Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke


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      Aga­the be­jah­te mit ei­nem tie­fen, leuch­ten­den Blick ih­rer brau­nen Au­gen.

      Herr­lich sprach er! Welch ein Glück, dass sie ihn wie­der­ge­fun­den! Es war ja schon fast am Ende ge­we­sen mit ihr. Die­se elen­de, in lau­ter klei­ne Lei­den und Sor­gen und un­nö­ti­ge Ar­bei­ten zer­fa­ser­te Exis­tenz der letz­ten Jah­re.

      Sie sprach ihm da­von. Nie hät­te sie ge­glaubt, so of­fen re­den zu kön­nen, und mit ei­nem Man­ne noch dazu – ei­nem jun­gen Man­ne. Aber hier war nicht mehr Mann und Mäd­chen, hier wa­ren zwei gute Ka­me­ra­den, die ein­an­der hel­fen woll­ten in Treue und red­li­cher Ge­sin­nung.

      »Was Du mir sagst, ist sehr in­ter­essant, Aga­the«, rief Mar­tin. »Schrei­be es auf mit den­sel­ben Wor­ten, wie Du es mir eben er­zählt hast.«

      »Ach, Mar­tin, ich bin ja kei­ne Schrift­stel­le­rin.«

      »Ich mei­ne nicht, dass Du da­mit ein Kunst­werk schaf­fen wirst. Das ist nur die Sa­che von ein paar Be­gna­de­ten.«

      Er sprach lang­sam wei­ter.

      »Ich weiß über­haupt nicht, ob es heu­te dar­auf an­kommt, Kunst­wer­ke zu schaf­fen … Wir le­ben alle so sehr im Kampf! – – Küm­me­re Dich nicht um die Form! Sag’ Dei­nen lie­ben Mit­schwes­tern nur ehr­lich und deut­lich, wie ihr Le­ben in Wahr­heit be­schaf­fen ist. Vi­el­leicht be­kom­men sie dann Mut, es selbst in die Hand zu neh­men, statt sich von ih­ren El­tern und der Ge­sell­schaft vor­schrei­ben zu las­sen, wie sie le­ben sol­len, und da­bei kran­ke, trau­ri­ge, hys­te­ri­sche Frau­en­zim­mer zu wer­den, die man mit drei­ßig Jah­ren am liebs­ten alle mit­ein­an­der tot­schlü­ge! – Na – lockt Dich das nicht? mit­zu­ar­bei­ten für das Recht der Per­sön­lich­keit? – Komm, stoß an – es lebe die Frei­heit!«

      Er rief es mit star­ker Stim­me. Sein son­nen­ver­brann­tes Ge­sicht strahl­te in freu­di­ger Be­we­gung. Aga­the hob ihr Glas ihm ent­ge­gen. Ein fei­ner, schril­ler Klang zit­ter­te durch die Mit­tags­stil­le. Dem Mäd­chen war es, als höre sie im Nach­hall ihr ei­gen Herz und ihre Ner­ven klin­gen, so ge­spannt war al­les in ihr zu be­geis­ter­ter Hin­ga­be an das Werk, das er ihr zeig­te.

      Lang­sam schlürf­te Gref­fin­ger den hel­len Wein. Aga­the sah halb un­be­wusst, dass sein Blick über das Glas hin­weg auf die klei­ne Kell­ne­rin ging, die sich nicht weit von ih­nen mit ei­ner Hä­kel­ar­beit be­schäf­tig­te. Sie nahm es wahr, wäh­rend ihre Ge­dan­ken ganz er­füllt wa­ren von dem Neu­en, das in ihr zu wir­ken be­gann. Sie stütz­te den Kopf in die Hand und schau­te nach der großen Tie­fe, die zum See hin­un­ter­ging. Schwei­gend ver­senk­te sie sich in die­ses Neue, das ih­rer Zu­kunft et­was Wer­den­des ver­sprach.

      Et­was Wer­den­des – –! Da­rin lag die Be­frei­ung. – – Da­rum hat­te das Zu­sam­men­le­ben mit den El­tern sie so un­glück­lich ge­macht, trotz al­ler Lie­be und al­ler Pf­licht­treue: es war ohne Hoff­nung. Sie sah nichts als Abster­ben um sich her. Sie war mit fri­schen Kräf­ten und jun­gen Säf­ten an­ge­schmie­det wor­den an Exis­ten­zen, die schon Blü­te und Frucht ge­tra­gen hat­ten und nur noch in Erin­ne­run­gen an die Zeit ih­rer Wir­kungs­hö­he leb­ten. Und mit den Erin­ne­run­gen, die sie ei­gent­lich gar nichts an­gin­gen – mit den Er­run­gen­schaf­ten der vo­ri­gen Ge­ne­ra­ti­on hat­te sie sich be­gnü­gen sol­len.

      Et­was Wer­den­des … Ein Kind – oder ein Werk – mei­net­we­gen ein Wahn, je­den­falls et­was, das Er­war­tun­gen er­regt und Freu­de ver­spricht, mit dem man der Zu­kunft et­was zu schen­ken hofft – das braucht der Mensch, und das braucht dar­um auch die Frau!

      Aga­the war ganz stolz und glück­lich, als sie aus dunklen Emp­fin­dun­gen end­lich die­sen Kern ent­wirrt hat­te. Sie muss­te ihn Mar­tin mit­tei­len und wen­de­te sich ihm wie­der zu.

      Er sah es nicht …

      Was war denn vor­ge­gan­gen?

      Er blick­te noch im­mer nach der Kell­ne­rin. Wa­ren das sei­ne Au­gen, in die sie eben noch ge­schaut wie in zwei kla­re Ster­ne, von de­nen ihr die Ver­kün­di­gung ei­ner stol­zen, ho­hen Bot­schaft kam?

      War sie denn ver­rückt ge­wor­den, dass sie Mar­tin plötz­lich ver­wan­delt sah? Dem wi­der­li­chen Kerl, nach des­sen Ver­schwin­den sie auf­ge­at­met hat­te – dem sah er ähn­lich … Die halb­ge­schlos­se­nen, blin­zeln­den Li­der, aus de­nen ein grün­li­ches Licht nach dem Mäd­chen drü­ben zün­gel­te … Das Lä­cheln um die Lip­pen – sie spra­chen kein Wort – sie lock­ten und ba­ten doch …

      Und – er hat­te mehr Glück als der Alte. Laut­los war, wäh­rend sie ab­ge­wen­det ge­grü­belt hat­te, eine Ver­bin­dung her­ge­stellt zwi­schen ihm und dem jun­gen Din­ge.

      Sie stör­te die hin- und wi­der­f­lir­ren­de Wer­bung.

      Mar­tin schenk­te sich ein und schwenk­te sein Glas mit of­fe­ner Hul­di­gung ge­gen die Klei­ne. »Fräu­lein!« rief er und trank es leer bis auf den letz­ten Trop­fen.

      Dann beug­te er sich zu Aga­the und flüs­ter­te zu­trau­lich:

      »Rei­zen­des Mä­del – fin­dest Du nicht?«

      Ihr Mund ver­zog sich selt­sam.

      Er be­ach­te­te es nicht, son­dern be­gann sich mit der klei­nen Schwei­ze­rin zu un­ter­hal­ten. Fröh­li­ches, dum­mes, harm­lo­ses Zeug, aber es war ein Un­ter­ton in sei­ner Stim­me, den Aga­the kann­te – aus ei­ner lan­ge ent­schwun­de­nen Zeit.

      Als sie auf­stand, um zu ge­hen, wun­der­te sie sich, dass die Son­ne noch schi­en.

      *

      Woll­te Mar­tin sie nur auf die Pro­be stel­len? – Sich über­win­den – ihn ihre un­ge­heu­re Ent­täu­schung und Krän­kung nicht füh­len las­sen! Aber alle Selbst­be­herr­schung war plötz­lich von ihr ge­wi­chen.

      Er war ihr wi­der­wär­tig ge­wor­den, aber noch, wi­der­wär­ti­ger war sie sich selbst. Was hat­te sie an ei­nem sol­chen Man­ne fin­den kön­nen? Wie war sie zu der Ver­ir­rung ge­kom­men, ihn für groß und be­deu­tend zu hal­ten?

      Und warum riss ein so grau­sa­mer Schmerz an ih­rem Her­zen?

      Sie quäl­te sich und ihn mit fins­te­rer Käl­te.

      Am Abend nach dem Es­sen for­der­te Mar­tin sie auf, noch ein Stück mit ihm spa­zie­ren zu ge­hen.

      »Hier kön­nen wir doch kein Wort spre­chen«, füg­te er mit ei­nem Blick auf die Ge­richts­rä­tin und ihre Toch­ter hin­zu.

      Aga­the ver­stand, dass es ihm um eine Auss­pra­che zu tun sei. Und sie emp­fand auch deut­lich, dass es für sie ge­ra­te­ner sei, ihn heu­te zu mei­den.

      Aber trotz­dem stand sie auf und nahm ih­ren Shawl von dem Ha­ken an der Wand.

      »Wo ge­hen Sie hin, Fräu­lein Aga­the?« frag­te die Rä­tin.

      »Ich will mit mei­nem Vet­ter ein Stück spa­zie­ren ge­hen.«

      »Jetzt?« frag­te die Rä­tin er­staunt. »Aber Sie wa­ren ja heu­te schon auf dem Hörn­li! Und es ist schon ganz dun­kel!«

      »Was scha­det das?«

      »Es ist schon neun Uhr vor­über!«

      »In ei­ner hal­b­en Stun­de brin­ge ich mei­ne Cou­si­ne