wie Menschen.« Die meisten erschienen durch ihre seltsamen Erfahrungen belebt und aufgeregt.
Jenseits von Victoria machten die Wirtshäuser mit diesen Ankömmlingen ein gutes Geschäft. An allen Straßenecken sammelten sich Leute an, lasen Zeitungen, sprachen erregt miteinander, oder starrten diese ungewohnten Sonntagsgäste an. Diese schienen sich mit der allmählich anbrechenden Nacht nur noch zu vermehren und schließlich sahen die Straßen aus, nach dem Bericht meines Bruders, wie die Hochstraße von Epson an einem Derbytag. Mein Bruder sprach mehrere dieser Flüchtlinge an, erhielt aber von den meisten nur unzulängliche Antworten.
Keiner von ihnen konnte ihm irgendwelche Nachrichten von Woking mitteilen, außer einem Mann, der ihm versicherte, dass Woking in der vorigen Nacht gänzlich zerstört worden sei.
»Ich komme aus Byfleet«, erzählte er, »ein Mann auf einem Zweirad kam am frühen Morgen durch unseren Ort; er lief von Tür zu Tür und ermahnte uns zur Flucht. Dann kamen Soldaten. Wir gingen hinaus, um zu sehen, was los sei und sahen dichte Rauchwolken gegen Süden — nichts als Rauch; keine lebende Seele kam des Weges. Dann hörten wir die Geschütze in Chertsey und die Leute eilten aus Weybridge heran. So schloss ich denn mein Haus ab und ging fort.«
Zu jener Zeit herrschte ein starkes Gefühl der Erbitterung auf den Straßen. Man fand, dass die Behörden wegen ihrer Unfähigkeit, der fremden Eindringlinge ohne alle diese Unzulänglichkeiten Herr zu werden, Tadel verdienten.
Um acht Uhr etwa erscholl im ganzen Süden Londons heftiges Geschützfeuer. Bei dem großen Lärm auf den Hauptstraßen konnte es mein Bruder nicht hören, aber als er sich durch die stillen Nebengassen zum Fluss durchschlug, hörte er es ganz deutlich.
Es war zwei Uhr geworden, als er von Westminster nach seiner Wohnung am Regent Park zurückkehrte. Er war jetzt schon sehr besorgt um mich und durch die sichtliche Tragweite dieser Ereignisse ganz verstört. Seine Gedanken beschäftigten sich mit kriegerischen Einzelheiten, genau so wie auch ich mich am Samstag damit beschäftigt hatte. Er dachte an alle jene in erwartungsvoller Ruhe harrenden Geschütze, an jenen plötzlich in einen Nomadenbezirk verwandelten Landstrich. Er bemühte sich, hundert Fuß hohe »Kessel auf Stelzen« sich vorzustellen.
Einige Karren, besetzt von Flüchtlingen, fuhren die Oxford Street entlang, manche auch in der Marylebone Road. Aber so langsam verbreiteten sich die Nachrichten, dass die Regent Street und die Portlandstraße von jenen Leuten, die gewöhnlich Sonntag nachts dort lustwandeln, voll waren. Wohl standen auch Gruppen lebhaft sich besprechender Menschen umher. Aber am Rande des Regent Parks ergingen sich so viele stille Pärchen im Lichte der spärlichen Gaslampen, wie man sie nur immer gewohnt war dort zu sehen. Die Nacht war still und warm, fast ein wenig drückend; gelegentlich scholl der Lärm der Geschütze herüber, und nach Mitternacht bemerkte man ein Wetterleuchten gegen Süden.
Mein Bruder las immer wieder das Zeitungsblatt, und fürchtete schon, dass mir das Schlimmste zugestoßen sei. Er war rastlos und nach dem Abendbrot ging er wieder aus und trieb sich ziellos umher. Dann kehrte er zurück und versuchte seine nagenden Gedanken durch seine Prüfungsschriften zu verscheuchen. Bald nach Mitternacht ging er zu Bett, wurde aber in den ersten Morgenstunden des Montags durch den Schall von Türklopfern, Fußgetrappel auf den Straßen, Getrommel und Glockenläuten aus einem düsteren Traum geschreckt. Ein roter Widerschein spielte auf der Decke. Einen Augenblick blieb er betäubt liegen und fragte sich, ob der Tag schon angebrochen, oder die Welt verrückt geworden sei. Dann sprang er aus dem Bett und eilte ans Fenster.
Sein Zimmer war eine Dachkammer; und als er den Kopf zum Fenster hinaussteckte, vernahm er die Straße hinauf und hinab einen dutzendfachen Widerhall des Lärmes, den das Öffnen seiner Fenster hervorrief; und Köpfe in allen Spielarten nächtlicher Verstörtheit tauchten auf. Überall wurden fragende Rufe laut: »Sie kommen!«, brüllte ein Schutzmann, indem er auf das Tor loshämmerte. »Die Marsleute kommen!« Dann eilte er weiter zum nächsten Tor.
Der Lärm von Trommeln und Trompeten scholl von der Kaserne in der Albanystraße herüber; und in jeder Kirche in Hörweite war man damit beschäftigt, den Schlaf durch regelloses heftiges Sturmläuten zu töten. Man vernahm das Geräusch sich öffnender Tore, und in den gegenüberliegenden Häusern flammte ein Fenster nach dem anderen in hellem, nach dem Dunkel doppelt grellen Licht auf.
Eine geschlossene Kutsche kam die Straße heraufgesprengt. Zuerst scholl das Geräusch unvermutet von der Ecke her, das Gerassel erreichte seinen Höhepunkt unter dem Fenster, und allmählich erstarb es in der Ferne. Dicht auf dem Fuße folgten zwei Mietwagen, die Vorhut einer langen Reihe dahinsausender Gefährte, die zum größten Teil zur Haltestelle Chalk Farm eilten, wo die nord-westlichen Sonderzüge die Reisenden aufnahmen, und wo man die Steigung zum Euston Bahnhof vermeiden konnte.
Lange Zeit starrte mein Bruder in dumpfer Betäubung aus dem Fenster; er sah dem Schutzmann nach, wie er auf ein Haustor nach dem anderen hämmerte und sich seiner unverständlichen Botschaft entledigte. Da öffnete sich die Zimmertür meines Bruders, und der Mann, der jenseits der Treppe wohnte, kam herein. Er war noch im Hemd, Beinkleidern und Pantoffeln, die Hosenträger hingen lose herab und sein wirres Haar verriet noch die Spuren der Nacht.
»Was zum Teufel ist denn los?«, fragte er. »Ein Feuer? Der Teufel hole diesen Radau!«
Beide steckten ihren Kopf weit aus dem Fenster, eifrig bemüht, zu verstehen, was es eigentlich war, was der Schutzmann rief. Aus den Seitengassen kamen Leute heraus, die in eifrig schwatzenden Gruppen umherstanden.
»Was zum Teufel soll denn das alles bedeuten?«, fragte der Nachbar meines Bruders.
Mein Bruder antwortete nur so obenhin und begann sich anzuziehen. Mit jedem Kleidungsstück eilte er ans Fenster, um nur ja nichts von der wachsenden Erregung der Straßen zu versäumen. Auf einmal tauchten Leute auf, die ganz frühe Zeitungsblätter verkauften und mit ihrem Gebrüll die Straße erfüllten.
»London droht Ersticken! Die Verteidigung von Kingston und Richmond erstürmt! Furchtbares Massaker im Themsetal!«
Und rings um ihn herum — in den Zimmern unten, in den Häusern nebenan und gegenüber, und hinten in den Park Terrace und in den hundert Gassen jenes Teiles von Marylebone, und im Westbourne-Park-Bezirk und in St. Pancras,2 und westlich und nördlich in Kilburn und St. John’s Wood und Hampstead, und östlich in Shoreditch und Highbury und Haggerston und Hoxton und