Wahrscheinlich war sie zu erstarrt über das unerhörte Vorhaben eines jungen Mädchens.
Warum ging sie nur und trottete mit gesenktem Kopf und einem unerträglichen Zittern in den Knien hinter Martin her, der sich nicht einmal nach ihr umwandte? Es war ihm jedenfalls gleichgültig, ob sie auf dem steinigen Wege Schaden nahm.
Ihnen zur Seite brauste in tiefem Bett der Gebirgsbach, von den Gewittergüssen der letzten Wochen angeschwollen, große Äste und losgerissene Sträucher in seinen tobenden Strudeln mit sich reißend. Wolkenmassen standen schon wieder am Himmel. Es war so finster, dass man unter den Bäumen, die ihre Zweige über den Weg bogen, nicht einen Schritt weit sehen konnte.
Betäubt von dem wilden Toben des Wassers, das aus der Dunkelheit kalte Dünste in die schwüle Nacht emporsandte, mit bohrenden Schmerzen im Kopf und über den Augen – mit Aufruhr und Elend in der Brust, setzte sie ihren Weg fort.
Warum war sie ihm gefolgt? Warum nur?
Sie hätte sich von rückwärts auf ihn werfen mögen, auf den dunklen Umriss seiner Gestalt, und ihn packen und hineinzerren in das wilde Wasser, von dem er vor ein paar Tagen sagte: »Wer da hineinspringt, den hole ich nicht wieder!«
Und sie lächelte mit einer grausamen Lust an der Vorstellung, dass er seine Arme so herausstrecken würde, wie die dürren Äste aus den Strudeln ragten … Dabei fühlte sie, dass es schon kein Lächeln mehr war, sondern eine Grimasse, die ihre Züge verzerrte. Wie entsetzt er sein würde, wenn er sich jetzt umblickte und das Wetterleuchten ihm ihr Gesicht zeigte …
Aber er blickte nicht zurück.
Einmal sagte er: »Halt’ Dich rechts, sonst fällst Du in den Bach.«
Pfui, wie herzlos, wie grausam er war. Wie sie ihn verabscheute!
Sie hatten nicht sehr weit zu gehen, bis sie an eine Brücke kamen, die ohne Geländer über den Bach führte. Martin überschritt sie und trat in den Hof einer ländlichen Wirtschaft, die von Fremden niemals besucht wurde, für die er allein eine Vorliebe besaß. An einem großen Baum hatte man eine Stalllaterne befestigt. Sie warf einen kargen Lichtkreis auf den Tisch und die zwei Bänke. Über ihr glänzten die Blätter in einem harten, metallischen Grün, ringsumher war Dunkelheit. Das laute Lärmen des Wassers trennte den Ort von der übrigen Welt und erregte den Eindruck, als befände man sich auf einer Insel mitten in einer wilden, brausenden Flut.
»Hier sind wir ungestört«, sagte Martin.
Der Wirt erschien in Pantoffeln, verschlafen, und stellte zwei Gläser Bier vor sie hin.
»Geh’n Sie nur. Wir rufen schon, wenn wir etwas brauchen.«
Agathe hatte sich niedergesetzt. Sie stützte den Kopf in die Hand und starrte vor sich auf das graue Holz des Tisches. Schweigend nahm sie Martins Vorwürfe hin.
Für so klein und sentimental und weibisch eitel, wie sie sich heut gezeigt, habe er sie nicht gehalten. Er wollte sie für die Freiheit gewinnen. Aber er werde sich nicht unter die Tyrannei eines prüden und törichten Frauenzimmers beugen.
Was habe sein Gefallen an dem hübschen, frischen Schweizermädchen mit ihrer Freundschaft zu tun? Wenn sie sich einbilde, dass er in Zukunft auf den Verkehr mit hübschen jungen Mädchen verzichten solle, dann habe sie das Gefühl, das ihn zu ihr gezogen, gründlich missverstanden, darüber müssten sie sich erst auseinandersetzen.
Er wurde endlich von Agathes Schluchzen unterbrochen.
»Höre auf zu weinen, Du beträgst Dich sehr kindisch«, sagte er hart.
Es war fast nicht mehr weinen zu nennen, langgezogene, röchelnde Schreie drangen aus ihrer Brust und verloren sich im Brausen des Wassers.
Sie sprang auf, warf den Kopf zurück und rang wild die Hände, wie in Erstickungsnot und Todeskampf.
Martin begann sich um sie zu ängstigen.
»Also gehen wir nach Haus! Vielleicht kann man morgen vernünftig mit Dir reden. Warum in aller Welt bist Du nur so außer Dir?«
»Weil ich Dich liebe!« schrie sie ihn gellend an. Sie wusste ihm in dem Augenblick keine größere Beleidigung entgegenzuschleudern. Und fort war sie – wie der Blitz hinausgeschossen in Nacht und Dunkelheit.
Über die Brücke jagte sie, dem Lauf des Baches folgend –
»Zum See – zum See …« Das war der einzige Gedanke, der in ihr tobte, in ihren Pulsen hämmerte, in ihrem Atem keuchte.
»Ich will frei sein – frei sein! Von ihm – von ihm –«
Ein lautes Auflachen …
Zitternd blieb sie stehen und lauschte … War sie es selbst gewesen?
Sie wagte sich keinen Schritt weiter in der fürchterlichen, einsamen Finsternis. War jemand hinter ihr? Die Zähne schlugen ihr klirrend aufeinander vor Entsetzen.
Sie hatte vergessen, dass sie den See erreichen wollte.
Dicht neben ihr war das rasende Wasser – so tief stürzten die Ufer ab – so tief …
Das Keuchen und Arbeiten in ihrer Brust, das Sausen und Läuten in ihrem Kopfe ließ nach. Sie war totmüde. Ihre Augen schlossen sich – fast verging ihr die Besinnung.
Nur eine Bewegung …
»Mama … meine liebe Mama …« lallte sie, streckte die Arme aus und beugte sich vornüber.
Ein Wetterstrahl fuhr blendend nieder. Sie riss die Augen auf, sah die durcheinandertobenden Strudel unter sich von fahlem Licht erhellt und fuhr zurück. Schreckendurchschüttelt stand sie atemlos, starrte in die Nacht und hörte das Sprachen des Donners.
Sie durfte ja nicht – sie durfte ja nicht … für Papa sorgen – sie hatte es doch versprochen … Sie durfte nicht entfliehen. Mama hatte sie gerufen …
Ihre Knie schwankten, sie fühlte, dass sie umfallen musste und ließ sich haltlos zu Boden sinken. So lag sie zusammengekauert und ließ sich vom Brausen des Wassers betäuben. Allerlei sinnloses Zeug ging ihr durch den Kopf – sie wusste nicht wie lange.
Endlich erhob sie sich und schlich durch die Nacht zurück. Jetzt hatte sie Angst, sich zu verirren, und besann sich mit Anstrengung auf die Richtung, die sie einzuschlagen hatte. Und dann lief sie, so schnell sie konnte.
Schaudernd vor innerer Kälte, das Gesicht von Schweiß und Tränen bedeckt, stand sie vor der Tür des Hotels still.
Leise öffnete sie und floh durch den Hausflur die Treppe hinauf.
Da auf dem ersten Treppenabsatz traf sie Martin.
»Agathe, wie