Agathe bejahte mit einem tiefen, leuchtenden Blick ihrer braunen Augen.
Herrlich sprach er! Welch ein Glück, dass sie ihn wiedergefunden! Es war ja schon fast am Ende gewesen mit ihr. Diese elende, in lauter kleine Leiden und Sorgen und unnötige Arbeiten zerfaserte Existenz der letzten Jahre.
Sie sprach ihm davon. Nie hätte sie geglaubt, so offen reden zu können, und mit einem Manne noch dazu – einem jungen Manne. Aber hier war nicht mehr Mann und Mädchen, hier waren zwei gute Kameraden, die einander helfen wollten in Treue und redlicher Gesinnung.
»Was Du mir sagst, ist sehr interessant, Agathe«, rief Martin. »Schreibe es auf mit denselben Worten, wie Du es mir eben erzählt hast.«
»Ach, Martin, ich bin ja keine Schriftstellerin.«
»Ich meine nicht, dass Du damit ein Kunstwerk schaffen wirst. Das ist nur die Sache von ein paar Begnadeten.«
Er sprach langsam weiter.
»Ich weiß überhaupt nicht, ob es heute darauf ankommt, Kunstwerke zu schaffen … Wir leben alle so sehr im Kampf! – – Kümmere Dich nicht um die Form! Sag’ Deinen lieben Mitschwestern nur ehrlich und deutlich, wie ihr Leben in Wahrheit beschaffen ist. Vielleicht bekommen sie dann Mut, es selbst in die Hand zu nehmen, statt sich von ihren Eltern und der Gesellschaft vorschreiben zu lassen, wie sie leben sollen, und dabei kranke, traurige, hysterische Frauenzimmer zu werden, die man mit dreißig Jahren am liebsten alle miteinander totschlüge! – Na – lockt Dich das nicht? mitzuarbeiten für das Recht der Persönlichkeit? – Komm, stoß an – es lebe die Freiheit!«
Er rief es mit starker Stimme. Sein sonnenverbranntes Gesicht strahlte in freudiger Bewegung. Agathe hob ihr Glas ihm entgegen. Ein feiner, schriller Klang zitterte durch die Mittagsstille. Dem Mädchen war es, als höre sie im Nachhall ihr eigen Herz und ihre Nerven klingen, so gespannt war alles in ihr zu begeisterter Hingabe an das Werk, das er ihr zeigte.
Langsam schlürfte Greffinger den hellen Wein. Agathe sah halb unbewusst, dass sein Blick über das Glas hinweg auf die kleine Kellnerin ging, die sich nicht weit von ihnen mit einer Häkelarbeit beschäftigte. Sie nahm es wahr, während ihre Gedanken ganz erfüllt waren von dem Neuen, das in ihr zu wirken begann. Sie stützte den Kopf in die Hand und schaute nach der großen Tiefe, die zum See hinunterging. Schweigend versenkte sie sich in dieses Neue, das ihrer Zukunft etwas Werdendes versprach.
Etwas Werdendes – –! Darin lag die Befreiung. – – Darum hatte das Zusammenleben mit den Eltern sie so unglücklich gemacht, trotz aller Liebe und aller Pflichttreue: es war ohne Hoffnung. Sie sah nichts als Absterben um sich her. Sie war mit frischen Kräften und jungen Säften angeschmiedet worden an Existenzen, die schon Blüte und Frucht getragen hatten und nur noch in Erinnerungen an die Zeit ihrer Wirkungshöhe lebten. Und mit den Erinnerungen, die sie eigentlich gar nichts angingen – mit den Errungenschaften der vorigen Generation hatte sie sich begnügen sollen.
Etwas Werdendes … Ein Kind – oder ein Werk – meinetwegen ein Wahn, jedenfalls etwas, das Erwartungen erregt und Freude verspricht, mit dem man der Zukunft etwas zu schenken hofft – das braucht der Mensch, und das braucht darum auch die Frau!
Agathe war ganz stolz und glücklich, als sie aus dunklen Empfindungen endlich diesen Kern entwirrt hatte. Sie musste ihn Martin mitteilen und wendete sich ihm wieder zu.
Er sah es nicht …
Was war denn vorgegangen?
Er blickte noch immer nach der Kellnerin. Waren das seine Augen, in die sie eben noch geschaut wie in zwei klare Sterne, von denen ihr die Verkündigung einer stolzen, hohen Botschaft kam?
War sie denn verrückt geworden, dass sie Martin plötzlich verwandelt sah? Dem widerlichen Kerl, nach dessen Verschwinden sie aufgeatmet hatte – dem sah er ähnlich … Die halbgeschlossenen, blinzelnden Lider, aus denen ein grünliches Licht nach dem Mädchen drüben züngelte … Das Lächeln um die Lippen – sie sprachen kein Wort – sie lockten und baten doch …
Und – er hatte mehr Glück als der Alte. Lautlos war, während sie abgewendet gegrübelt hatte, eine Verbindung hergestellt zwischen ihm und dem jungen Dinge.
Sie störte die hin- und widerflirrende Werbung.
Martin schenkte sich ein und schwenkte sein Glas mit offener Huldigung gegen die Kleine. »Fräulein!« rief er und trank es leer bis auf den letzten Tropfen.
Dann beugte er sich zu Agathe und flüsterte zutraulich:
»Reizendes Mädel – findest Du nicht?«
Ihr Mund verzog sich seltsam.
Er beachtete es nicht, sondern begann sich mit der kleinen Schweizerin zu unterhalten. Fröhliches, dummes, harmloses Zeug, aber es war ein Unterton in seiner Stimme, den Agathe kannte – aus einer lange entschwundenen Zeit.
Als sie aufstand, um zu gehen, wunderte sie sich, dass die Sonne noch schien.
*
Wollte Martin sie nur auf die Probe stellen? – Sich überwinden – ihn ihre ungeheure Enttäuschung und Kränkung nicht fühlen lassen! Aber alle Selbstbeherrschung war plötzlich von ihr gewichen.
Er war ihr widerwärtig geworden, aber noch, widerwärtiger war sie sich selbst. Was hatte sie an einem solchen Manne finden können? Wie war sie zu der Verirrung gekommen, ihn für groß und bedeutend zu halten?
Und warum riss ein so grausamer Schmerz an ihrem Herzen?
Sie quälte sich und ihn mit finsterer Kälte.
Am Abend nach dem Essen forderte Martin sie auf, noch ein Stück mit ihm spazieren zu gehen.
»Hier können wir doch kein Wort sprechen«, fügte er mit einem Blick auf die Gerichtsrätin und ihre Tochter hinzu.
Agathe verstand, dass es ihm um eine Aussprache zu tun sei. Und sie empfand auch deutlich, dass es für sie geratener sei, ihn heute zu meiden.
Aber trotzdem stand sie auf und nahm ihren Shawl von dem Haken an der Wand.
»Wo gehen Sie hin, Fräulein Agathe?« fragte die Rätin.
»Ich will mit meinem Vetter ein Stück spazieren gehen.«
»Jetzt?« fragte die Rätin erstaunt. »Aber Sie waren ja heute schon auf dem Hörnli! Und es ist schon ganz dunkel!«
»Was schadet das?«
»Es ist schon neun Uhr vorüber!«
»In einer halben Stunde bringe ich meine Cousine