Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke


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die bei ge­sun­der Ver­an­la­gung schnell vor­über­geht. Das wis­sen wir ja alle aus Er­fah­rung!« Er leg­te das an­stö­ßi­ge Buch bei­sei­te und ging auf sei­nen Platz zu­rück.

      »Wäre den Herr­schaf­ten nicht ein Stück­chen Tor­te ge­fäl­lig?« frag­te die Pas­to­rin freund­lich.

      On­kel Gu­stav ließ von ei­ner Cham­pa­gner­fla­sche, die er mit weit­läu­fi­ger Fei­er­lich­keit be­han­del­te, weil sie sei­ne Bei­steu­er zum Fes­te war, den Pfrop­fen mit ei­nem Knall in die dar­über ge­hal­te­ne Ga­bel sprin­gen. Die bei­den Pas­tors­jun­gen jauchz­ten über das Kunst­stück, der schäu­men­de Wein floss in die Glä­ser, man er­hob sich und stieß an. Der Schat­ten, den die blut­dürs­ti­ge Re­vo­lu­ti­ons­lust der Kon­fir­man­din auf die Ge­sell­schaft ge­wor­fen, war der al­ten, still­be­weg­ten Hei­ter­keit ge­wi­chen. Nur in Aga­thes brau­nen Au­gen war noch et­was Sin­nen­des zu­rück­ge­blie­ben. On­kel Gu­stav klopf­te dem Nicht­chen be­gü­ti­gend die vol­le Wan­ge und rief da­bei mit sei­nem jo­via­len La­chen:

      »Vor­läu­fig doch mehr Blü­te als Wur­zel!«

      Dann flüs­ter­te er Aga­the ins Ohr: »Dum­mes Ding – Ge­schen­ke von net­ten Vet­tern packt man doch nicht vor ver­sam­mel­ter Tisch­ge­sell­schaft aus!«

      Lei­der war On­kel Gu­stav sel­ber ein Fa­mi­li­en­schat­ten. Er hat­te kei­ne Grund­sät­ze und brach­te es des­halb auch zu nichts Rech­tem in der Welt. So hei­ra­te­te er z. B. eine Frau, die al­ler­lei Aben­teu­er er­lebt hat­te und sich schließ­lich von ei­nem Gra­fen ent­füh­ren ließ. Das moch­ten ihm die Ver­wand­ten nicht ver­zei­hen. Aga­the hat­te ihn trotz­dem lieb. Er war so gut; bot sich die Ge­le­gen­heit, ei­nem Men­schen in klei­nen oder großen Din­gen zu hel­fen, so fand man ihn ge­wiss be­reit. Was er sag­te, konn­te frei­lich nicht sehr ins Ge­wicht fal­len. Aga­the blieb nach­denk­lich.

      »Al­les ist Euer«, war ihr eben ver­si­chert wor­den, und gleich dar­auf nahm man ihr das Ge­schenk ih­res liebs­ten Vet­ters fort, ohne sie auch nur zu fra­gen. Wi­der­spruch wag­te sie na­tür­lich nicht. Sie hat­te ja Ge­hor­sam und de­mü­ti­ge Un­ter­wer­fung ge­lobt für das gan­ze Le­ben.

      *

      Spä­ter, als die Er­wach­se­nen in al­len So­fae­cken des Pfarr­hau­ses ihr Ver­dau­ungs­schläf­chen hiel­ten – man war ein biss­chen heiß und müde ge­wor­den von dem reich­li­chen Mit­tags­mahl und dem Cham­pa­gner – ging Aga­the den brei­ten Gar­ten­weg hin­ter dem Hau­se auf und nie­der. Die Jun­gen hat­ten den Be­fehl er­hal­ten, sie heu­te nicht zu stö­ren und zum Spie­len zu ho­len, wie sonst. Sie mach­ten mit Wal­ter einen Spa­zier­gang. Die Pas­to­rin half, un­ge­se­hen von den Gäs­ten, der Magd in der Kü­che beim Tel­ler­wa­schen; von dort­her tön­te bis­wei­len ein Ge­klap­per, sonst herrsch­te Stil­le in Hof und Gar­ten. Aga­the hör­te mit heim­li­chem Ver­gnü­gen ihre sei­de­ne Schlep­pe über den Kies rau­schen, hat­te die Hän­de ge­fal­tet und bat den lie­ben Gott, er möge ihr doch nur den Är­ger aus dem Her­zen neh­men. Es war doch zu schreck­lich, dass sie heut, am Kon­fir­ma­ti­ons­ta­ge, ih­rem Pas­tor und ih­rem Va­ter böse war! Hier fing ge­wiss die Selb­st­über­win­dung und die Ent­sa­gung an. Sie war doch noch recht dumm! Ein so ge­fähr­li­ches Gift für schön zu hal­ten … Der An­fang von Mar­tins Lieb­lings­lie­de fiel ihr ein:

       »Reißt die Kreu­ze aus der Er­den.

       Alle sol­len Schwer­ter wer­den –

       Gott im Him­mel wirds ver­zeih’n.«

      Ja, das war schon eine fürch­ter­li­che Stel­le, und auf die war On­kel Kand­ler ge­wiss ge­ra­de ge­sto­ßen. Aber doch – es lag so eine Kühn­heit dar­in – und dann wur­de der lie­be Gott ja doch auch be­son­ders um Ver­zei­hung ge­be­ten. Das hat­te Aga­the im­mer sehr ge­fal­len in dem Lie­de.

      Aber so war es fort­wäh­rend: was ei­nem ge­fiel, dem muss­te man miss­trau­en.

      Sie blick­te fra­gend und zwei­felnd ge­ra­de in den hell­blau­en Früh­lings­him­mel hin­auf. Kein Wölk­chen zeig­te sich dar­an, er war un­end­lich hei­ter, und die Son­ne schi­en warm. Es gab noch fast kei­nen Schat­ten im Gar­ten, die gol­de­nen Strah­len konn­ten über­all durch die Baum­zwei­ge auf die Erde nie­der­tan­zen. Und das Sin­gen und Ju­beln der Vö­gel hör­te nicht auf.

      Scha­de, dass sie mor­gen nach der Stadt zu­rück muss­te, ge­ra­de nun es hier so rei­zend wur­de – täg­lich schö­ner! Seit ges­tern hat­te sich al­les schon wie­der ver­än­dert. Busch und Strauch tru­gen nicht mehr das Grau des Win­ters – wie durch­sich­ti­ge bun­te Schlei­er lag es über dem Ge­zweig. Trat man nä­her und beug­te sich her­zu, so sah man, dass die Far­ben­schlei­er aus tau­send und aber­tau­send klei­nen Knösp­chen zu­sam­men­ge­setzt wa­ren. Nein, aber wie süß! Aga­the ging von ei­nem zum an­de­ren. Dun­kel­rot schim­mer­te es an den knor­ri­gen Zwei­gen der Ap­fel­bäu­me, die sich über den Weg streck­ten, grün­weiß hoch oben an dem großen Birn­baum, und schne­eig glänz­te es schon von den lo­sen Zwei­gen der sau­ren Kir­schen. Bei den Kas­ta­ni­en streck­ten sich aus braunglän­zen­den kleb­ri­gen Kap­seln wol­li­ge grü­ne Händ­chen neu­gie­rig her­aus, und die Her­lit­ze war ganz in hel­les Gelb ge­taucht. Der Flie­der – die Hain­bu­che – je­des be­saß sei­ne ei­ge­ne Form, sei­ne be­son­de­re Far­be. Und das ent­fal­te­te sich hier still und fröh­lich in Son­nen­schein und Re­gen zu dem, was es wer­den soll­te und woll­te.

      Die Pflan­zen hat­ten es doch viel, viel bes­ser als die Men­schen, dach­te Aga­the seuf­zend. Nie­mand schalt sie – nie­mand war mit ih­nen un­zu­frie­den und gab ih­nen gute Ratschlä­ge. Die al­ten Stäm­me sa­hen dem Wach­sen ih­rer brau­nen, ro­ten und grü­nen Knos­pen­kin­der­chen ganz un­be­wegt und ru­hig zu. Ob es ih­nen wohl weh tat, wenn die Schne­cken, die Rau­pen und die In­sek­ten eine Men­ge von ih­nen zer­fra­ßen?

      Aga­the strei­chel­te lei­se die bor­ki­ge Rin­de des al­ten Ap­fel­bau­mes.

      Soll­ten die Vö­gel viel­leicht das Aus­schel­ten über­nom­men ha­ben? Das war eine ko­mi­sche Vor­stel­lung, Aga­the ki­cher­te ganz für sich al­lein dar­über. Ach be­wah­re – die Vö­gel hat­ten um die­se Zeit schon furcht­bar viel mit ih­rem großen Lie­bes­glück zu tun. Ob es wohl auch Vö­gel gab, die eine un­glück­li­che Lie­be hat­ten? Na ja – die Nach­ti­gall na­tür­lich! Üb­ri­gens – ganz ge­nau konn­ten das die Dich­ter auch nicht wis­sen.

      Ach – wäre sie doch lie­ber ein Vö­gel­chen ge­wor­den oder eine Blu­me!

      Auf ei­nem ganz schma­len Pfa­de ging Aga­the end­lich zum Mühl­teich hin­ab. Er lag am Ende des Gar­tens, der sich vom Hau­se her in sanf­ter Sen­kung bis zu ihm streck­te. Weil die Pas­tors­jun­gen be­stän­dig ins Was­ser ge­fal­len wa­ren, hat­te man den Weg zu­wach­sen las­sen. Aga­the muss­te die Ge­bü­sche aus­ein­an­der­bie­gen, um hin­durch zu schlüp­fen. Sie woll­te Ab­schied von dem Bänk­chen neh­men, das un­ten, heim­lich und trau­lich ver­steckt, am Ran­de des Wei­hers stand. Im ver­gan­ge­nen Herbst hat­te sie viel dort ge­ses­sen und ge­le­sen oder ge­träumt, auch in die­sem Früh­ling schon, in war­men Mit­tags­stun­den.

      Am lin­ken Ufer des stil­len Sees, der wei­ter hin­aus zu ei­nem sump­fi­gen Rohr­feld ver­lief, lag die Müh­le mit ih­rem über­hän­gen­den Stroh­dach und dem großen Rade. In der Bucht am Pfarr­gar­ten zeig­ten sich auf dem Was­ser klei­ne Nym­phä­en-Blät­ter.