst ge­wiss auch krank ge­wor­den.«

      »Wie kann man denn?« frag­te Aga­the, sich auf­rich­tend.

      »Die Kran­ken­stu­be hat doch ein Fens­ter nach dem Flur – das steht of­fen, hin­ter dem Vor­hang. Es brennt Licht drin. Sie war so schön – aber grau­sig! Ach, Aga­the, so jung zu ster­ben, ist schreck­lich!«

      Die ent­zwei­ten Freun­din­nen fie­len sich in die Arme und wein­ten zu­sam­men, dann zog Aga­the ihre St­rümp­fe an und warf ihre Rö­cke und ih­ren Re­gen­man­tel über.

      »Ich will auch hin!«

      »Ja – ein Stuhl steht in ei­ner Ecke vom Flur. Du musst dar­auf stei­gen. War­te erst noch, da­mit die Miss nichts merkt.«

      In Furcht und Grau­en schlich Aga­the durch die dunklen Kor­ri­do­re des großen Hau­ses, eine Trep­pe hin­ab, eine an­de­re hin­auf, bis sie an das ab­ge­le­ge­ne Zim­mer des Sei­ten­flü­gels kam, wo der Sarg mit der jun­gen Els­beth stand.

      Ein küh­ler Wind strich durch das Fens­ter und be­weg­te ihr Haar, als sie den Vor­hang hob, ein merk­wür­dig schau­er­li­cher Duft weh­te ihr ent­ge­gen, die Lam­pe, die auf ei­nem Tisch zur Sei­te brann­te, warf einen kla­ren Schein ge­ra­de auf das Ge­sicht der To­ten und auf die wäch­ser­nen Hän­de, die über der Brust ge­fal­tet la­gen.

      Als Aga­the das ru­hi­ge, wei­ße Ant­litz mit den ge­schlos­se­nen Au­gen un­ter dem Schmuck des grü­nen Myr­then­kran­zes er­blick­te, wich ihre krank­haf­te Er­re­gung und es wur­de sehr still in ihr. Sie senk­te den klei­nen Vor­hang und stieg mit schö­nen fei­er­li­chen Ge­füh­len wie­der hin­ab. Sie fal­te­te die Hän­de und lehn­te sich ge­gen die Mau­er.

      »Lie­ber Gott, lass mich auch ster­ben«, be­te­te sie. Das Le­ben, auf das sie sich so freu­te, schi­en ihr wert­los im Ver­gleich zu die­ser Ruhe. An Au­fer­ste­hung dach­te sie nicht. Sie wäre gern in dem Au­gen­blick ver­gan­gen – im Nichts ver­schmol­zen, doch ohne sich dar­über klar zu wer­den. – – Die Trau­rig­keit und To­des­sehn­sucht hielt lan­ge bei ihr an. Auch als Eu­ge­nie sich ihr wie­der nä­her­te, mach­te sie das nicht mehr glück­lich.

      IV.

      Som­mer­fe­ri­en auf dem Lan­de … Schwebt nicht ein Duft von Ro­sen und Erd­bee­ren vor­über? Schäu­men­de Milch, frisch aus dem Kuh­stall! – Kör­be voll schwar­zer und gelb-rot glän­zen­der Kir­schen! – Ku­chen, halb so groß wie der Tisch, mit ei­ner di­cken But­ter- und Zucker­krus­te – Ho­nig­schei­ben, die vor neu­gie­ri­gen Au­gen dem Bie­nen­stock ent­nom­men wer­den … Und Son­ne – Son­ne – Son­ne!!

      Fahr­ten durch die Fel­der, de­nen der kräf­ti­ge Ge­ruch des rei­fen­den Kor­nes ent­strömt, durch Wäl­der, wo klei­ne brau­ne Rehe ei­lig und furcht­sam hin­ter fer­nen Baum­stäm­men her­vo­r­äu­gen. Auf of­fe­nem Pony­wä­gel­chen Vet­tern und Cou­si­nen zu­sam­men­ge­rüt­telt und ge­schüt­telt und über­strömt von des Him­mels un­ver­hofft nie­der­rau­schen­dem Ge­wit­ter­re­gen. Trie­fen­de Haar­schöp­fe und ver­dor­be­ne Som­mer­hü­te und se­li­ge, fröh­li­che, glü­hen­de, jun­ge Ge­sich­ter!

      Und lie­bes, heim­li­ches Bei­ein­an­der­ho­cken auf klei­nen Eck­so­fas im Schat­ten al­ter­tüm­lich ge­schnitz­ter Schrän­ke, so brü­der­lich und schwes­ter­lich – und doch nicht ganz Bru­der und Schwes­ter …

      Das fa­na­ti­sche Kro­kett­spie­len auf dem großen Platz vor dem Hau­se – oft noch eine Re­van­che-Par­tie im Stock­fins­tern, bei der man­gel­haf­ten Be­leuch­tung ei­ner Stall­la­ter­ne, die von den ga­lan­ten Vet­tern von Rei­fen zu Rei­fen ge­tra­gen wird.

      Das Tan­zen zu der Beglei­tung ei­ner ge­pfif­fe­nen Pol­ka durch den wei­ten, lee­ren Fest­saal mit den Fa­mi­li­en­bil­dern aus der Em­pi­re- und Bie­der­manns­zeit. – On­kels und Tan­ten als wun­der­lich ge­putz­te Kin­der, wel­che Ka­nin­chen und wei­ße Tau­ben in den Hän­den hal­ten und von den Wän­den her­ab dem Tol­len ei­ner neu­en Ju­gend fei­er­lich lä­chelnd zu­schau­en.

      Und vor al­lem die große Mit­tags­ta­fel, bei der zu­letzt von On­kel Au­gust ein Ge­setz er­las­sen wer­den muss­te: »Hier wird ge­ges­sen, nicht ge­lacht.«

      Aber dann hät­te man den Vet­tern und Cou­si­nen auch ver­bie­ten müs­sen, zu spre­chen, zu bli­cken, sich zu be­we­gen. Was war denn nur fort­wäh­rend so un­säg­lich ko­misch?

      Aga­thes und Mar­tins ge­mein­sa­mes Schwär­men? und die nüch­ter­nen Be­mer­kun­gen, wel­che Cou­si­ne Mimi da­zwi­schen warf? Die zier­li­chen Re­de­wen­dun­gen der Ka­det­ten, der Söh­ne von On­kel Au­gust Bär, oder die un­na­tür­lich tie­fe, pa­the­ti­sche Stim­me, in der Aga­thes Bru­der sich seit kur­z­em ge­fiel?

      Man muss­te eben la­chen über al­les und über gar nichts – den gan­zen Tag la­chen, bis man fast vom Stuh­le fiel, bis die Mäd­chen mit trä­nen­über­ström­ten Wan­gen und den selt­sams­ten Lach­seuf­zern ge­gen­ein­an­der tau­mel­ten und die großen Jun­gen vor Ver­gnü­gen brüll­ten, sich auf die Schen­kel schlu­gen und wie vom Veits­tanz er­grif­fen in der Stu­be her­um­spran­gen.

      Das zweck- und ziel­lo­se He­rumja­gen in dem schö­nen Park, das licht­trun­ke­ne Träu­men im Baum­schat­ten zur Zeit der hei­ßen Mit­tags­stun­den – die wei­sen Ge­sprä­che, das ernst­haf­te und eif­ri­ge Strei­ten über alle Welt­fra­gen, von de­nen man nichts ver­stand! Aber war das tö­richt! Ach, war das al­les ge­sund und gut und schön! Ju­gend, Le­ben, Kraft- und Froh­sinns-Üb­er­fül­le.

      Aga­the schrieb ein­mal einen lan­gen Brief an Eu­ge­nie, in dem sie eine glü­hen­de Schil­de­rung von den köst­li­chen Fe­ri­en in Bor­nau bei On­kel Au­gust Bär ent­warf. Mar­tins Name kam fast in je­dem Sat­ze vor, aber doch nur in den harm­lo­ses­ten Be­zie­hun­gen.

      Dass der un­aus­steh­li­che, ko­mi­sche Jun­ge Aga­the ein Strähn­chen grü­ner Wol­le, das sie not­wen­dig zu ih­rer Sti­cke­rei brauch­te, ge­stoh­len hat­te, schrieb sie nicht. Auch schwieg sie von der furcht­ba­ren Auf­re­gung, in die er Aga­th­chen ver­setz­te, wenn er in Ge­gen­wart der ehr­wür­digs­ten Tan­ten, der mo­quan­tes­ten On­kels, von Mama und Groß­ma­ma das Wol­len­strähn­chen mit fre­cher Ge­las­sen­heit aus der Brust­ta­sche sei­ner grau­en Som­mer­ja­cke her­vor­zog, es um sei­ne Fin­ger wi­ckel­te, es ver­rä­te­risch hin- und her­schlen­ker­te, und Aga­thes Ver­le­gen­heit und Zorn aufs Höchs­te stei­ger­te, in­dem er das An­den­ken – al­ler­dings mit ent­spre­chen­den Vor­sichts­maß­re­geln, er ging näm­lich dazu in die Fens­ter­ni­sche – an sein Herz und sei­ne Lip­pen drück­te. Und nie­mals hät­te sie sich ent­schlie­ßen kön­nen, Eu­ge­nie zu er­zäh­len, dass der küh­ne Bur­sche ein­mal, als sie bei­de al­lein im Zim­mer wa­ren, ne­ben dem Stuhl, auf dem sie saß, nie­der­knie­te und sag­te, er wol­le hier lie­gen blei­ben, bis sie ihm einen Kuss ge­ben wür­de, und es küm­me­re ihn gar nicht, wenn je­mand her­ein­käme und es sähe – wenn sie sich so lan­ge zie­ren woll­te, wäre es eben ihre Schuld!

      Aga­the hat­te ihn dar­auf