Nähe war und sich freute, dass sie nicht beten konnte. Lieber Gott, verlass mich doch nicht! – Vielleicht kam die Prüfung über sie, weil sie in der Beichte, die sie hatte niederschreiben und dem Geistlichen überreichen müssen, nicht aufrichtig gewesen … Hätte sie sich so entsetzlich demütigen sollen … das bekennen? Nein – nein – nein – das war ganz unmöglich. Lieber in die Hölle!
Der Schweiß brach ihr aus, so peinigte sie die Scham.
Das konnte sie doch nicht aufschreiben. Tausendmal lieber in die Hölle!
… Jetzt nicht daran denken … Nur nicht denken. Wie war es denn anzustellen, um Macht über das Denken zu bekommen? Sie dachte doch immer … Alles war so geheimnisvoll schrecklich bei diesem christlichen Glaubensleben. Sie wollte es ja annehmen … Und sie hatte ja auch gelobt – nun musste sie – da half ihr nichts mehr!
Mit einem unerträglichen Zittern in den Knien begab das Mädchen sich an ihren Platz zurück. Der Gesang der Gemeinde und das Spiel der Orgel schwollen stärker an, während der Geistliche die Vorbereitungen zum Abendmahl traf, aus der schöngeformten Kanne Wein in den silbernen Kelch goss und das gestickte Leinentuch von dem Teller mit den heiligen Oblaten hob.
Das Licht der hohen Wachskerzen flackerte unruhig. Agathe schloss geblendet die Augen vor dem hellen Sonnenschein, der die Kirche durchströmte, und in dem Milliarden Staubatome wirbelten. War die Himmelssonne nur dazu da, alles Verborgene zu schrecklicher Klarheit zu bringen?
In stumpfem Erstaunen hörte sie neben sich zwei ihrer Mitkonfirmandinnen leise flüstern – flachsköpfige Mädchen, die einen Duft von schlechter Pomade um sich verbreiteten.
»Wiesing – wo is Dien Modder?«
»Sei möt uns’ lütt’ Kalf börnen.«
»Ju! Hewet et ji all? Dat’s fin! Dat kunnst mi ok gliek vertellen!«
»Klock Twelf hat’s de Bleß bracht. Wie sünd all die Nacht in’n Stall west!«
Wie konnte man über so etwas in der Kirche reden, dachte Agathe. Ein Zug hochmütiger Missachtung bewegte ihre Mundwinkel. Sie wurde ruhiger, sicherer im Gefühl ihres heißen Wollens. Eine Müdigkeit – eine Art von seliger Ermattung beschlich sie bei dem Gesange jenes alten mystischen Abendmahlsliedes:
Freue dich, o liebe Seele,
Lass die dunkle Sündenhöhle,
Komm ans helle Licht gegangen,
Fange herrlich an zu prangen.
Denn der Herr voll Heil und Gnaden
Will dich jetzt zu Gaste laden,
Der den Himmel kann verwalten
Will jetzt Zwiesprach’ mit dir halten.
Eile, wie Verlobte pflegen,
Deinem Bräutigam entgegen.
Der da mit dem Gnadenhammer
Klopft an deines Herzens Kammer.
Öffn’ ihm deines Geistes Pforten,
Red’ ihn an mit süßen Worten:
Komm, mein Liebster, lass dich küssen.
Lass mich deiner nicht mehr missen.
Nun war es nicht der erhabene Gott-Vater, der das Opfer forderte, nicht mehr der heilige Geist, der unbegreiflich-furchtbare, der mit den Gluten des ewigen Feuers seinen Beleidigern droht, der niemals vergibt – jetzt nahte der himmlische Bräutigam mit Trost und Liebe.
»Wer da unwürdig isset und trinket, der sei verdammt« – heißt es zwar auch hier. Aber über das Mädchen kam eine frohe Zuversicht. Vor ihr inneres Auge trat Jesus von Nazareth, wie ihn die Kunst, wie ihn Tizian gebildet hat, in seiner schönen, jungen Menschlichkeit – ihn hatte sie lieb … Ein schmachtendes Begehren nach der geheimnisvollen Vereinigung mit ihm durchzitterte die Nerven des jungen Weibes. Der starke Wein rann feurig durch ihren erschöpften Körper – ein sanftes, zärtliches und doch entsagungsvolles Glück durchbebte ihr Innerstes – sie war würdig befunden, seine Gegenwart zu fühlen.
*
Auch Agathes Eltern, ihr Bruder, ihr Onkel, und die Frau des Predigers, in dessen Hause sie seit einigen Monaten lebte, nahmen das Abendmahl, um sich in Liebe dem Kinde zu verbinden. Darum hatte der Geistliche zuerst seine ländlichen Konfirmanden und deren Angehörige absolviert und dann die Tochter des Regierungsrates und ihre Familie zum Tisch des Herrn treten lassen. So stand denn Agathe umgeben von all denen, die ihr die nächsten waren auf dieser Welt.
Gleichgültig sahen die mürrischen alten Bauern, die schläfrigen Knechte, voll Neugier aber die Pächter- und Taglöhnerfrauen dem Gebaren der Fremden zu. Der stattliche Herr mit dem Orden, der den hohen Hut im Arm trug, konnte eine Bewegung in seinen Zügen trotz der würdevollen Haltung nicht verbergen. Er wandte seinen Kopf zur Seite, um mit der Fingerspitze eine leichte Feuchtigkeit von den Wimpern zu entfernen. Das vermerkten die Frauen mit Genugtuung. Und dann weckte das schwarze Atlaskleid und der Spitzenumhang der Mutter leise geraunte Bewunderung. Die Regierungsrätin selbst jedoch hatte die Empfindung, ihr Kleid wirke aufdringlich in dieser bescheidenen Umgebung, und als sie zum Altar trat, hielt sie die Schleppe ängstlich und verlegen an sich gedrückt, dabei weinte sie und seufzte von Zeit zu Zeit tief und schmerzlich. Als die Gemeinde den letzten Vers sang, stahlen sich ihre Finger nach Agathes Hand und drückten sie krampfhaft. Kaum war der Gottesdienst zu Ende, so umarmte Frau Heidling ihre Tochter mit einer Art von kummervoller Leidenschaft, die wenig für die Gelegenheit zu passen schien, und murmelte mehrere Mal unter Tränen: mein Kind, mein süßes, geliebtes Kind! – ohne mit ihrem Segenswunsch zu Ende gelangen zu können.
Doch die bewegte Mutter durfte das Kind nicht an ihrem Herzen behalten. Der Vater verlangte nach ihr, Onkel Gustav, Bruder Walter, Frau Pastor Kandler – alle wollten ihre Glückwünsche darbringen. Ein jeder gab dabei noch an der Kirchtür dem Mädchen ein wenig Anleitung, wie sie sich dem kommenden Leben gegenüber als erwachsener Mensch zu verhalten habe.
Sie hörte mit verklärtem Lächeln auf dem verweinten Gesichtchen alle die goldenen Worte der Liebe, der älteren Weisheit. So schwach fühlte sie sich, so hilfsbedürftig und so bereit, jedermann zu Willen zu sein, alles zu beglücken, was in ihre Nähe kam. Sie war ja selbst jetzt so glücklich!
Ihr Bruder, der Abiturient, lief aufmerksam nochmals in die Kirche zurück, ihr vergessenes Bouquet zu holen, während alle anderen sich auf den Weg zum Pfarrhaus begaben. Agathe wartete auf ihn, sah ihn dankbar