Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke


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auf ei­nem Stuhl.

      Spä­ter am Abend frag­te sie Wie­sing, ob sie nicht zu ih­ren El­tern ge­hen kön­ne, ob sie nicht sa­gen wol­le, ihre Mut­ter wäre krank und brau­che sie. Aber das klei­ne Haus­mäd­chen schüt­tel­te den Kopf und ant­wor­te­te mit un­be­greif­li­cher Er­ge­bung: »Ach, wat mei­nen Frö­len, – mien Mod­der wull mi schön schel­ten, wenn ik nach Hus käme. Un’ Dor­te seggt ok, dat’s all gliek bei de Herr­schaf­ten. De jung’ Herr hat ja och woll bald Hoch­tied und dann kümmt he jo ok weg.«

      Was konn­te Aga­the wei­ter tun? Sie hoff­te, dass ihr Bru­der einen Eklat fürch­ten wür­de. Aber sie hat­te je­den Maß­stab für die Be­rech­nung der Mög­lich­kei­ten ver­lo­ren.

      Sie konn­te sich nicht ent­schlie­ßen, Wie­sing je­mals wie­der nach die­ser An­ge­le­gen­heit zu fra­gen, doch nann­te sie sie von nun ab wie die Mut­ter »Lui­se« Es war für sie et­was Ge­mei­nes an dem Mäd­chen haf­ten ge­blie­ben.

      IX.

      Aga­the war nun schon zwan­zig Jah­re alt.

      Die Re­gie­rungs­rä­tin freu­te sich recht, als im Fe­bru­ar eine ent­fern­te viel jün­ge­re Ver­wand­te, mit der sie hin und wie­der kur­ze Brie­fe wech­sel­te, die Bit­te an sie rich­te­te, ihr das Töch­ter­chen für ei­ni­ge Wo­chen zu schi­cken. Aga­thes Fo­to­gra­fie habe in ihr den Wunsch er­weckt, sie ken­nen zu ler­nen.

      Die Cou­si­ne, die, zur Ma­le­rin aus­ge­bil­det, einen pol­ni­schen Künst­ler, Ka­si­mir von Wo­szen­ski, ge­hei­ra­tet hat­te, galt bei Heid­lings für geis­tig an­re­gend, ja für ge­nia­lisch. Da­bei wa­ren die Fa­mi­li­en­ver­hält­nis­se des Ehe­paa­res doch so so­li­de ge­fes­tigt, dass selbst der Re­gie­rungs­rat nichts Ernst­li­ches ge­gen einen Be­such der Toch­ter ein­wen­den konn­te. Aber es ge­fiel ihm nicht, sie von sei­ner Sei­te zu las­sen. Er war an ihr Schwat­zen und La­chen, an das Ge­hen und Kom­men all der jun­gen Mäd­chen um ihn her ge­wöhnt. Er moch­te die­sen leich­ten an­mu­ti­gen Reiz in sei­nem tro­ckenen, ar­beits­vol­len Be­rufs­da­sein nicht ent­beh­ren – auch nicht für vier Wo­chen. Er sah nicht ein, wozu er eine Toch­ter habe, wenn sie auf Rei­sen ge­hen woll­te.

      Un­si­cher be­merk­te die Rä­tin: Aga­the könn­te doch da viel­leicht je­mand ken­nen ler­nen … je­mand mit Ver­mö­gen.

      Der Re­gie­rungs­rat wur­de sehr zor­nig. Er habe nicht nö­tig, sei­ne Toch­ter ver­scha­chern zu las­sen; er kön­ne selbst für sei­ne Toch­ter sor­gen, und sie brau­che durch­aus nicht zu hei­ra­ten.

      So hat­te es ja die Rä­tin nicht ge­meint. Sie woll­te et­was an­deu­ten, was sie nicht zu sa­gen wag­te, weil es ihr unz­art vor­kam. Aga­thes We­sen, das ge­gen die jun­gen Män­ner ih­res Krei­ses im­mer stei­fer und ver­schlos­se­ner wur­de, be­küm­mer­te die Mut­ter. Aga­the hat­te durch hoch­mü­ti­ge Nicht­ach­tung schon meh­re­re Her­ren, die sich ihr auf­fäl­lig zu nä­hern such­ten, ver­letzt und zu­rück­ge­sto­ßen. Die Rä­tin wuss­te nicht von der Er­fah­rung, die Aga­the an ih­rem Bru­der ge­macht hat­te, und die auf ihr ruh­te, wie ein Un­recht, an dem sie durch ihr Ver­schwei­gen mit schul­dig ge­wor­den war. Die Rä­tin wuss­te auch nichts von den Be­zie­hun­gen Lord By­rons zu ih­rer Toch­ter.

      In ih­rem, durch die Sor­gen um einen weit­läu­fig und um­ständ­lich ge­führ­ten Haus­halt, von den Erin­ne­run­gen an ihre to­ten Kin­der und von ih­rem Ner­ven­lei­den ge­quäl­ten Kopf war längst ein Zu­stand der Er­mat­tung ein­ge­tre­ten, der es ihr un­mög­lich mach­te, Ur­sa­che und Wir­kung ir­gend wel­cher Ver­hält­nis­se zu über­se­hen, eine Ge­dan­ken­fol­ge klar und scharf zu Ende zu füh­ren. Aber je schwä­cher ihr ur­sprüng­lich nicht ar­mes Ver­stan­des­ver­mö­gen wur­de, de­sto mehr stei­ger­te sich die Ah­nungs­fä­hig­keit ih­res Ge­mü­tes, das mit un­end­lich fei­nen Ge­fühl­stas­tern den ver­bor­gens­ten Stim­mun­gen ih­rer Lie­ben nach­spür­te und sie lei­dend mit­emp­fand. Sie seufz­te, so­bald die Rede auf Wal­ters und Eu­ge­ni­ens Hoch­zeit kam, und doch war für alle Freun­de der Fa­mi­lie in dem be­vor­ste­hen­den Er­eig­nis ei­tel Freu­de für ein Mut­ter­herz zu se­hen. So fühl­te Frau Heid­ling auch jetzt, dass eine Zer­streu­ung, ein Wech­sel der Ein­drücke für Aga­the heil­sam sein wer­de. Sie hat­te nicht ohne Ab­sicht die letz­te schö­ne Fo­to­gra­fie des Mäd­chens dem Ma­ler­ehe­paar ge­schickt. Weil sie kei­ne über­zeu­gen­den Grün­de vor­brin­gen konn­te, such­te sie ihr Ziel mit stil­lem Ei­gen­sinn zu er­rei­chen.

      Frau Heid­ling er­öff­ne­te ih­rer Toch­ter mit be­trüb­tem Ge­sicht, der Va­ter habe ent­schie­den, wenn sie rei­sen wol­le, so kön­ne sie die Kos­ten von ih­rem Ta­schen­gel­de tra­gen.

      »Papa weiß ja gar nicht, dass Du Dir was ge­spart hast«, füg­te sie mit ei­nem schel­mi­schen Tri­umph hin­zu. »Zwan­zig Mark gebe ich Dir aus der Wirt­schafts­kas­se – die kann ich gut er­üb­ri­gen! Da muss er es doch er­lau­ben! – Freust Du Dich nicht auf die Rei­se?«

      Aga­the blick­te ihre Mut­ter ver­stört und er­schro­cken an.

      Ja – sie hat­te sich einen klei­nen Schatz er­spart …

      Schon lan­ge trug sie in Ge­sell­schaf­ten kei­ne Gla­cee­hand­schu­he mehr, son­dern Halb­sei­de­ne, und auf Spa­zier­gän­gen so­gar Baum­wol­le­ne. Mach­ten die jun­gen Da­men einen Ab­ste­cher zum Kon­di­tor, so wuss­te sie sich auf ir­gend eine Wei­se zu­rück­zu­zie­hen, und ihre Ge­burts­tags­ge­schen­ke wa­ren ge­ra­de­zu mes­quin. Die öf­fent­li­che Mei­nung be­schäf­tig­te sich be­reits mit der au­gen­fäl­li­gen Ver­nach­läs­si­gung ih­rer sonst so ge­pfleg­ten Er­schei­nung und mit der Ver­än­de­rung ih­res sorg­los ge­nerösen Cha­rak­ters.

      Da der Wort­schatz der jun­gen Mäd­chen kein all­zu reich­hal­ti­ger war, wur­den zwei Aus­ru­fe bald von Lis­beth Wend­ha­gen, bald von Fräu­lein von Hen­nig, dann wie­der von Klä­re Dürr­heim oder von Eu­ge­nie als neues­te Beo­b­ach­tung preis­ge­ge­ben.

      »Kin­der, was sagt ihr nur zu Aga­the? –«

      »Ich fin­de das ei­gent­lich …«

      Der Grad von Miss­bil­li­gung, von Ent­rüs­tung schi­en so stark zu sein, dass er nur durch eine un­heim­li­che Pau­se hin­ter dem »ei­gent­lich« … recht zur Gel­tung ge­bracht wer­den konn­te.

      Aga­the spar­te für eine Rei­se nach Eng­land. Sie woll­te ih­res to­ten Lieb­lings Grab be­su­chen, an den Stät­ten wan­deln, wo er ge­at­met und ge­sun­gen – wo er das Le­ben ge­lit­ten und ge­nos­sen hat­te.

      Ach – und wie lan­ge dau­er­te es, bis aus den ein­zel­nen Ni­ckel- und Sil­ber­mün­zen ih­res Ta­schen­gel­des auch nur ein Gold­stück ein­ge­wech­selt wer­den konn­te. Auf dem Grun­de des Käst­chens, in dem Aga­the ih­ren Schatz be­wahr­te, lag ein Zet­tel, der in go­ti­schen Buch­sta­ben den Spruch ent­hielt: Ver­nunft, Ge­duld und Zeit macht mög­lich die Un­mög­lich­keit. Wenn Aga­the ihn las, war ihr zu Mute, als näh­me sie einen Schluck Chi­nin­wein.

      Mit ner­vö­ser Lust fühl­te sie das Geld zwi­schen ih­ren Fin­gern, das ihr end­lich ein Er­leb­nis brin­gen soll­te – das große Er­leb­nis, nach dem ihr gan­zes We­sen ge­spannt war. Vi­el­leicht er­laub­ten ihr die El­tern die Rei­se nicht – viel­leicht muss­te sie heim­lich ge­hen und durf­te dann nie­mals wie­der­kom­men … Sie be­sann sich, ob ir­gend et­was in dem Krei­se