wurde ihm zu beklommen, und er ließ sich nur selten noch bei den Verwandten blicken. Zu Wutrows ging er jedes Mal, obwohl die Ansichten des alten Tabaksfabrikanten sicher nicht volksfreundlicher waren, als die des Regierungsrats.
Einmal warf Eugenie im Gespräch mit Agathe die Bemerkung hin: ihr Vetter wandle auf gefährlichen Bahnen, aber er sei ein genialer Mensch. Ein anderes Mal fand Agathe auf dem Schreibtisch ihrer Freundin ein Buch mit roter Inschrift auf schwarzem Deckel. Eugenie riss es ihr hastig aus der Hand.
»Polizeilich verboten!« flüsterte sie lachend und schob es unter die Spitzen und Bänder in einer geschnitzten Truhe.
Dann wieder konnte Martin übermütig bis zur Tollheit sein, und trieb, wenn er kam, nur Neckereien und Scherze mit den beiden Mädchen. Wochenlang trug er eine kleine Pelzkappe, die er Eugenie geraubt hatte, und auf deren blondem Kopfe konnte man den Knockabout von Martin Greffinger bewundern. Traf er die Offiziere der Garnison bei Wutrows, so saß er finster und mürrisch in einer Ecke. Eugenies geschickteste Versuche bewogen ihn nicht, an einer Disputation über seine entsetzlichen Ansichten teilzunehmen. Meistens entfernte er sich gleich.
Agathe war überzeugt, dass Eugenie ihn liebe.
Sie selbst musste fortwährend die Frage bei sich erwägen, wie ihr zu Mute sein würde, wenn Referendar Sonnenstrahl oder Lieutenant Bieberitz oder der junge Dürnheim um ihre Hand anhielte? Und was sie wohl empfinden würde, wenn sie mit einem von diesen Herren nach der Trauung am Abend allein an einem Fenster stehen und an seiner Schulter gelehnt in einen dunklen Park hinausblicken würde? So war die Vorstellung, die sie sich unwillkürlich vom Beginn der Ehe machte. Hinter ihnen brannte eine Hängelampe, und dunkelrote Gardinen flossen an den Fenstern nieder. Sie nahm den Kranz und den Schleier ab, und er löste seine weiße Kravatte – und dann würde er komisch aussehen! Darüber kam sie nicht hinweg, und das Gefühl eines großen Glückes wollte sich nicht einstellen.
Vielleicht war sie überhaupt nicht zur Ehe bestimmt, sondern ausbewahrt für ein seltsames, romantisches, schauervolles Schicksal?
Hätte sie nur kleine Kinder nicht so gern gehabt!
Der Regierungsrat Heidling interessierte sich als vielseitig unterrichteter Mann auch für die Kunst und wirkte mit anderen gebildeten Freunden für die Einrichtung einer ständigen Ausstellung älterer und neuerer Gemälde in M. Er sorgte dafür, dass seine Tochter diese Anstalt eines reinen, erhebenden Genusses, nachdem sie dem Publikum geöffnet war, fleißig besuchte. Gern ging er selbst am Sonntag Vormittag mit ihr auf ein Stündchen dorthin und knüpfte manche lehrhafte Bemerkung über die verschiedenen Richtungen der Malerei und der Plastik an das Geschaute. Agathes Geschmack wich oft sehr weit von dem ihres Vaters ab, aber er war ja eben ungeübt und kindisch und sollte sich verfeinern. Es wurde ein Sport bei den jungen Mädchen, sich Sonntags zwischen zwölf und eins um den Regierungsrat zu versammeln, mit ihm von Bild zu Bild ziehend, lachend, schwatzend, sich ihre ketzerischen Bemerkungen in die Ohren tuschelnd und zugleich andächtig zuhörend. Der Blick des ernsten Mannes ruhte dann freundlich auf all den in knappen Pelzjäckchen und flockigen Mützen gekleideten Gestalten, den belebten, von Jugend- und Winterluft frischen Gesichtern.
»Lord Byron in Newstead Abbey«, las der Regierungsrat aus dem Kataloge hervor. »Wann geboren? Welche Hauptwerke? Kain – Childe Harold – gut! Was haben Sie von ihm gelesen? Gefangener von Chillon? Mit den anderen Sachen können Sie noch warten! … Sehen Sie, wie ausgezeichnet unser Maler den schwärmerisch-düsteren Ausdruck des Poeten getroffen hat … Die nervösen Hände – sehr fein! – Auch der gotische Säulengang … Die Hinneigung zur Romantik wird durch das verglimmende Abendrot angedeutet. In der Ecke lehnend die Fahne mit den griechischen Farben … Symbol eines zukünftigen Schicksals – Agathe – wie starb Byron? – Missolunghi – richtig. – – – Hier haben wir nun … Lassen Sie sehen, was der Katalog sagt: Kühe im Grünen … Das Werk eines Meisters der französischen Schule aus den vierziger Jahren …«
Agathe war zurückgeblieben. Mit schwermütig erstaunten Augen träumte sie von dem englischen Lord. – Sie hatte doch früher schon Bilder von ihm gesehen … Was ergriff sie denn plötzlich?
Am nächsten Morgen ging sie wieder in die Ausstellung. Nur für ihn.
Sie blickte so lange, so starr und intensiv auf das Gemälde, bis sie den schönen Männerkopf wie in verkleinertem Abbild deutlich vor den geschlossenen Augen sah. In der Woche war die Ausstellung meist leer und niemand konnte Agathe beobachten. Das Bild nahm ein seltsames Leben für sie an. Es war dem Künstler gelungen, etwas von der Macht, die der Dichter zu seiner Zeit auf die Frauen geübt, in dieses gemalte Antlitz zu bannen. Das Mädchen schlich zu ihm, wie zu einem verbotenen Genuss, sie berauschte sich an der Sehnsucht, die nun ein Ziel gefunden hatte, bei dem sie doch immer Sehnsucht bleiben konnte.
Zu Haus las sie Byrons Werke – alle, vom Anfang bis zu Ende. Die Freude daran war schon schmerzliche Leidenschaft. Vieles erfuhr sie hier, aber die natürlichen Beziehungen der Geschlechter zu einander erschienen in einer wilden Gewitterstimmung, durch die ihr dann doch alles wieder den Eindruck eines fantastischen Märchens machte.
Sie weinte vor Eifersucht, als sie aus der Biografie Byrons Verhältnis zur Gräfin Guiccioli erfuhr. Aber keine von den Frauen, an die er sein glühendes Herz verschwendete, hatte ihn befriedigt. Keine … Das war ein Trost!
Das Glück, die heitere Götter-Ruhe, die dem Genius, wie seine Kritiker sagten, gefehlt, um ihn zu einem Klassiker zu machen – Agathe Heidling hätte sie ihm gebracht! – Da wurde ihr nun die Melancholie klar, die sie oft so rätselhaft überschattete.
Ein halbes Jahrhundert zu spät geboren … Die Romantik dieses Geschickes genügte ihr endlich. Sie beruhigte sich gewissermaßen dabei. Unter der Oberfläche ihres Daseins begann ein sonderbares Traumleben. Sie richtete sich häuslich ein in der neuen fantastischen Heimat, in die sie fortan ihre tiefsten Freuden, ihre geheimnisvollen Leiden verlegte – tote Kinder sich wohl eine zweite Welt schaffen, der sie irgend einen barocken Namen geben und an deren Ausgestaltung ihre Gedanken unaufhörlich tätig sind, und Eltern oder Erzieher wundern sich dann, dass sie den Aufgaben des Hauses und der Schule nur ein schwaches Interesse entgegenbringen.
Während Fräulein Heidling Bälle, Kränzchen, Landpartien und Sommerfrischen besuchte – während sie Schlittschuh lief, Kotillonorden