Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke


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      »Ja – die arme Aga­the …« Der alte Herr blick­te sei­ne Schwie­ger­toch­ter ver­stört und be­küm­mert an. »Kannst Du Dir das vor­stel­len – den gan­zen Tag sitzt sie und weint – aber den gan­zen Tag! Und will man sie be­ru­hi­gen, dann ge­rät sie in eine Hef­tig­keit – ich habe gar nicht ge­glaubt, dass sie so zor­nig wer­den könn­te. Ich weiß über­haupt nicht mehr, wie ich das Mäd­chen be­han­deln soll. Ich. bin ganz am Ende mit mei­ner Klug­heit … Mit Mar­tin, für den sie doch eine ent­schie­de­ne Vor­lie­be zeig­te, hat sie sich auch über­wor­fen – je­den­falls – denn er ist plötz­lich ab­ge­reist.«

      Der Re­gie­rungs­rat er­griff Eu­ge­nies Hän­de, die Trä­nen lie­fen ihm in den Bart.

      »Sei mir nicht böse … die wei­te Rei­se … Ich dach­te, wenn Du – Ihr seid doch im­mer so gute Freun­din­nen ge­we­sen. Wenn Du mal mit ihr sprä­chest! Es muss et­was … Du hast ja kei­ne Ah­nung, wie das arme Kind aus­sieht.«

      »Na ja, Pa­pa­chen, das wol­len wir schon ma­chen. In der Fa­mi­lie bringt man ja gern Op­fer. Das über­lass mir nur al­les. Ich will Aga­the schon wie­der zur Rai­son brin­gen.«

      Als Aga­the ihre Schwä­ge­rin er­blick­te, ver­fiel sie in einen Wein­krampf.

      Der Re­gie­rungs­rat lief nach ei­nem Dok­tor. Und der Dok­tor er­klär­te: die Pa­ti­en­tin wäre sehr ner­vös und auch sehr bleich­süch­tig. Die Bleich­sucht käme von der Ner­ven­über­rei­zung, und die Ner­ven­über­rei­zung habe ih­ren Grund in der Blut­ar­mut. Es müs­se et­was für die Ner­ven ge­sche­hen und et­was für die Bleich­sucht – üb­ri­gens wür­de ein biss­chen Stahl die Sa­che schon wie­der in Ord­nung brin­gen.

      »Weißt Du, Papa«, sag­te Eu­ge­nie, »ich soll auch ein biss­chen Stahl trin­ken – da neh­me ich Aga­the mit nach Röh­ren – das wird jetzt so sehr ge­rühmt. Lis­beth Wend­ha­gen ist auch dort – es soll von ei­nem vor­züg­li­chen Arzt ge­lei­tet wer­den. Dann las­se ich Wölf­chen hin­kom­men, der Jun­ge sieht nach dem Schar­lach im­mer noch so mie­se­rig aus. Und wir amü­sie­ren uns himm­lisch mit­ein­an­der! – Gott – der Mensch hat im­mer mal so Zei­ten, wo ihm al­les nicht recht ist, und Aga­the hat sich wirk­lich sehr an­ge­strengt. Über­las­se sie mir nur ganz un­be­sorgt.«

      Der Re­gie­rungs­rat küss­te Eu­ge­ni­en in war­mer Dank­bar­keit die Hand. Wie klug und prak­tisch sie war. Er sah schon nicht mehr so schwarz … es wür­de ja al­les wie­der wer­den!

      »Ich will nicht mit Eu­ge­nie! Ich will nicht! Lass mich hier al­lein, Papa – ganz mut­ter­see­len­al­lein«, fleh­te Aga­the ih­ren Va­ter an. »Du sollst sehn, dann wer­de ich ver­nünf­tig! Ich habe nur eine sol­che Sehn­sucht, ein­mal ganz al­lein zu sein – gar nicht spre­chen zu brau­chen – und gar kei­ne Stim­men zu hö­ren. Ich kann Eure Stim­men nicht mehr ver­tra­gen – das ist die gan­ze Ge­schich­te. Ich will nicht zu ei­nem Dok­tor.«

      Eu­ge­nie und Papa blick­ten sich be­deu­tungs­voll an. Der Re­gie­rungs­rat seufz­te tief.

      »Kran­ke ha­ben kei­nen Wil­len«, sag­te Eu­ge­nie ener­gisch und pack­te die Kof­fer.

      Aga­the sah die jun­ge Frau in ih­ren Sa­chen her­um­wüh­len, ihre Schach­teln öff­nen, in ih­rer Brief­map­pe blät­tern, als sei sie schon eine Ge­stor­be­ne, auf die man kei­ne Rück­sicht mehr zu neh­men braucht.

      Und dann doch wie­der das be­stän­di­ge Ge­plau­der, um sie auf­zu­hei­tern – zu zer­streu­en. Oder Eu­ge­nie such­te durch ge­schick­te Fra­gen zu er­grün­den, ob et­was zwi­schen ihr und Mar­tin vor­ge­fal­len sei.

      … Vi­el­leicht hat­te sie schon hin­ter Aga­thes Rücken an Mar­tin ge­schrie­ben, und er wür­de al­les ver­ra­ten … Und Eu­ge­nie er­fuhr ihre Schmach – den heim­li­chen Jam­mer, der sie zu Grun­de rich­te­te …

      Sie woll­te ja le­ben, sie woll­te ja ihre Pf­licht tun – aber man muss­te sie nicht so furcht­bar pei­ni­gen. Schon in ge­sun­den Zei­ten hat­te Eu­ge­nies leich­te, si­che­re, selbst­ge­fäl­li­ge Art sie maß­los ir­ri­tiert – und nun soll­te sie, tot­mü­de und auf­ge­rie­ben, wie sie war, wo­chen­lang Tag und Nacht mit ihr zu­sam­men sein? Sich von ihr be­auf­sich­ti­gen und aus­for­schen las­sen? Das war gar nicht aus­zu­den­ken!

      Und Papa nahm kei­ne Ver­nunft an.

      Sie konn­te ihm doch nicht sa­gen, dass sie Eu­ge­nie ver­ab­scheu­te? Wenn er fra­gen wür­de warum? Sie wuss­te ja kei­nen Grund da­für.

      Aber sie hat­te selbst Schuld – sie al­lein.

      Sie woll­te nun al­les tra­gen, als eine Stra­fe von Gott, für das wahn­sin­ni­ge Ver­lan­gen nach Glück.

      Wie Er sich wohl freu­te, dass Er sie so mar­ter­te …

      An­stän­di­gen Mäd­chen ka­men ge­wiss kei­ne blas­phe­mi­schen Ge­dan­ken … An­stän­di­ge Mäd­chen sind nicht mit drei­ßig Jah­ren noch ei­fer­süch­tig auf eine Kell­ne­rin …

      An­stän­di­ge Mäd­chen – be­tra­gen sich die so, wie sie sich be­tra­gen hat­te? Was war denn nur mit ihr?

      Sie ist gar kein an­stän­di­ges Mäd­chen. Sie hat nur ge­heu­chelt, Zeit ih­res Le­bens. Aus Feig­heit ge­heu­chelt. Und wenn es schließ­lich doch ver­ges­sen wird … Ach, der arme Papa – so ein ta­del­lo­ser Ehren­mann … wenn es sich zeigt, was sei­ne Toch­ter für ein Ge­schöpf ist …

      Nur al­les über sich er­ge­hen las­sen … Sich mit al­ler Ge­walt zu­sam­men­neh­men – ru­hig sein – kei­ne Sze­nen mehr ma­chen! Dann muss der Dok­tor sie doch für ge­sund er­klä­ren. Da­rauf kommt jetzt al­les an.

      Mit ei­ner wah­ren Verzweif­lung klam­mer­te Aga­thes ge­ängs­tig­te See­le sich an die Kon­sul­ta­ti­on des Ba­de­arz­tes in Röh­ren. Er muss­te sie heim­schi­cken – ganz ge­wiss.

      Aber als sie an­ka­men, ver­ord­ne­te er ihr gleich eine sechs­wö­chi­ge Kur.

      Ob sie nicht al­lein hier blei­ben dür­fe?

      Nein – dazu wäre sie viel zu schwach; ihre Schwä­ge­rin müs­se sie pfle­gen und zer­streu­en. Ein Glück, dass sie so eine hei­te­re, lie­bens­wür­di­ge Schwä­ge­rin bei sich habe.

      *

      Auf ei­ner grü­nen baum­lo­sen Ho­chebe­ne lag das Frau­en­bad. Sein Kur­haus und die Woh­nung des Arz­tes bil­de­ten den Mit­tel­punkt, von hier aus streck­te sich eine ein­zi­ge lan­ge Stra­ße von wei­num­rank­ten Lo­gier­häu­sern in die Wie­sen hin­aus. An ih­rem Ende dräng­ten sich die ver­fal­le­nen Hüt­ten der ein­hei­mi­schen Be­völ­ke­rung. Dort sa­ßen ha­ge­re Frau­en und hus­ten­de Mäd­chen Tag aus, Tag ein über das Klöp­pel­brett ge­beugt und war­fen die klei­nen Holz­pflö­cke mit fie­ber­haf­ter Eile durch das zar­te und kost­ba­re Spit­zen­ge­we­be, das un­ter ih­ren Fin­gern ent­stand. Von der schar­fen rei­nen Luft drang nur we­nig durch die mit Pa­pier ver­kleb­ten Fens­ter­lö­cher. Dass man et­was an­de­res trin­ken kön­ne als Zi­cho­ri­en­kaf­fee, dass man sich ba­den kön­ne, sa­hen sie wohl, aber sie sa­hen es wie frem­de, un­ver­ständ­li­che Ge­bräu­che. Die Milch der Zie­gen ge­hör­te den Frem­den – die Stahl­quel­len – die Fich­ten­na­del und Moor­bä­der wa­ren für die Frem­den. Von den Ein­hei­mi­schen be­merk­te man we­nig, man er­blick­te nur die frem­den weib­li­chen Gäs­te. In den Lau­ben der dürf­ti­gen