Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke


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Grund­la­ge der Rede bil­de­te das Bi­bel­wort: Al­les ist euer – ihr aber seid Chris­ti. Pas­tor Kand­ler such­te in sei­ner Fan­ta­sie nach ei­ner na­tur­wah­ren Be­schrei­bung der Freu­den, die das Le­ben ei­ner mo­der­nen jun­gen Dame der fei­nen bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft ihr zu bie­ten habe: in der Fa­mi­lie, im Ver­kehr mit Al­ters­ge­nos­sin­nen, durch Na­tur, Kunst­be­stre­bun­gen und Lek­tü­re. Er deu­te­te auch an­de­re Glück­se­lig­kei­ten an, die ih­rer war­te­ten – denn es war nun ein­mal der Lauf der Welt – hold, un­schul­dig, wie sie da vor ihm saß, das lie­be Kind, in ih­rem schwarz­sei­de­nen Kleid­chen, die brau­nen Au­gen aus dem wei­chen, hel­len Ge­sicht­chen an­däch­tig auf ihn ge­rich­tet – wie bald konn­te sie Braut sein. Al­les ist Euer!

      Aber wie soll die­ses »Al­les« be­nutzt wer­den? Be­sit­zet, als be­sä­ßet Ihr nicht – ge­nie­ßet, als ge­nös­set Ihr nicht! – Auch der Tanz – auch das Thea­ter sind er­laubt, aber der Tanz ge­sch­ehe in Ehren, das Ver­gnü­gen an der Kunst be­schrän­ke sich auf die rei­ne, gott­ge­weih­te Kunst. Bil­dung ist nicht zu ver­ach­ten – doch hüte Dich, mein Kind, vor der mo­der­nen Wis­sen­schaft, die zu Zwei­feln, zum Un­glau­ben führt. Zü­g­le Dei­ne Fan­ta­sie, dass sie Dir nicht un­züch­ti­ge Bil­der vor­spie­ge­le! Lie­be – Lie­be – Lie­be sei Dein gan­zes Le­ben – aber die Lie­be blei­be frei von Selbst­sucht, be­geh­re nicht das ihre. Du darfst nach Glück ver­lan­gen – Du darfst auch glück­lich sein – aber in be­rech­tig­ter Wei­se … denn Du bist Chris­ti Nach­fol­ge­rin, und Chris­tus starb am Kreuz! Nur wer das Ir­di­sche ganz über­wun­den hat, wird durch die dor­nen­um­säum­te Pfor­te ein­ge­hen zur ewi­gen Freu­de – zur Hoch­zeit des Lam­mes!

      Aga­the muss­te wie­der sehr wei­nen. Aufs Neue er­fass­te sie das ängs­ti­gen­de Be­wusst­sein, wel­ches sie durch alle Kon­fir­man­den­stun­den be­glei­te­te, ohne dass sie es ih­rem Seel­sor­ger zu ge­ste­hen wag­te: sie be­griff durch­aus nicht, wie sie es an­zu­stel­len habe, um zu ge­nie­ßen, als ge­nös­se sie nicht. Oft schon hat­te sie sich Mühe ge­ge­ben, dem Wor­te zu fol­gen. Wenn sie sich mit den Pas­tors­jun­gen im Gar­ten schnee­ball­te, ver­such­te sie, da­bei an Je­sum zu den­ken. Aber be­dräng­ten die Jun­gen sie or­dent­lich, und sie muss­te sich nach al­len Sei­ten weh­ren, und die Lust wur­de so recht toll – dann ver­gaß sie den Hei­land ganz und gar. – Schmeck­te ihr das Es­sen recht gut – und sie hat­te jetzt im­mer einen aus­ge­zeich­ne­ten Ap­pe­tit – soll­te sie da tun, als ob es ihr nicht schmeck­te? Aber das wäre ja eine Lüge ge­we­sen.

      Wahr­schein­lich hat­te sie das Ge­heim­nis des Spru­ches noch gar nicht ver­stan­den. Ach – sie fühl­te sich der Ge­mein­schaft ge­reif­ter Chris­ten recht un­wür­dig! Aber es war doch wun­der­hübsch, nun kon­fir­miert zu sein – und es war auch an der Zeit, sie wur­de doch schon sieb­zehn Jah­re alt.

      Hat­te der Pas­tor dem Kin­de sei­ne Verant­wor­tung als Him­mels­bür­ge­rin klar zu ma­chen ge­sucht, so be­gann der Va­ter Aga­the nun die Pf­lich­ten der Staats­bür­ge­rin vor­zu­hal­ten.

      Denn das Weib, die Mut­ter künf­ti­ger Ge­schlech­ter, die Grün­de­rin der Fa­mi­lie, ist ein wich­ti­ges Glied der Ge­sell­schaft, wenn sie sich ih­rer Stel­lung als un­schein­ba­rer, ver­bor­ge­ner Wur­zel recht be­wusst bleibt.

      Der Re­gie­rungs­rat Heid­ling stell­te gern all­ge­mei­ne, große Ge­sichts­punk­te auf. Sein Gleich­nis ge­fiel ihm.

      »Die Wur­zel, die stum­me, ge­dul­di­ge, un­be­weg­li­che, wel­che kein ei­ge­nes Le­ben zu ha­ben scheint und doch den Baum der Mensch­heit trägt …«

      In die­sem Au­gen­blick wur­de noch ein Ge­schenk für Aga­the ab­ge­ge­ben. Der Land­brief­trä­ger hat­te es als Dank für das am Mor­gen er­hal­te­ne reich­li­che Trink­geld trotz des Fei­er­ta­ges von der klei­nen Bahn­sta­ti­on her­über­ge­bracht.

      »Ach nein! – Das schickt Mani!« sag­te Aga­the und wur­de rot. »Er hat­te es ver­spro­chen, aber ich dach­te, er wür­de es ver­ges­sen.«

      »Dein Vet­ter Mar­tin, von dem Du so viel er­zählst?« er­kun­dig­te sich die Pas­to­rin neu­gie­rig.

      Aga­the nick­te, in glück­li­chen Erin­ne­run­gen ver­stum­mend.

      Her­weg­hs Ge­dich­te. – – Und die Som­mer­fe­ri­en bei On­kel Au­gust in Bor­nau – der son­nen­be­schie­ne­ne Ra­sen, auf dem sie ge­le­gen und für die glü­hen­den Ver­se ge­schwärmt hat­te, die Mar­tin so pracht­voll de­kla­mie­ren konn­te … Wie sie sich mit ihm be­geis­ter­te für Frei­heit und Bar­ri­ka­den­kämp­fe und rote Müt­zen – für Dan­ton und Ro­bert Blum … Aga­the schwärm­te da­zwi­schen auch für Bar­ba­ros­sa und sein end­li­ches Er­wa­chen …

      Sie hat­te Mar­tin seit­dem noch nicht wie­der­ge­se­hen. Er diente jetzt sein Jahr. Ach, der gute, lie­be Jun­ge.

      Aga­the war zu be­schäf­tigt, das Buch auf­zu­schla­gen und ihre Lieb­lings­stel­len nach­zu­le­sen, um zu be­mer­ken, dass eine pein­li­che Stil­le am Ti­sche ent­stan­den war.

      Als sie em­por­sah, be­geg­ne­te ihr Blick dem von ver­hal­te­nem La­chen ins Brei­te ge­zo­ge­nen Ge­sicht von On­kel Gu­stav, der sich eif­rig mit dem Öff­nen ei­ner Cham­pa­gner­fla­sche be­schäf­tig­te. Pas­tor Kand­ler stand auf, ging schwei­gend um den Tisch her­um und nahm ihr den Her­wegh aus der Hand. Er trat zu dem Re­gie­rungs­rat und zeig­te ihm hier und da eine Stel­le. Bei­de Her­ren mach­ten erns­te Mie­nen. Es lag et­was Un­an­ge­neh­mes in der Luft.

      »Dass der Ben­gel noch so dumm wäre, hät­te ich ihm doch nicht zu­ge­traut«, brach der Re­gie­rungs­rat är­ger­lich los.

      »Mein lie­bes Kind«, sag­te Pas­tor Kand­ler be­schwich­ti­gend zu Aga­the, »ich den­ke, wir he­ben Dir das Buch auf und bit­ten Vet­ter Mar­tin, es ge­gen ein an­de­res um­zut­au­schen. Es gibt ja so vie­le schö­ne Lie­der, die für jun­ge Mäd­chen ge­eig­ne­ter sind und Dir bes­ser ge­fal­len wer­den.«

      Aga­the war ganz blass ge­wor­den.

      »Ich hat­te mir Her­weg­hs Ge­dich­te ge­wünscht«, stieß sie ehr­lich her­aus.

      »Du kann­test wohl das Buch nicht?« frag­te ihr Va­ter mit der­sel­ben be­ängs­ti­gen­den Mil­de, die des Pas­tors Vor­schlag be­glei­te­te. Man woll­te sie an ih­rem Kon­fir­ma­ti­ons­ta­ge scho­nen, aber es war si­cher – sie hat­te et­was Schreck­li­ches ge­tan!

      »Doch!« sag­te sie ei­lig und lei­se und setz­te noch schüch­ter­ner hin­zu: »Ich fand sie schön!«

      »Du wirst ei­ni­ge ge­kannt ha­ben«, ent­schul­dig­te Pas­tor Kand­ler. Sein Blick haf­te­te ein­dring­lich auf ihr. Soll­te das sanf­te Kind ihn mit ih­rer in­ni­gen Hin­ga­be an das Chris­ten­tum ge­täuscht ha­ben? Wo­her plötz­lich die­ser Geist des Aufruhrs?

      »Was ge­fiel Dir denn be­son­ders an die­sen Ge­dich­ten?« prüf­te er vor­sich­tig.

      »Die Spra­che ist so wun­der­schön«, flüs­ter­te das Mäd­chen ver­le­gen.

      »Hast Du Dir nie klar ge­macht, dass die­se Ver­se mit man­chem, was ich Dich zu leh­ren ver­such­te, in Wi­der­spruch ste­hen?«

      »Nein – ich dach­te, man soll­te für sei­ne Über­zeu­gung kämp­fen und ster­ben!«

      »Ge­wiss,