möglicherweise absagen«, erklärte Tatjana erbarmungslos. »Schließlich habe ich keine Zeit zu verschenken.« Das vergnügte Zwinkern in ihren Augen strafte sie Lügen.
»Keine Sorge, in diesem Fall finde ich einen Vorwand, um dich zu treffen«, gab Danny zu verstehen, dass er keinesfalls auf dieses Treffen verzichten würde. Besitzergreifend nahm er seine Freundin in die Arme und küsste sie, dass ihr Hören und Sehen verging. »War das deutlich genug?«, fragte er, als sie sich voneinander lösten und Tatjana nach Luft schnappte.
»Alle Achtung. Soll ich das Geschäft überhaupt aufschließen?« Ganz raffinierte Liebhaberin wusste sie genau, wie sie den Stolz ihres Freundes zum Strahlen bringen konnte.
Die Rechnung ging auf, und Danny lächelte geschmeichelt. Tatjana besaß genug Selbstbewusstsein, um ihn ganz Mann sein zu lassen und ihm in den richtigen Momenten die Führung zu überlassen.
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, machte er sogleich Gebrauch von diesem Vorrecht und verabschiedete sich zärtlich und diesmal endgültig von Tatjana.
Sie stand in der Tür und sah ihm nach, wie er schwer bepackt mit den Bestellungen, die er vor Beginn der Sprechstunde noch ausliefern wollte, auf den Wagen zuging. Das energische Klingeln einer Fahrradglocke ließ ihn zusammenzucken.
»Aus dem Weg, alter Mann!«, rief eine junge Frau mit blau gefärbten Haaren.
Nur ein beherzter Sprung auf die Seite rettete Danny vor einem Zusammenstoß.
»Sind Sie verrückt geworden? Sie hätten mich um ein Haar überfahren!«, schimpfte er sichtlich erschrocken und balancierte die schweren Körbe in seinen Armen.
Unter Tatjanas fragenden Blicken war die junge Frau inzwischen abgestiegen.
»Ja eben, nur um ein Haar«, erwiderte sie frech. »Sie hätten ja zur Seite gehen können.«
»Wie bitte?«, ärgerte sich der junge Arzt über die Wiederworte. »Sie hätten die Straße benutzen müssen«, klärte er seine Kontrahentin auf.
»Haben Sie eigentlich Augen im Kopf?« Die blauhaarige Frau deutete auf einen Linienbus, der die Warnblinkanlage eingeschaltet hatte und die komplette Straße versperrte.
Doch im Augenblick galt Dannys erstes Interesse dem frechen Mädchen. Er sah ihr dabei zu, wie sie ihr Rad mitten auf dem Gehweg abstellte und mit einem riesigen Schloss absperrte.
»Dann hätten Sie wenigstens absteigen können. Und im Übrigen ist das hier auch kein Parkplatz.«
Aufreizend langsam richtete sich die junge, ganz in Schwarz gekleidete Frau auf und sah sich um.
»Tja, zu dumm, dass hier niemand Fahrradständer aufgestellt hat. Jetzt muss ich mein Rad leider, leider hier stehen lassen. Und Sie sollten sich jetzt mal lieber um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.« Mit dieser Empfehlung ließ sie Danny Norden stehen und drehte sich zu Tatjana um, die immer noch in der Tür stand und dem Gespräch mit wachsender Fassungslosigkeit gelauscht hatte.
Zähneknirschend ließ Danny sie laufen. Noch immer hielt er die Körbe mit den Backwaren in den Armen. Sie waren schwer wie Blei, und er zitterte, als er auf seinen Wagen zuging, um die schwere Last endlich loszuwerden. Wenigstens hatte der Linienbus endlich die Straße verlassen, sodass ihn keine unliebsame Überraschung mehr von seinen Arbeiten abhielt.
*
»So, Lennilein, jetzt, da wir allein sind, kannst du mir ja mal verraten, wo du die Gardinen versteckt hast«, erklärte Felix Norden, als er endlich mit der Haushälterin allein war. In einer Viertelstunde musste auch er in die Klinik aufbrechen, wo er ein freiwilliges soziales Jahr in der Ergotherapie absolvierte. Bis dahin wollte er dem Wunsch seiner Mutter nachkommen und Lenni davon abhalten, selbst wieder auf die Leiter zu klettern. »In der Waschmaschine sind sie jedenfalls nicht. Da hab ich schon nachgeschaut.«
»Ich hab sie längst hochgeholt«, verkündete Lenni und warf stolz den Kopf in den Nacken. »Während du die Küche aufgeräumt hast, war ich unten im Keller. Die ersten hängen schon wieder an den Fenstern.«
»Mann, Lenni, es ist ja leichter einen Sack Flöhe zu hüten als dich«, schimpfte der Arztsohn. »Den Rest lässt du jetzt aber mich machen.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage. Diese Haken sind so kniffelig. Die bekommst du niemals in die Schiene. Mal abgesehen davon, dass ich Angst habe, dass du mir die Vorhänge wieder dreckig machst. Erinnerst du dich an das letzte Mal, als du mir helfen wolltest?«
Schuldbewusst presste Felix die Lippen aufeinander.
»Was kann ich denn dafür, dass Janni mich vorher gebeten hatte, seine Fahrradkette wieder reinzumachen?«, verteidigte er sich.
»Nichts. Aber es gibt einen Grund, warum ich meine Arbeit lieber selbst mache.« Damit war die Diskussion für Lenni beendet, und sie marschierte aus der Küche.
Felix sah ihr nach und haderte mit sich, ob er ihre Worte nicht einfach überhören sollte. Doch nach einem Blick auf die Uhr entschied er sich anders. Die Debatte mit seiner störrischen Ersatzoma hatte länger gedauert als gedacht, und er musste sich allmählich fertig machen, wenn er nicht zu spät zur Arbeit kommen und wieder einmal einen spöttischen Kommentar von seiner Chefin ernten wollte. Zwei Stufen auf einmal nehmend lief er die Treppe hinauf. Im Hintergrund hörte er das Klappern der Leiter. Er war gerade oben angekommen, als ihn ein ohrenbetäubendes Krachen zusammenfahren ließ. Ein dumpfer Knall und der Schrei aus Lennis Kehle sorgten dafür, dass er auf dem Absatz kehrt machte und wieder hinunter eilte. Felix fand die Haushälterin im Arbeitszimmer. Wie befürchtet lag sie neben der umgefallenen Leiter auf dem Boden und wimmerte vor sich hin.
»Mein Knie. O weh, o weh.«
»O Mann, Lenni«, stöhnte Felix entsetzt auf. »Ich wusste doch, dass das nicht gut geht. Warum hab ich mich nur von dir einschüchtern lassen?«, ging er hart mit sich ins Gericht, während er versuchte, die Haushälterin aufzurichten. »Komm, ich helf dir hoch.«
Doch Lenni schüttelte gequält den Kopf.
»Es geht nicht. Das tut so weh. Irgendwas stimmt nicht mit dem Knie.« Sie hatte so starke Schmerzen, dass ihr Tränen in die Augen getreten waren.
So hatte Felix seine geliebte Lenni nie gesehen und er bekam es mit der Angst zu tun. Fieberhaft dachte er nach, was in diesem Fall zu tun war.
»Bleib ganz ruhig. Ich komm gleich wieder«, versprach er und sprang auf. Zuerst sorgte er für eine Decke und Kissen, damit Lenni nicht auskühlte. Erst dann wählte er die Nummer der Behnisch-Klinik und forderte einen Wagen an.
In knappen Worten berichtete er, was geschehen war. Nach dem Gespräch gab es nichts weiter zu tun, als abzuwarten. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis das Martinshorn durch die Straßen hallte und schnell näher kam. Wenige Minuten später brachte Felix die Ersthelfer ins Arbeitszimmer. Der Zufall wollte es, dass ausgerechnet Noah, angehender Rettungsassistent und Anneka Nordens Freund, mit von der Partie war.
»Das ist vielleicht ein blödes Gefühl, zu einer bekannten Adresse gerufen zu werden«, sagte er zu Felix, als er neben Lenni niederkniete. »Wie fühlen Sie sich?«
»Zum Tanzen habe ich heute keine Lust, junger Mann«, erwiderte sie zähneknirschend, und Noah schickte dem Bruder seiner Freundin einen ungläubigen Blick.
Trotz seines Schreckens, der ihm immer noch in den Gliedern steckte, konnte sich Felix ein Grinsen nicht verkneifen.
»Unkraut verdirbt nicht«, raunte er Noah zu, ehe sich die Türen des Rettungswagens schlossen. »Hat sie selbst heute Morgen noch gesagt.«
Als der Wagen losfuhr, stand der Arztsohn am Straßenrand und sah den Rücklichtern nach, die sich scheinbar im Nebel des grauen Morgens auflösten. Erst jetzt, als der erste Schock nachließ, machte sich eine abgrundtiefe Sorge in ihm breit, und er beeilte sich, dem Wagen in die Klinik zu folgen.
*
»Hast du mein Mathebuch gesehen, Mama?« Tobias Hasselts Stimme hallte durch die gemütlich eingerichtete Wohnung, in der er mit seiner Mutter Marianne lebte.