Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke


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Knie setz­te. Sie woll­te auch im­mer streng und ab­wei­send blei­ben – bis – ja bis Er kom­men wür­de, der Herr­lichs­te von al­len! Vi­sio­nen wei­ßer Schlei­er­wol­ken und bren­nen­der Altar­ker­zen schweb­ten durch ihre Fan­ta­sie.

      Oder tot – still – im schwar­zen Sar­ge mit der Myr­then­kro­ne über der rei­nen Stirn – ach wie trau­rig – o wie schön! Aga­the lie­fen bei dem Ge­dan­ken gleich die stets be­rei­ten Trä­nen aus den Au­gen.

      Mit ei­nem herz­li­chen Mit­leid ge­gen den ar­men Vet­ter er­schi­en die jun­ge Sprö­de zu spät bei Tisch. Mar­tin füll­te sich eben den Tel­ler voll Mak­ka­ro­ni­pud­ding, aß tap­fer drauf los und sah sie gar nicht an. Aga­the war ein we­nig ent­täuscht. Die edle Stren­ge be­kam eine Bei­mi­schung von Pi­quiert­heit.

      Mar­tin be­trug sich in den nächs­ten Ta­gen nicht wie ein un­glück­lich Lie­ben­der, auch nicht zu­dring­lich, son­dern fle­gel­haft, grob und un­ge­zo­gen. Dann brach­te er ihr zum Kirch­gang am nächs­ten Sonn­tag eine von den son­der­ba­ren brau­nen Ca­li­can­thus-Blü­ten, die es nur noch in dem alt­mo­di­schen Gar­ten von Bor­nau gab. Er wuss­te, dass Aga­the ih­ren star­ken, schwe­ren Würz­duft be­son­ders lieb­te. Die bei­den wa­ren nun wie­der gute Freun­de. Er mach­te aber kei­nen Ver­such mehr, Aga­the zu küs­sen. Das grü­ne Woll­strähn­chen kam seit der Zeit nicht wie­der zum Vor­schein.

      V.

      Herr Heid­ling war, wäh­rend die Er­zie­hung sei­ner Toch­ter nach der Pen­si­ons­zeit bei Pas­tor Kand­ler ge­wis­ser­ma­ßen die letz­te Wei­he emp­fing, als Re­gie­rungs­rat in die Pro­vinz­haupt­stadt zu­rück­ver­setzt wor­den. Die Fa­mi­lie be­zog hier die zwei­te Eta­ge in ei­nem ele­gan­ten Hau­se des neu­en Stadt­teils, wel­cher als Ver­bin­dungs­glied zwi­schen der en­gen, dump­fi­gen, men­schen­durch­wühl­ten Alt­stadt und dem im Bau Be­grif­fe­nen mäch­ti­gen Zen­tral­bahn­hof ge­plant war.

      Noch konn­te je­der Wind­zug von den Fel­dern frei durch die erst halb fer­ti­gen Stra­ßen bla­sen. Es war nicht eben be­hag­lich, dass er stets Kalk­staub und Sand­wol­ken von den vie­len Bau­plät­zen in die Luft em­por­zu­wir­beln fand und den Dampf, so­wie den durch­drin­gen­den häss­li­chen Ge­ruch des As­phalts, der in großen schwar­zen Kü­beln auf of­fe­nen Feu­ern er­hitzt und für die Pflas­te­rung der Trot­toire zu­be­rei­tet wur­de, bald nach die­ser, bald nach je­ner Sei­te weh­te. Die be­reits fer­tig ge­stell­ten Häu­ser rag­ten, mit ih­ren schwe­ren ge­schnitz­ten Hau­stü­ren, ih­ren mit Stück­werk, Ka­rya­ti­den und Bal­kons über­la­de­nen Fassa­den und den nack­ten, fens­ter­lo­sen Sei­ten­flan­ken, un­be­schützt durch gleich­große Nach­barn, in ge­ra­de­zu er­schre­cken­der Höhe em­por.

      Den­noch sah man schon, dass die­ser neue Stadt­teil bin­nen Kur­zem die Zier­de von M. sein wür­de. Je­der fand es be­greif­lich, dass man das neue Gute durch ein un­an­ge­neh­mes Über­gangs­sta­di­um er­kau­fen müs­se. Die Woh­nun­gen wa­ren be­gehrt und sehr teu­er.

      Hier soll­te Aga­the ihr Le­ben als er­wach­se­ner Mensch be­gin­nen. Sie woll­te es sich ganz nach ei­ge­nem Sin­ne ge­stal­ten. Zwar – auf die El­tern hat­te sie Rück­sicht zu neh­men, aber Papa und Mama lieb­ten sie ja so sehr, dass sie ihr ge­wiss in al­lem ent­ge­gen­kom­men wür­den, be­son­ders da sie nur das Gute woll­te und den schöns­ten Idea­len nach­streb­te.

      Beich­te und Abend­mahl hat­ten doch eine ent­sün­di­gen­de Macht! Sie fühl­te sich frei und leicht, die See­le war ihr wie ab­ge­ba­det. Und ei­gent­lich – nun sie er­wach­sen war, konn­te es doch auch nicht so schlimm sein, wenn sie man­ches wuss­te, von dem nie­mand ah­nen durf­te, dass ihre Ge­dan­ken sich da­mit be­schäf­tig­ten.

      In dem Zim­mer mit dem hüb­schen Blu­me­ner­ker, das die El­tern neu ein­ge­rich­tet und ihr als Ei­gen­tum über­ge­ben hat­ten, bau­te Aga­the alle ihre Kon­fir­ma­ti­ons­ge­schen­ke fei­er­lich auf.

      Her­weg­hs böse Sturm­ge­sän­ge wa­ren beim Buch­händ­ler ge­gen eine Ge­dicht­samm­lung mit dem Ti­tel »From­me Min­ne« ein­ge­tauscht. Mar­tin nann­te sie ver­ächt­lich nur: die from­me Min­na.

      Er hat­te Heid­lings nach ab­ge­lau­fe­nem Mi­li­tär­jahr auf sei­ner Rei­se zur Uni­ver­si­tät be­sucht. Aber Aga­the ver­stand sich nicht mehr mit ihm. Er ge­wöhn­te sich eine rohe Art an, über al­les, was sie schön fand, zu höh­nen und bei je­der Ge­le­gen­heit in ein lau­tes wil­des La­chen aus­zu­bre­chen. In­fol­ge sei­nes un­lie­bens­wür­di­gen We­sens wur­de es Aga­the noch zwei­fel­haf­ter, ob Re­vo­lu­ti­on und Chris­ten­tum sich ver­ei­ni­gen las­se. Sie stu­dier­te mit Ei­fer die Zei­tun­gen, ver­schob es aber vor­läu­fig noch, sich be­stimmt für eine Par­tei zu ent­schei­den. Sie woll­te sich erst recht gründ­lich un­ter­rich­ten.

      … Wie neckisch auf dem Ge­schenk­tisch der klei­ne rote »Lie­bes­früh­ling« zwi­schen den ver­trock­ne­ten Blu­men­sträu­ßen und den Le­de­re­tu­is mit den Schmuck­sa­chen her­vor­blick­te! Aber über al­lem thron­te als Mit­tel­punkt der Pracht­band: »Des Wei­bes Wir­ken als Jung­frau, Gat­tin und Mut­ter.« Sei­ne rei­che Ver­gol­dung strahl­te in ei­nem sanf­ten, mys­ti­schen Glanz.

      Der jet­zi­ge Zu­stand war ein No­vi­zi­at, das der Ein­wei­hung in die hei­li­gen Ge­heim­nis­se des Le­bens vor­an­ging. Die ein­fachs­ten häus­li­chen Pf­lich­ten führ­ten Aga­the ein in den gott­ge­woll­ten und zu­gleich so sü­ßen, ent­zücken­den Be­ruf ei­ner deut­schen Haus­frau. Durf­te sie am Sonn­tag ein Tisch­tuch aus dem schö­nen Wä­sche­schrank der Mut­ter ho­len und die Bett­be­zü­ge und La­ken für den Haus­halt ver­tei­len, tat sie es mit fro­her An­dacht, wie man eine sym­bo­li­sche Hand­lung ver­rich­tet.

      *

      In der Bo­den­kam­mer un­ter dem Dach wan­der­te ein fei­ner Son­nen­strahl durch die klei­ne Fens­ter­lu­ke über Spin­ne­we­ben und Staub­wust. Keck und lus­tig ver­gol­de­te er da ein Eck­chen und dort ein Zip­fel­chen von dem al­ten über­flüs­si­gen Plun­der, der hier pie­tät­voll auf­be­wahrt wur­de: Bil­der aus dem Haus­halt der Gro­ß­el­tern und ver­blass­te Rücken­kis­sen, Wal­ters Schau­kel­pferd, und Ball­schu­he, in de­nen die Re­gie­rungs­rä­tin als Braut ge­tanzt hat­te. Sie konn­te sich nie ent­schlie­ßen, sich von ei­nem Din­ge, das ihr ein­mal lieb ge­we­sen, zu tren­nen, und so wan­der­te der In­halt der Bo­den­kam­mer auch bei je­dem Woh­nungs­wech­sel der Fa­mi­lie Heid­ling ge­treu­lich mit.

      Zu den köst­lichs­ten An­den­ken ver­gan­ge­ner Zei­ten be­grub Aga­the nun ihr Spiel­zeug, das sie in eine Kis­te sorg­sam mit Kam­phor­säck­chen ver­pack­te. Die gan­ze Mi­nia­tur­aus­ga­be ei­ner Kin­der­stu­be ging so noch ein­mal durch ihre Fin­ger, bis zu den Wi­ckeln und Win­deln, der Ba­de­wan­ne und den Wärm­fläsch­chen, – den vie­len zier­li­chen Ge­gen­stän­den, die zur Pfle­ge der Aller­kleins­ten nö­tig sind und durch de­ren Hand­ha­bung bei fan­ta­sie­vol­lem Spiel die ge­heims­ten Emp­fin­dungs­ner­ven des wer­den­den Wei­bes in er­war­tungs­voll zit­tern­de Schwin­gun­gen ver­setzt wer­den.

      Träu­me­risch er­in­ner­te sich Aga­the, in­dem sie ihre Lieb­lings­pup­pe zum Ab­schied lei­se auf die Stirn küss­te, des atem­lo­sen Ent­zückens, mit dem sie oft ihr Kleid ge­öff­net hat­te, um das har­te kal­te Wachs­köpf­chen an die win­zi­gen Knos­pen ih­rer Kin­der­brust zu drücken