stieg über den Zaun und kam heraus in den Wald, wo sie saß und las, während der Professor aus Zürich vorn in der Veranda auf ihn wartete, um sich mit ihm zu unterhalten?
Nun – Gott sei Dank – sie war nicht verliebt in ihn. Sie sah gern auf seine Hände, wenn er die Worte mit ausdrucksvollen Bewegungen begleitete. Es freute sie, dass er gutgepflegte weiße Hände besaß, die dabei kräftig und männlich waren. Aber das konnte man doch nicht Verliebtheit nennen.
Sie prüfte sich ehrlich.
Ganz gewiss nicht? Unter keinen Umständen? – Sie war doch noch widerstandsfähig! Glücklicherweise.
Es handelte sich jetzt auch um ganz andere Dinge als um Liebe.
*
Wie sich die Beziehungen zu Martin durch ihr ganzes Leben zogen.
Das erste kindische Wohlgefallen und Sehnen, es hatte ihm gegolten, wenn sie es sich auch damals nicht zugestand.
Die erste Prüfung ihrer jungen, spröden Tugend – von ihm.
Die große Leidenschaft hatte sie auseinandergerissen – zur selben Zeit die gleichen Schmerzen ihnen beiden.
Und dann der einsame Kampf, sich aufrecht zu halten: er draußen in wilden Wettern und Stürmen die Seele geweitet und befreit – sie daheim im engen Raum die Seele wundgestoßen und zermürbt.
O – es war etwas weit Höheres als Liebe, das sie jetzt zusammenführte.
Nichts von alledem, was sie von Martin erwartet und gefürchtet, war aus ihm geworden. Kein Volksverführer und Aufwiegler zu wilden Taten – kein Verschwörer und Bombenwerfer – und auch kein feige und vorsichtig zum Alten Zurückkriechender – kein müder Entsager.
Nur ein freier Mensch war er geworden. Weiter nichts.
Und was das heißen wollte – ein freier Mensch. Welche Kluft zwischen einer ganz auf sich gestellten Persönlichkeit, die nach eigenem Gesetz und eigener Wahl das eigene Leben führt, und den Kreisen ihrer Gesellschaft! An solchem Maß gemessen – besaß jede Tat, jeder Gedanke ihres Daseins überhaupt noch Wert? Das ahnte sie nun erst. Es war ein schauderndes Aufwachen mit ungeduldigem Flügelschlagen ihrer Seele.
Wie reif und fest und ruhig er geworden, fiel Agathe besonders auf, wenn sie ihn im Verkehr mit dem Vater beobachtete. Nichts mehr von dem zornigen Auftrumpfen. Zwar suchte Martin kein längeres Zusammensein mit dem Onkel. Und der Frohsinn, die Jugendlichkeit seines Wesens traten nur hervor, sobald er allein mit Agathe in die Berge wanderte. Aber er wusste ungefährliche Gesprächsstoffe zu finden. Er verstand auch zu schweigen bei den sentenziösen Ausfällen des Regierungsrats gegen die Immoralität und die mangelnde Idealität der jungen Generation.
»Du musst es mir hoch anrechnen, dass ich hierbleibe«, sagte er einmal zu Agathe. »Aber ich habe noch viel zu tun, bis ich alle Raupen aus diesem dummen, kleinen Mädchenkopf heraushabe. Ich Raupentöter!
Wenn Du nur ernstlich wolltest!«
»Ich will ja, Martin.«
»Willst Du wirklich? Ach – ich gebe mir ganz umsonst Mühe mit Dir. Schließlich bist Du auch wie die anderen alle.«
»Wenn Du das glaubst, warum gibst Du Dir da Mühe?«
»Ja, das frage ich mich selbst! Eines Morgens gehe ich doch auf und davon.«
*
Endlich machte er ihr den Vorschlag, den Vater allein heimreisen zu lassen und in der Schweiz zu bleiben – bei ihm in Zürich. Sie solle sich dort ein Zimmer nehmen. Er habe eine Arbeit, bei der sie ihm helfen könne. Das heißt, wenn es ihr zusagte. Denn falls sie ihre Kräfte allein erproben wolle, so stehe ihr das natürlich frei. Nur keinen Zwang – keine gegenseitigen Rücksichten.
Bestürzt saß Agathe ihm gegenüber, die Augen gesenkt, ihre Handarbeit im Schoße ruhend, die Finger gegeneinander gepresst, mit einem innern Erzittern. Was meinte er? – Was bedeutete sein Anerbieten?
Er brachte es mit einer so ruhigen Stimme vor.
Wusste er nicht, dass er ihr etwas Ungeheures zumutete?
Er hatte nachgedacht. Das ging aus der Sicherheit hervor, in der er auch auf die praktische Seite zu reden kam.
Er wisse ein Restaurant mit guter Hausmannskost. Dort verkehrten viele Studentinnen, tüchtige Mädchen, die das Leben ernst nahmen, von denen die eine oder die andere ihr gefallen würde.
Was ihr Unterhalt zu Haus kostete, würde ihr Vater ihr doch nicht verweigern?
»O Martin – das würde er auf jeden Fall. Er würde ja außer sich sein!«
»Ja – ohne Kämpfe geht so ein Schritt nicht ab. Sieht er, dass Dein Entschluss unerschütterlich fest steht, wird er schon nachgeben. Sprich vorläufig nur von einem Jahr, meinetwegen nur von einem Winter!«
Agathe schwieg.
… Ohne Unterhalt würde ihr Vater sie am Ende nicht lassen. Er nahm zu viel Rücksicht auf das Urteil der Menschen und war gewohnt, harte Tatsachen zu verschleiern.
Aber fühlte Martin nicht, dass er selbst – seine Gegenwart in Zürich den größten Anstoß erregen musste?
Wie merkwürdig, dass er’s nicht fühlte … Sie konnte ihn doch unmöglich darauf hinweisen?
Der Schritt war ein Bruch mit allem Vorhergegangenen. War er getan, so gab es keine Rückkehr nach Haus – wenigstens keine innere Rückkehr.
Wollte sie denn überhaupt Rückkehr? Sicher nicht.
»Dein Vater ist ja nicht krank. Würdest Du heiraten, müsste er sich auch behelfen!«
»Darin hast Du Recht!«
»Du brauchst Dich in dieser (Stunde nicht zu entscheiden. Aber tue es bald. Und dann schnell gehandelt! Nicht erst noch zurück in die alten Verhältnisse.«
Er war doch stark erregt. Sie sah es, als er aufstand von der Bank, auf der er an langem Brettertisch ihr gegenüber gesessen und die Wirtin rief, um Wein und Brot zu bezahlen.
Schweigend kehrten sie heim, einen weiten Weg über fahlgrüne, schwerduftende Matten, auf denen der Sonnenglanz flimmerte. Martins Augen waren tief ernst, sein Blick in sich gekehrt, sein Antlitz ohne Freundlichkeit. Zuweilen hob Agathe den Kopf und befragte stumm sein Profil. Aber er ging schweigend voran. Er hatte gesprochen – sie musste wählen.
Nur noch einen aufmunternden, überredenden Blick!
Sie fürchtete sich vor ihm.
Oft