Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke


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Nähe war und sich freu­te, dass sie nicht be­ten konn­te. Lie­ber Gott, ver­lass mich doch nicht! – Vi­el­leicht kam die Prü­fung über sie, weil sie in der Beich­te, die sie hat­te nie­der­schrei­ben und dem Geist­li­chen über­rei­chen müs­sen, nicht auf­rich­tig ge­we­sen … Hät­te sie sich so ent­setz­lich de­mü­ti­gen sol­len … das be­ken­nen? Nein – nein – nein – das war ganz un­mög­lich. Lie­ber in die Höl­le!

      Der Schweiß brach ihr aus, so pei­nig­te sie die Scham.

      Das konn­te sie doch nicht auf­schrei­ben. Tau­send­mal lie­ber in die Höl­le!

      … Jetzt nicht dar­an den­ken … Nur nicht den­ken. Wie war es denn an­zu­stel­len, um Macht über das Den­ken zu be­kom­men? Sie dach­te doch im­mer … Al­les war so ge­heim­nis­voll schreck­lich bei die­sem christ­li­chen Glau­bens­le­ben. Sie woll­te es ja an­neh­men … Und sie hat­te ja auch ge­lobt – nun muss­te sie – da half ihr nichts mehr!

      Mit ei­nem un­er­träg­li­chen Zit­tern in den Kni­en be­gab das Mäd­chen sich an ih­ren Platz zu­rück. Der Ge­sang der Ge­mein­de und das Spiel der Or­gel schwol­len stär­ker an, wäh­rend der Geist­li­che die Vor­be­rei­tun­gen zum Abend­mahl traf, aus der schön­ge­form­ten Kan­ne Wein in den sil­ber­nen Kelch goss und das ge­stick­te Lei­nen­tuch von dem Tel­ler mit den hei­li­gen Obla­ten hob.

      Das Licht der ho­hen Wachs­ker­zen fla­cker­te un­ru­hig. Aga­the schloss ge­blen­det die Au­gen vor dem hel­len Son­nen­schein, der die Kir­che durch­ström­te, und in dem Mil­li­ar­den Stau­ba­to­me wir­bel­ten. War die Him­mels­son­ne nur dazu da, al­les Ver­bor­ge­ne zu schreck­li­cher Klar­heit zu brin­gen?

      In stump­fem Er­stau­nen hör­te sie ne­ben sich zwei ih­rer Mit­kon­fir­man­din­nen lei­se flüs­tern – flachs­köp­fi­ge Mäd­chen, die einen Duft von schlech­ter Po­ma­de um sich ver­brei­te­ten.

      »Wie­sing – wo is Dien Mod­der?«

      »Sei möt uns’ lüt­t’ Kalf bör­nen.«

      »Ju! He­wet et ji all? Dat’s fin! Dat kunnst mi ok gliek ver­tel­len!«

      »Klock Twelf hat’s de Bleß bracht. Wie sünd all die Nacht in’n Stall west!«

      Wie konn­te man über so et­was in der Kir­che re­den, dach­te Aga­the. Ein Zug hoch­mü­ti­ger Missach­tung be­weg­te ihre Mund­win­kel. Sie wur­de ru­hi­ger, si­che­rer im Ge­fühl ih­res hei­ßen Wol­lens. Eine Mü­dig­keit – eine Art von se­li­ger Er­mat­tung be­schlich sie bei dem Ge­san­ge je­nes al­ten mys­ti­schen Abend­mahls­lie­des:

       Freue dich, o lie­be See­le,

       Lass die dunkle Sün­den­höh­le,

       Komm ans hel­le Licht ge­gan­gen,

       Fan­ge herr­lich an zu pran­gen.

       Denn der Herr voll Heil und Gna­den

       Will dich jetzt zu Gas­te la­den,

       Der den Him­mel kann ver­wal­ten

       Will jetzt Zwie­sprach’ mit dir hal­ten.

       Eile, wie Ver­lob­te pfle­gen,

       Dei­nem Bräu­ti­gam ent­ge­gen.

       Der da mit dem Gna­den­ham­mer

       Klopft an dei­nes Her­zens Kam­mer.

       Öff­n’ ihm dei­nes Geis­tes Pfor­ten,

       Red’ ihn an mit sü­ßen Wor­ten:

       Komm, mein Liebs­ter, lass dich küs­sen.

       Lass mich dei­ner nicht mehr miss­en.

      Nun war es nicht der er­ha­be­ne Gott-Va­ter, der das Op­fer for­der­te, nicht mehr der hei­li­ge Geist, der un­be­greif­lich-furcht­ba­re, der mit den Glu­ten des ewi­gen Feu­ers sei­nen Be­lei­di­gern droht, der nie­mals ver­gibt – jetzt nah­te der himm­li­sche Bräu­ti­gam mit Trost und Lie­be.

      »Wer da un­wür­dig is­set und trin­ket, der sei ver­dammt« – heißt es zwar auch hier. Aber über das Mäd­chen kam eine fro­he Zu­ver­sicht. Vor ihr in­ne­res Auge trat Je­sus von Na­za­reth, wie ihn die Kunst, wie ihn Ti­zi­an ge­bil­det hat, in sei­ner schö­nen, jun­gen Men­sch­lich­keit – ihn hat­te sie lieb … Ein schmach­ten­des Be­geh­ren nach der ge­heim­nis­vol­len Ve­rei­ni­gung mit ihm durch­zit­ter­te die Ner­ven des jun­gen Wei­bes. Der star­ke Wein rann feu­rig durch ih­ren er­schöpf­ten Kör­per – ein sanf­tes, zärt­li­ches und doch ent­sa­gungs­vol­les Glück durch­beb­te ihr In­ners­tes – sie war wür­dig be­fun­den, sei­ne Ge­gen­wart zu füh­len.

      *

      Auch Aga­thes El­tern, ihr Bru­der, ihr On­kel, und die Frau des Pre­di­gers, in des­sen Hau­se sie seit ei­ni­gen Mo­na­ten leb­te, nah­men das Abend­mahl, um sich in Lie­be dem Kin­de zu ver­bin­den. Da­rum hat­te der Geist­li­che zu­erst sei­ne länd­li­chen Kon­fir­man­den und de­ren An­ge­hö­ri­ge ab­sol­viert und dann die Toch­ter des Re­gie­rungs­ra­tes und ihre Fa­mi­lie zum Tisch des Herrn tre­ten las­sen. So stand denn Aga­the um­ge­ben von all de­nen, die ihr die nächs­ten wa­ren auf die­ser Welt.

      Gleich­gül­tig sa­hen die mür­ri­schen al­ten Bau­ern, die schläf­ri­gen Knech­te, voll Neu­gier aber die Päch­ter- und Taglöh­ner­frau­en dem Ge­ba­ren der Frem­den zu. Der statt­li­che Herr mit dem Or­den, der den ho­hen Hut im Arm trug, konn­te eine Be­we­gung in sei­nen Zü­gen trotz der wür­de­vol­len Hal­tung nicht ver­ber­gen. Er wand­te sei­nen Kopf zur Sei­te, um mit der Fin­ger­spit­ze eine leich­te Feuch­tig­keit von den Wim­pern zu ent­fer­nen. Das ver­merk­ten die Frau­en mit Ge­nug­tu­ung. Und dann weck­te das schwar­ze At­las­kleid und der Spit­ze­num­hang der Mut­ter lei­se ge­raun­te Be­wun­de­rung. Die Re­gie­rungs­rä­tin selbst je­doch hat­te die Emp­fin­dung, ihr Kleid wir­ke auf­dring­lich in die­ser be­schei­de­nen Um­ge­bung, und als sie zum Al­tar trat, hielt sie die Schlep­pe ängst­lich und ver­le­gen an sich ge­drückt, da­bei wein­te sie und seufz­te von Zeit zu Zeit tief und schmerz­lich. Als die Ge­mein­de den letz­ten Vers sang, stahlen sich ihre Fin­ger nach Aga­thes Hand und drück­ten sie krampf­haft. Kaum war der Got­tes­dienst zu Ende, so um­arm­te Frau Heid­ling ihre Toch­ter mit ei­ner Art von kum­mer­vol­ler Lei­den­schaft, die we­nig für die Ge­le­gen­heit zu pas­sen schi­en, und mur­mel­te meh­re­re Mal un­ter Trä­nen: mein Kind, mein sü­ßes, ge­lieb­tes Kind! – ohne mit ih­rem Se­gens­wunsch zu Ende ge­lan­gen zu kön­nen.

      Doch die be­weg­te Mut­ter durf­te das Kind nicht an ih­rem Her­zen be­hal­ten. Der Va­ter ver­lang­te nach ihr, On­kel Gu­stav, Bru­der Wal­ter, Frau Pas­tor Kand­ler – alle woll­ten ihre Glück­wün­sche dar­brin­gen. Ein je­der gab da­bei noch an der Kirch­tür dem Mäd­chen ein we­nig An­lei­tung, wie sie sich dem kom­men­den Le­ben ge­gen­über als er­wach­se­ner Mensch zu ver­hal­ten habe.

      Sie hör­te mit ver­klär­tem Lä­cheln auf dem ver­wein­ten Ge­sicht­chen alle die gol­de­nen Wor­te der Lie­be, der äl­te­ren Weis­heit. So schwach fühl­te sie sich, so hilfs­be­dürf­tig und so be­reit, je­der­mann zu Wil­len zu sein, al­les zu be­glücken, was in ihre Nähe kam. Sie war ja selbst jetzt so glück­lich!

      Ihr Bru­der, der Abi­tu­ri­ent, lief auf­merk­sam noch­mals in die Kir­che zu­rück, ihr ver­ges­se­nes Bou­quet zu ho­len, wäh­rend alle an­de­ren sich auf den Weg zum Pfarr­haus be­ga­ben. Aga­the war­te­te auf ihn, sah ihn dank­bar