Herbert George Wells

H. G. Wells – Gesammelte Werke


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Er sah Kemp auf der Brüs­tung ste­hen, aus dem Fens­ter sprin­gen und einen Mo­ment spä­ter dem Ge­büsch zu­ei­len, hie und da ste­hen­blei­bend, wie je­mand, der sich fürch­tet, be­ob­ach­tet zu wer­den. Dann sah er ihn über ein Git­ter klet­tern, das ins Freie führ­te. In ei­ner Se­kun­de war er drü­ben und rann­te, so schnell er konn­te, den Hü­gel hin­ab, auf Mr. Hee­las zu.

      »Herr Gott!«, rief die­ser, von ei­nem plötz­li­chen Ge­dan­ken er­schreckt. »Es ist der Un­sicht­ba­re! So ist die Ge­schich­te doch wahr!«

      Den­ken und Han­deln war für Mr. Hee­las eins, und die Kö­chin, die ihn vom Gie­bel­fens­ter aus be­ob­ach­te­te, wun­der­te sich, ihn mit der Schnel­lig­keit von neun Mei­len in der Stun­de in das Haus ren­nen zu se­hen. Man hör­te Tü­ren zu­schla­gen, Glo­cken läu­ten und Mr. Hee­las’ Stim­me brül­len: »Schließt die Tü­ren, schließt die Fens­ter, schließt al­les – der Un­sicht­ba­re kommt!« Bald war das gan­ze Haus in Aufruhr. Er selbst schloss die Glas­tür, die auf die Ve­ran­da führ­te; zu­gleich sah er Kemps Kopf, Schul­tern und Knie auf dem Gar­ten­git­ter er­schei­nen. Im nächs­ten Au­gen­blick war Kemp durch das Spar­gel­beet ge­kro­chen und lief über den Ten­nis­platz dem Hau­se zu.

      »Sie kön­nen nicht her­ein«, schrie Mr. Hee­las, die Rie­gel vor­schie­bend. »Es tut mir sehr leid, wenn er Sie ver­folgt – aber ich kann Sie nicht her­ein­las­sen!«

      Mit schre­ckens­blei­chem Ge­sicht er­schi­en Kemp vor der Tür und rüt­tel­te wie toll dar­an. Dann lief er, als er sah, dass sei­ne An­stren­gung nutz­los blieb, die Ve­ran­da ent­lang, sprang hin­ab und poch­te hef­tig an die Sei­ten­tür. Dann eil­te er durch ein Sei­ten­tor aus dem Gar­ten und auf die Stra­ße hin­aus. Und kaum hat­te Mr. Hee­las Kemp ver­schwin­den se­hen, als das Spar­gel­beet von neu­em zer­tre­ten wur­de, dies­mal von un­sicht­ba­ren Fü­ßen. Da­rauf­hin floh Mr. Hee­las ei­ligst nach oben und weiß vom Schluss der Jagd nichts mehr zu sa­gen.

      Als Kemp auf die Stra­ße hin­aus­kam, schlug er na­tür­lich den Weg nach der Stadt ein. Und so kam es, dass er in eig­ner Per­son den­sel­ben tol­len Lauf un­ter­nahm, den er noch vor vier Ta­gen von sei­nem Stu­dier­zim­mer aus mit so kri­ti­schem Auge be­ob­ach­tet hat­te. Er lief gut für einen Mann, der au­ßer Übung war; und ob­gleich sein Ge­sicht bleich und feucht war, be­hielt er bis zum Ende kal­tes Blut. Er lief mit lan­gen Schrit­ten, und wo der Grund un­eben war, wo raue Kie­sel­stei­ne la­gen oder Glass­plit­ter in der Son­ne blink­ten, da über­sprang er die Stel­le und über­ließ es den un­be­klei­de­ten, un­sicht­ba­ren Fü­ßen, sich einen Weg zu su­chen.

      Zum ers­ten Mal im Le­ben ent­deck­te Kemp, dass die Stra­ße un­be­schreib­lich lang und öde und die ers­ten Häu­ser der Stadt selt­sam weit ent­fernt wa­ren.

      All die gel­ben Vil­len, die in der Nach­mit­tags­son­ne zu schla­fen schie­nen, wa­ren ver­schlos­sen und ver­ram­melt; zwei­fel­los in­fol­ge sei­ner ei­ge­nen Auf­for­de­rung. Aber sie hät­ten doch die Mög­lich­keit ei­nes Fal­les wie den sei­ni­gen be­den­ken kön­nen! Jetzt stieg die Stadt vor ihm auf; das Meer war hin­ter ihm ver­schwun­den, und un­ten in der Stadt war Le­ben und Be­we­gung. Gera­de hielt eine Tram­bahn am Fuße des Hü­gels. Ganz in der Nähe war das Po­li­zei­ge­bäu­de. Hör­te er nicht Fuß­trit­te hin­ter sich? Schnell!

      Die Leu­te un­ten starr­ten ihn an. Sein Atem wur­de schwer und keu­chend. Er war jetzt ganz nahe bei der Tram­bahn. Wie ein Blitz durch­zuck­te ihn der Ge­dan­ke, in die­se Tram­bahn zu sprin­gen und die Tü­ren zu­zu­schla­gen; dann be­schloss er, doch zur Po­li­zei­sta­ti­on zu lau­fen. Im nächs­ten Au­gen­blick be­fand er sich am an­de­ren Ende der Stra­ße un­ter mensch­li­chen We­sen.

      Kemp ver­lang­sam­te den Schritt, dann hör­te er sei­nen Ver­fol­ger dicht hin­ter sich, und wie­der eil­te er in ra­sen­dem Lauf wei­ter. »Der Un­sicht­ba­re!«, rief er den Leu­ten mit ei­ner un­be­stimm­ten Be­we­gung zu; und von ei­nem glück­li­chen Ge­dan­ken ge­lei­tet, über­sprang er einen Gra­ben, bei dem Erd­ar­bei­ter be­schäf­tigt wa­ren, und trach­te­te eine Grup­pe kräf­ti­ger Män­ner zwi­schen sich und sei­nen Ver­fol­ger zu brin­gen. Dann kam er von sei­ner ur­sprüng­li­chen Ab­sicht ab und bog in eine Sei­ten­stra­ße ein. Den zehn­ten Teil ei­ner Se­kun­de zö­ger­te er vor dem Ein­gang ei­nes La­dens, dann durch­eil­te er eine Al­lee, die wie­der in die Haupt­stra­ße führ­te. Zwei oder drei klei­ne Kin­der, die dort spiel­ten, schri­en bei sei­nem Er­schei­nen laut auf und lie­fen eilends da­von; Fens­ter und Tü­ren öff­ne­ten sich und er­reg­te Müt­ter stürz­ten her­aus, um ihre Kin­der zu schüt­zen. Und als Kemp wie­der in die Haupt­stra­ße ein­bog, be­merk­te er so­fort einen lau­ten Tu­mult und durch­ein­an­der ei­len­de Men­schen. Die Si­tua­ti­on hat­te sich merk­wür­dig ver­än­dert.

      Ein Dut­zend Schrit­te von ihm ent­fernt lief ein rie­sen­haf­ter Ar­bei­ter und schwang sei­nen Spa­ten. Dicht hin­ter ihm folg­ten lär­mend und schrei­end an­de­re. »Bil­det eine Ket­te!«, rief ei­ner. »Er muss ganz nahe sein!«, schrie Kemp.

      Er er­hielt einen hef­ti­gen Schlag ins Ge­sicht, der ihn wan­ken mach­te. Da wand­te er sich um, in der Ab­sicht, sei­nem un­sicht­ba­ren Geg­ner die Stirn zu bie­ten. Doch traf ihn ein neu­er­li­cher, so ge­wal­tig ge­führ­ter Stoß, dass er kopf­über zu Bo­den stürz­te. Im nächs­ten Au­gen­blick fühl­te er ein Knie auf sei­ner Brust und zwei sei­nen Hals um­klam­mern­de Hän­de. Er pack­te die Hand­ge­len­ke, hör­te sei­nen Geg­ner schmerz­lich auf­schrei­en, und dann wir­bel­te der Spa­ten des Ar­bei­ters durch die Luft und fiel mit dump­fem Krach auf et­was nie­der. Ein feuch­ter Trop­fen fiel auf Kemps Ge­sicht. Der Druck auf sei­nen Hals gab plötz­lich nach, mit ei­ner letz­ten An­stren­gung mach­te er sich frei und schwang sich nach oben. Er drück­te die un­sicht­ba­ren Ell­bo­gen nie­der. »Ich habe ihn!«, keuch­te er. »Hil­fe, Hil­fe – hal­tet ihn, er liegt un­ten, packt sei­ne Füße.«

      Eine Se­kun­de spä­ter stürz­te sich al­les auf die Kämp­fen­den, und wenn ein Frem­der plötz­lich auf der Stra­ße er­schie­nen wäre, hät­te er glau­ben kön­nen, ein un­ge­wöhn­lich wil­des Fuß­ball­spiel sei im Gan­ge. Auf Kemps Ruf folg­te kei­ne Er­wi­de­rung – man ver­nahm nichts als das Geräusch von Schlä­gen, Fuß­trit­ten und schwe­res At­men.

      Mit ei­ner mäch­ti­gen Wil­lens­an­stren­gung ge­lang es dem Un­sicht­ba­ren, sich zu er­he­ben. Kemp hing an ihm, wie ein Hund an ei­nem Hirsch, und ein Dut­zend Hän­de pack­ten ihn und ris­sen ihn zu Bo­den.

      Wei­ter ging der Kampf. Plötz­lich er­tön­te ein wil­der, rö­cheln­der Schrei: »Barm­her­zig­keit!«

      »Zu­rück, Leu­te!«, rief Kemp mit dump­fer Stim­me, und alle die seh­ni­gen Män­ner tra­ten zu­rück. »Er ist schwer ver­letzt, sage ich euch, zu­rück!«

      Lang­sam wi­chen die Um­ste­hen­den et­was zu­rück, um Platz zu ma­chen. Ge­spannt sa­hen sie zu, wie der Dok­tor schein­bar in der Luft knie­te und un­sicht­ba­re Arme zu Bo­den drück­te. Hin­ter ihm um­klam­mer­te ein Schutz­mann un­sicht­ba­re Fuß­ge­len­ke.

      »Las­sen Sie ihn nicht aus!«, rief der rie­sen­haf­te Ar­bei­ter, den blu­ti­gen Spa­ten noch im­mer in der Hand hal­tend. »Er ver­stellt sich bloß!« »Er ver­stellt sich nicht«, er­wi­der­te der Dok­tor, vor­sich­tig auf­ste­hend, »auch hal­te ich ihn fest.«

      Sein Ge­sicht war zer­schun­den und rot; er sprach schwer, weil er aus der Lip­pe blu­te­te. Er