die bei gesunder Veranlagung schnell vorübergeht. Das wissen wir ja alle aus Erfahrung!« Er legte das anstößige Buch beiseite und ging auf seinen Platz zurück.
»Wäre den Herrschaften nicht ein Stückchen Torte gefällig?« fragte die Pastorin freundlich.
Onkel Gustav ließ von einer Champagnerflasche, die er mit weitläufiger Feierlichkeit behandelte, weil sie seine Beisteuer zum Feste war, den Pfropfen mit einem Knall in die darüber gehaltene Gabel springen. Die beiden Pastorsjungen jauchzten über das Kunststück, der schäumende Wein floss in die Gläser, man erhob sich und stieß an. Der Schatten, den die blutdürstige Revolutionslust der Konfirmandin auf die Gesellschaft geworfen, war der alten, stillbewegten Heiterkeit gewichen. Nur in Agathes braunen Augen war noch etwas Sinnendes zurückgeblieben. Onkel Gustav klopfte dem Nichtchen begütigend die volle Wange und rief dabei mit seinem jovialen Lachen:
»Vorläufig doch mehr Blüte als Wurzel!«
Dann flüsterte er Agathe ins Ohr: »Dummes Ding – Geschenke von netten Vettern packt man doch nicht vor versammelter Tischgesellschaft aus!«
Leider war Onkel Gustav selber ein Familienschatten. Er hatte keine Grundsätze und brachte es deshalb auch zu nichts Rechtem in der Welt. So heiratete er z. B. eine Frau, die allerlei Abenteuer erlebt hatte und sich schließlich von einem Grafen entführen ließ. Das mochten ihm die Verwandten nicht verzeihen. Agathe hatte ihn trotzdem lieb. Er war so gut; bot sich die Gelegenheit, einem Menschen in kleinen oder großen Dingen zu helfen, so fand man ihn gewiss bereit. Was er sagte, konnte freilich nicht sehr ins Gewicht fallen. Agathe blieb nachdenklich.
»Alles ist Euer«, war ihr eben versichert worden, und gleich darauf nahm man ihr das Geschenk ihres liebsten Vetters fort, ohne sie auch nur zu fragen. Widerspruch wagte sie natürlich nicht. Sie hatte ja Gehorsam und demütige Unterwerfung gelobt für das ganze Leben.
*
Später, als die Erwachsenen in allen Sofaecken des Pfarrhauses ihr Verdauungsschläfchen hielten – man war ein bisschen heiß und müde geworden von dem reichlichen Mittagsmahl und dem Champagner – ging Agathe den breiten Gartenweg hinter dem Hause auf und nieder. Die Jungen hatten den Befehl erhalten, sie heute nicht zu stören und zum Spielen zu holen, wie sonst. Sie machten mit Walter einen Spaziergang. Die Pastorin half, ungesehen von den Gästen, der Magd in der Küche beim Tellerwaschen; von dorther tönte bisweilen ein Geklapper, sonst herrschte Stille in Hof und Garten. Agathe hörte mit heimlichem Vergnügen ihre seidene Schleppe über den Kies rauschen, hatte die Hände gefaltet und bat den lieben Gott, er möge ihr doch nur den Ärger aus dem Herzen nehmen. Es war doch zu schrecklich, dass sie heut, am Konfirmationstage, ihrem Pastor und ihrem Vater böse war! Hier fing gewiss die Selbstüberwindung und die Entsagung an. Sie war doch noch recht dumm! Ein so gefährliches Gift für schön zu halten … Der Anfang von Martins Lieblingsliede fiel ihr ein:
»Reißt die Kreuze aus der Erden.
Alle sollen Schwerter werden –
Gott im Himmel wirds verzeih’n.«
Ja, das war schon eine fürchterliche Stelle, und auf die war Onkel Kandler gewiss gerade gestoßen. Aber doch – es lag so eine Kühnheit darin – und dann wurde der liebe Gott ja doch auch besonders um Verzeihung gebeten. Das hatte Agathe immer sehr gefallen in dem Liede.
Aber so war es fortwährend: was einem gefiel, dem musste man misstrauen.
Sie blickte fragend und zweifelnd gerade in den hellblauen Frühlingshimmel hinauf. Kein Wölkchen zeigte sich daran, er war unendlich heiter, und die Sonne schien warm. Es gab noch fast keinen Schatten im Garten, die goldenen Strahlen konnten überall durch die Baumzweige auf die Erde niedertanzen. Und das Singen und Jubeln der Vögel hörte nicht auf.
Schade, dass sie morgen nach der Stadt zurück musste, gerade nun es hier so reizend wurde – täglich schöner! Seit gestern hatte sich alles schon wieder verändert. Busch und Strauch trugen nicht mehr das Grau des Winters – wie durchsichtige bunte Schleier lag es über dem Gezweig. Trat man näher und beugte sich herzu, so sah man, dass die Farbenschleier aus tausend und abertausend kleinen Knöspchen zusammengesetzt waren. Nein, aber wie süß! Agathe ging von einem zum anderen. Dunkelrot schimmerte es an den knorrigen Zweigen der Apfelbäume, die sich über den Weg streckten, grünweiß hoch oben an dem großen Birnbaum, und schneeig glänzte es schon von den losen Zweigen der sauren Kirschen. Bei den Kastanien streckten sich aus braunglänzenden klebrigen Kapseln wollige grüne Händchen neugierig heraus, und die Herlitze war ganz in helles Gelb getaucht. Der Flieder – die Hainbuche – jedes besaß seine eigene Form, seine besondere Farbe. Und das entfaltete sich hier still und fröhlich in Sonnenschein und Regen zu dem, was es werden sollte und wollte.
Die Pflanzen hatten es doch viel, viel besser als die Menschen, dachte Agathe seufzend. Niemand schalt sie – niemand war mit ihnen unzufrieden und gab ihnen gute Ratschläge. Die alten Stämme sahen dem Wachsen ihrer braunen, roten und grünen Knospenkinderchen ganz unbewegt und ruhig zu. Ob es ihnen wohl weh tat, wenn die Schnecken, die Raupen und die Insekten eine Menge von ihnen zerfraßen?
Agathe streichelte leise die borkige Rinde des alten Apfelbaumes.
Sollten die Vögel vielleicht das Ausschelten übernommen haben? Das war eine komische Vorstellung, Agathe kicherte ganz für sich allein darüber. Ach bewahre – die Vögel hatten um diese Zeit schon furchtbar viel mit ihrem großen Liebesglück zu tun. Ob es wohl auch Vögel gab, die eine unglückliche Liebe hatten? Na ja – die Nachtigall natürlich! Übrigens – ganz genau konnten das die Dichter auch nicht wissen.
Ach – wäre sie doch lieber ein Vögelchen geworden oder eine Blume!
Auf einem ganz schmalen Pfade ging Agathe endlich zum Mühlteich hinab. Er lag am Ende des Gartens, der sich vom Hause her in sanfter Senkung bis zu ihm streckte. Weil die Pastorsjungen beständig ins Wasser gefallen waren, hatte man den Weg zuwachsen lassen. Agathe musste die Gebüsche auseinanderbiegen, um hindurch zu schlüpfen. Sie wollte Abschied von dem Bänkchen nehmen, das unten, heimlich und traulich versteckt, am Rande des Weihers stand. Im vergangenen Herbst hatte sie viel dort gesessen und gelesen oder geträumt, auch in diesem Frühling schon, in warmen Mittagsstunden.
Am linken Ufer des stillen Sees, der weiter hinaus zu einem sumpfigen Rohrfeld verlief, lag die Mühle mit ihrem überhängenden Strohdach und dem großen Rade. In der Bucht am Pfarrgarten zeigten sich auf dem Wasser kleine Nymphäen-Blätter.