Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke


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stieg über den Zaun und kam her­aus in den Wald, wo sie saß und las, wäh­rend der Pro­fes­sor aus Zü­rich vorn in der Ve­ran­da auf ihn war­te­te, um sich mit ihm zu un­ter­hal­ten?

      Nun – Gott sei Dank – sie war nicht ver­liebt in ihn. Sie sah gern auf sei­ne Hän­de, wenn er die Wor­te mit aus­drucks­vol­len Be­we­gun­gen be­glei­te­te. Es freu­te sie, dass er gut­ge­pfleg­te wei­ße Hän­de be­saß, die da­bei kräf­tig und männ­lich wa­ren. Aber das konn­te man doch nicht Ver­liebt­heit nen­nen.

      Sie prüf­te sich ehr­lich.

      Ganz ge­wiss nicht? Un­ter kei­nen Um­stän­den? – Sie war doch noch wi­der­stands­fä­hig! Glück­li­cher­wei­se.

      Es han­del­te sich jetzt auch um ganz an­de­re Din­ge als um Lie­be.

      *

      Wie sich die Be­zie­hun­gen zu Mar­tin durch ihr gan­zes Le­ben zo­gen.

      Das ers­te kin­di­sche Wohl­ge­fal­len und Seh­nen, es hat­te ihm ge­gol­ten, wenn sie es sich auch da­mals nicht zu­ge­stand.

      Die ers­te Prü­fung ih­rer jun­gen, sprö­den Tu­gend – von ihm.

      Die große Lei­den­schaft hat­te sie aus­ein­an­der­ge­ris­sen – zur sel­ben Zeit die glei­chen Schmer­zen ih­nen bei­den.

      Und dann der ein­sa­me Kampf, sich auf­recht zu hal­ten: er drau­ßen in wil­den Wet­tern und Stür­men die See­le ge­wei­tet und be­freit – sie da­heim im en­gen Raum die See­le wund­ge­sto­ßen und zer­mürbt.

      O – es war et­was weit Hö­he­res als Lie­be, das sie jetzt zu­sam­men­führ­te.

      Nichts von al­le­dem, was sie von Mar­tin er­war­tet und ge­fürch­tet, war aus ihm ge­wor­den. Kein Volks­ver­füh­rer und Auf­wieg­ler zu wil­den Ta­ten – kein Ver­schwö­rer und Bom­ben­wer­fer – und auch kein fei­ge und vor­sich­tig zum Al­ten Zu­rück­krie­chen­der – kein mü­der Ent­sa­ger.

      Nur ein frei­er Mensch war er ge­wor­den. Wei­ter nichts.

      Und was das hei­ßen woll­te – ein frei­er Mensch. Wel­che Kluft zwi­schen ei­ner ganz auf sich ge­stell­ten Per­sön­lich­keit, die nach ei­ge­nem Ge­setz und ei­ge­ner Wahl das ei­ge­ne Le­ben führt, und den Krei­sen ih­rer Ge­sell­schaft! An sol­chem Maß ge­mes­sen – be­saß jede Tat, je­der Ge­dan­ke ih­res Da­seins über­haupt noch Wert? Das ahn­te sie nun erst. Es war ein schau­dern­des Auf­wa­chen mit un­ge­dul­di­gem Flü­gel­schla­gen ih­rer See­le.

      Wie reif und fest und ru­hig er ge­wor­den, fiel Aga­the be­son­ders auf, wenn sie ihn im Ver­kehr mit dem Va­ter be­ob­ach­te­te. Nichts mehr von dem zor­ni­gen Auf­trump­fen. Zwar such­te Mar­tin kein län­ge­res Zu­sam­men­sein mit dem On­kel. Und der Froh­sinn, die Ju­gend­lich­keit sei­nes We­sens tra­ten nur her­vor, so­bald er al­lein mit Aga­the in die Ber­ge wan­der­te. Aber er wuss­te un­ge­fähr­li­che Ge­sprächss­tof­fe zu fin­den. Er ver­stand auch zu schwei­gen bei den sen­ten­zi­ösen Aus­fäl­len des Re­gie­rungs­rats ge­gen die Im­mo­ra­li­tät und die man­geln­de Idea­li­tät der jun­gen Ge­ne­ra­ti­on.

      »Du musst es mir hoch an­rech­nen, dass ich hier­blei­be«, sag­te er ein­mal zu Aga­the. »Aber ich habe noch viel zu tun, bis ich alle Rau­pen aus die­sem dum­men, klei­nen Mäd­chen­kopf her­aus­ha­be. Ich Rau­pen­tö­ter!

      Wenn Du nur ernst­lich woll­test!«

      »Ich will ja, Mar­tin.«

      »Willst Du wirk­lich? Ach – ich gebe mir ganz um­sonst Mühe mit Dir. Schließ­lich bist Du auch wie die an­de­ren alle.«

      »Wenn Du das glaubst, warum gibst Du Dir da Mühe?«

      »Ja, das fra­ge ich mich selbst! Ei­nes Mor­gens gehe ich doch auf und da­von.«

      *

      End­lich mach­te er ihr den Vor­schlag, den Va­ter al­lein heim­rei­sen zu las­sen und in der Schweiz zu blei­ben – bei ihm in Zü­rich. Sie sol­le sich dort ein Zim­mer neh­men. Er habe eine Ar­beit, bei der sie ihm hel­fen kön­ne. Das heißt, wenn es ihr zu­sag­te. Denn falls sie ihre Kräf­te al­lein er­pro­ben wol­le, so ste­he ihr das na­tür­lich frei. Nur kei­nen Zwang – kei­ne ge­gen­sei­ti­gen Rück­sich­ten.

      Be­stürzt saß Aga­the ihm ge­gen­über, die Au­gen ge­senkt, ihre Hand­ar­beit im Scho­ße ru­hend, die Fin­ger ge­gen­ein­an­der ge­presst, mit ei­nem in­nern Er­zit­tern. Was mein­te er? – Was be­deu­te­te sein Aner­bie­ten?

      Er brach­te es mit ei­ner so ru­hi­gen Stim­me vor.

      Wuss­te er nicht, dass er ihr et­was Un­ge­heu­res zu­mu­te­te?

      Er hat­te nach­ge­dacht. Das ging aus der Si­cher­heit her­vor, in der er auch auf die prak­ti­sche Sei­te zu re­den kam.

      Er wis­se ein Re­stau­rant mit gu­ter Haus­manns­kost. Dort ver­kehr­ten vie­le Stu­den­tin­nen, tüch­ti­ge Mäd­chen, die das Le­ben ernst nah­men, von de­nen die eine oder die an­de­re ihr ge­fal­len wür­de.

      Was ihr Un­ter­halt zu Haus kos­te­te, wür­de ihr Va­ter ihr doch nicht ver­wei­gern?

      »O Mar­tin – das wür­de er auf je­den Fall. Er wür­de ja au­ßer sich sein!«

      »Ja – ohne Kämp­fe geht so ein Schritt nicht ab. Sieht er, dass Dein Ent­schluss un­er­schüt­ter­lich fest steht, wird er schon nach­ge­ben. Sprich vor­läu­fig nur von ei­nem Jahr, mei­net­we­gen nur von ei­nem Win­ter!«

      Aga­the schwieg.

      … Ohne Un­ter­halt wür­de ihr Va­ter sie am Ende nicht las­sen. Er nahm zu viel Rück­sicht auf das Ur­teil der Men­schen und war ge­wohnt, har­te Tat­sa­chen zu ver­schlei­ern.

      Aber fühl­te Mar­tin nicht, dass er selbst – sei­ne Ge­gen­wart in Zü­rich den größ­ten An­stoß er­re­gen muss­te?

      Wie merk­wür­dig, dass er’s nicht fühl­te … Sie konn­te ihn doch un­mög­lich dar­auf hin­wei­sen?

      Der Schritt war ein Bruch mit al­lem Vor­her­ge­gan­ge­nen. War er ge­tan, so gab es kei­ne Rück­kehr nach Haus – we­nigs­tens kei­ne in­ne­re Rück­kehr.

      Woll­te sie denn über­haupt Rück­kehr? Si­cher nicht.

      »Dein Va­ter ist ja nicht krank. Wür­dest Du hei­ra­ten, müss­te er sich auch be­hel­fen!«

      »Da­rin hast Du Recht!«

      »Du brauchst Dich in die­ser (Stun­de nicht zu ent­schei­den. Aber tue es bald. Und dann schnell ge­han­delt! Nicht erst noch zu­rück in die al­ten Ver­hält­nis­se.«

      Er war doch stark er­regt. Sie sah es, als er auf­stand von der Bank, auf der er an lan­gem Bret­ter­tisch ihr ge­gen­über ge­ses­sen und die Wir­tin rief, um Wein und Brot zu be­zah­len.

      Schwei­gend kehr­ten sie heim, einen wei­ten Weg über fahl­grü­ne, schwer­duf­ten­de Mat­ten, auf de­nen der Son­nenglanz flim­mer­te. Mar­tins Au­gen wa­ren tief ernst, sein Blick in sich ge­kehrt, sein Ant­litz ohne Freund­lich­keit. Zu­wei­len hob Aga­the den Kopf und be­frag­te stumm sein Pro­fil. Aber er ging schwei­gend vor­an. Er hat­te ge­spro­chen – sie muss­te wäh­len.

      Nur noch einen auf­mun­tern­den, über­re­den­den Blick!

      Sie fürch­te­te sich vor ihm.

      Oft