gedacht, dass Du auch gerade so würdest, wie die anderen alle!«
Agathe schmollte, und der Regierungsrat setzte seinen Neffen über die ungehörige Ausdrucksweise zur Rede. Agathe wurde für ihre Empfindlichkeit hart gestraft. Denn es entstand infolge dessen zwischen ihrem Vater und Martin ein Streit, der, bei Kaffee und Kuchen begonnen, die gemütliche Vorfeier vergällte und sich bei unzähligen Zigarren bis zum Abend fortspann.
Martins Vorliebe für Herweghs Gedichte wurde strenge getadelt.
Agathe hörte, während sie ab und zu ging, um ihre Ball-Vorbereitungen zu treffen, die zornigen Ausrufe:
»Wie kann man mit solchen Ansichten in den Staatsdienst treten wollen …? – Das Leiden von Millionen –. Die kapitalistische Wirtschaft –! Reiner Sozialismus – flaches Phrasentum –. Verknöcherte Gewohnheitsmenschen – verrottete Bourgeoisie …«
Martins Augen bekamen einen wilden, fürchterlichen Ausdruck, und die höhnischen Falten, die jetzt immer um seine trotzig aufgeworfenen und noch fast bartlosen Lippen lagen, verstärkten sich zur Grimasse. Der Regierungsrat ging in der Stube auf und nieder, wie er es zu tun pflegte, wenn er in sehr schlechter Laune war.
Mama – die schon den ganzen Tag ihre Neuralgie fürchtete – sie hatte so viel herumlaufen müssen und das bekam ihr immer schlecht, aber Agathe konnte doch noch nicht selbst für ihren Anzug sorgen – die arme Mama musste sich wirklich in der Nebenstube aufs Sopha legen. Dazwischen kam die Friseurin – natürlich viel später, als man sie erwartet hatte – es war ein Jagen und Hetzen, bis man nur fertig wurde, und alles roch nach Hoffmannstropfen und Baldriantee, Mittel, welche die Regierungsrätin nahm, um sich zu beleben. Die Männer waren kaum auseinander zu bringen. Agathe sollte sich vor dem großen Spiegel im Salon ankleiden. Ach, wie das alles ungemütlich und schrecklich war!
Als sie ihre Toilette beendet hatte, musste sie sich wie auf einer Drehscheibe langsam vor der versammelten Familie und den Dienstboten herumdrehen. Der Kronleuchter war dazu angezündet worden.
Bei den schmeichelhaften Bemerkungen ihres Vaters, der alten Küchendorte Begeisterungsgebrumm, dem aufgeregten Entzücken des kleinen Hausmädchens und dem stillen Triumph auf ihrer Mutter leidendem Gesicht, erfasste sie eine beklemmende Freude. Sie war sich so fremd dort im Spiegel; in den duftigen weißen Rüschen und Volants, von den langen Rosenranken gleichsam umsponnen, mit dem aufgetürmten, gekräuselten Haar kam sie sich beinahe vor wie eine Schönheit! Wenn sie nun aus all den hundert Mädchen auf dem Juristenball für die Königin erklärt wurde? – Mama brachte ihr ein Glas Rotwein, weil sie plötzlich so blass aussah.
Einen Wagen hatte man nicht nehmen wollen, der Weg war ja gar nicht weit. Agathe fand es recht erbärmlich, in großen Überschuhen und mit hochgesteckten Röcken, zu einem wahren Ungeheuer vermummt, durch Regen und Schnee zu patschen, und noch dazu in Martins Gegenwart. Sie sah neidisch nach jeder Karosse, die an ihnen vorüberdonnerte. Beinahe wäre der Streit über Martins Weltanschauung zwischen Onkel und Neffen unterwegs noch einmal ausgebrochen, dann schritten sie in finsterem Schweigen, der eine voraus, der andere hinterdrein.
Agathe würgte an ihren Tränen.
Über den Leiden der Millionen hatte Martin ihr Ballbouquet vergessen.
*
Da standen die jungen Mädchen in langen Reihen und in kleinen Gruppen – wie ein riesenhaftes Beet zartabgetönter Frühlingshyacinthen – rosenrot, bläulich, maisgelb, weiß, hellgrün. Die Hände über dem Fächer gekreuzt, die Ellbogen der entblößten, fröstelnden Arme eng an die Hüften gedrückt, vorsichtig miteinander flüsternd und die blumengeschmückten, blonden und braunen Köpfe zu schüchternem Gruße neigend. Nur einige, die schon länger die Bälle besuchten, wagten zu lächeln, aber die meisten brachten es nur zu einem Ausdruck von Spannung.
Getrennt von dem duftigen, regenbogenfarbigen Kleidergewölk, den weißen, nackten, ängstlichen Schultern – getrennt durch einen weiten leeren Raum, der hoch oben mit einer reichverzierten Stuckdecke, nach unten mit einem spiegelglatten Parkett abgeschlossen wurde – eine Mauer von schwarzen Fräcken und weißen Vorhemden, die so hart und blank erglänzten wie das Parkett, und regelrecht gescheiteltes, kurzgeschnittenes Haar, sorgsam gedrehte kleine Schnurrbärtchen. Aus der männlichen Seite trat hauptsächlich das Bemühen, die weißen Handschuhe überzustreifen, hervor und außerdem wie drüben ein halblautes Flüstern, ein steifes Verbeugen, ein ernstes Händeschütteln. Von der schwarzen Phalanx sonderte sich ein kleiner Kreis blitzender Epauletten und Uniformen ab. Hier wurde lauter geschwatzt, die Kameraden musterten den Saal mit spöttischem Siegerblick und wagten sich leichten, tanzenden Schrittes über den fürchterlichen leeren Raum zu dem Hyacinthenbeet, durch welches dann jedes Mal ein leises Zittern und Bewegen lief.
Zu zweien und dreien lösten sich nun auch die schwarzen Gestalten aus der Menge und tauchten nach Tänzerinnen zwischen die lichten bunten Kleiderwolken. Vom Rande des Saales aber starrten und starrten viele Mutteraugen zu den sich in Schlachtreihen gegenüberstehenden Heerscharen, und wie gern hätte mancher Mund aus dem Hintergrund Befehle und Anweisungen herübergerufen. Die Väter verharrten gleichsam als der Train und die Fouragemeister, die eine Armee ja nicht entbehren kann, in den Nebenstuben und in den Türen des Tanzsaals.
Und nun schmetterten die Fanfaren zum Angriff, und die Schwarzen stürzten sich auf die Hellen, alles wirbelte durcheinander und die Schlacht konnte beginnen. Hei – das gab heiße Arbeit! Wie die Schweißtropfen über die männlichen Gesichter rannen und vergebens mit weißen Tüchern getrocknet wurden! Wie die Tarlatanfetzen von den dünnen Kleidern flogen, wie die frisierten Haare sich lösten und die Schultern warm und die Augen lebendig wurden!
Und wie die Mütter in ihren Unterhaltungen ganz verstummten und mit vorgestreckten Hälsen, mit Lorgnetten und Kneifern – eine sehr Kurzsichtige gebrauchte sogar ein Opernglas – in dem Gewoge die einzelnen Paare verfolgten.
Und wie die Väter sich gemütlich zu Bier und Skat niederließen und zu langen politischen Auseinandersetzungen, die doch nichts Aufregendes hatten, weil man im Grunde als preußischer Beamter nur eine Meinung haben konnte und allerseits treu zu Kaiser und Reich stand.
Ja, nun war die Ballfreude auf ihrem Höhepunkt angekommen!
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