Herbert George Wells

H. G. Wells – Gesammelte Werke


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      »Ver­ges­sen Sie nicht«, sag­te Kemp, »dass sei­ne Nah­rung sicht­bar bleibt. Wenn er ge­ges­sen hat, sieht man die Spei­sen, bis sie as­si­mi­liert sind. So muss er sich ver­ber­gen, nach­dem er ge­ges­sen hat. Sie müs­sen fort­wäh­rend nach ihm su­chen. In je­dem Dickicht, in je­dem ru­hi­gen Win­kel. Und las­sen Sie alle Waf­fen – alle Werk­zeu­ge, die als Waf­fe ver­wen­det wer­den könn­ten, weg­schaf­fen. Er kann sol­che Sa­chen nicht lan­ge tra­gen, und was er zu­fäl­lig fin­den könn­te, um da­mit zu ver­let­zen, muss ver­bor­gen wer­den.«

      »Auch gut«, sag­te Adye. »Wir wer­den ihn doch noch fan­gen!«

      »Und auf den Stra­ßen – –« sag­te Kemp und zö­ger­te.

      »Ja?«, frag­te Adye.

      »Glass­plit­ter«, fuhr Kemp fort. »Es ist grau­sam, ich weiß es. Aber be­den­ken Sie, was er tun könn­te!«

      Adye blies die Luft durch die Zäh­ne. »Das ist un­mensch­lich. Ich weiß wirk­lich nicht, ob ich das zu­ge­ben kann. Aber ich wer­de Glass­plit­ter be­reit­hal­ten, wenn er zu weit geht.«

      »Der Mann ist ein Un­ge­heu­er, sage ich Ih­nen«, ver­si­cher­te Kemp. »Ich weiß so be­stimmt, dass er sei­ne Schre­ckens­herr­schaft be­gin­nen wird – so­bald er die Auf­re­gung über sei­ne Flucht ein­mal über­wun­den hat – als ich weiß, dass ich mit Ih­nen spre­che. Un­se­re ein­zi­ge Ret­tung ist, ihm zu­vor­zu­kom­men. Er hat sich selbst von der Mensch­heit los­ge­sagt. Sein Blut kom­me über sein Haupt.«

      26. Kapitel – Der Mord im Dickicht

      Der Un­sicht­ba­re scheint in ei­nem Zu­stand blin­der Wut aus dem Hau­se Kemps ge­flo­hen zu sein. Ein klei­nes Kind, das in der Nähe des To­res spiel­te, war hef­tig an­ge­packt und bei­sei­te ge­schleu­dert wor­den, so­dass es den Knö­chel brach, und nach­her ver­schwand er für ei­ni­ge Stun­den voll­kom­men. Nie­mand weiß, wo­hin er ging oder was er tat. Aber man kann sich vor­stel­len, wie er an dem hei­ßen Ju­ni­tag den Hü­gel hin­auf nach der of­fe­nen Düne hin­ter Port Bur­dock eil­te, voll Grimm sein Schick­sal ver­flu­chend, bis er end­lich er­hitzt und müde in den Wäl­dern von Hin­ton­de­an eine Zuf­lucht such­te, um wie­der neue Plä­ne ge­gen sei­ne Mit­menschen zu schmie­den.

      Wie dem aber auch sei, ge­gen Mit­tag ver­schwand er aus dem Ge­sichts­kreis der Men­schen, und kei­ne le­ben­de See­le kann sa­gen, was er bis ge­gen halb 3 Uhr ge­tan hat. Vi­el­leicht war es ein Glück für die Mensch­heit, aber für ihn selbst soll­te die­se Un­tä­tig­keit un­heil­voll wer­den.

      Wäh­rend die­ser Zeit war eine im­mer mehr wach­sen­de Men­schen­men­ge in der gan­zen Ge­gend ge­schäf­tig. Am Mor­gen war er noch eine blo­ße My­the, ein Ge­gen­stand des Schre­ckens ge­we­sen; am Nach­mit­tag wur­de er in ei­ner tro­ckenen Pro­kla­ma­ti­on Kemps als ein greif­ba­rer Geg­ner hin­ge­stellt, der ver­wun­det, ge­fan­gen und über­wun­den wer­den konn­te. Und die gan­ze Ge­gend be­gann sich mit un­fass­ba­rer Schnel­lig­keit zu or­ga­ni­sie­ren. Selbst um 2 Uhr noch hät­te er mit­tels ei­nes Zu­ges die Ge­gend ver­las­sen kön­nen, nach 2 Uhr aber wur­de auch dies un­mög­lich, denn alle Per­so­nen­zü­ge in der gan­zen Ge­gend fuh­ren mit ver­sperr­ten Kou­pee­tü­ren und der Gü­ter­ver­kehr war fast ganz ein­ge­stellt. Und in ei­nem Um­kreis von 20 Mei­len bra­chen Grup­pen von drei oder vier Män­nern, die mit Flin­ten und Knüt­teln be­waff­net wa­ren, in Beglei­tung von Hun­den auf, um Stra­ßen und Fel­der zu durch­su­chen.

      Be­rit­te­ne Wach­leu­te spreng­ten die Land­stra­ßen ent­lang, hiel­ten bei je­dem Hau­se an und for­der­ten die Be­woh­ner auf, ihre Häu­ser zu­zu­schlie­ßen und sich in­ner­halb der­sel­ben zu hal­ten, wenn sie nicht be­waff­net wä­ren. Die Volks­schu­len wur­den um 3 Uhr ge­schlos­sen und die Kin­der ei­ligst nach Hau­se ge­schickt. Kemps Auf­ruf, der von Adye un­ter­zeich­net war, war um 4 oder 5 Uhr nach­mit­tags in der gan­zen Ge­gend an­ge­schla­gen. Und so schnell und ent­schie­den han­del­ten die Be­hör­den, so rasch und all­ge­mein ver­brei­te­te sich der Glau­be an je­nes selt­sa­me We­sen, dass noch vor Ein­bruch der Nacht eine Ge­gend von meh­re­ren hun­dert Qua­drat­mei­len Aus­deh­nung wie in Be­la­ge­rungs­zu­stand ver­setzt war.

      Mitt­ler­wei­le wur­de der Ver­wal­ter Lord Bur­docks, Mr. Wicks­teed, er­schla­gen auf­ge­fun­den.

      Wenn un­se­re Voraus­set­zung, dass der Un­sicht­ba­re in den Wäl­dern von Hin­ton­de­an eine Zuf­lucht ge­sucht hat­te, rich­tig ist, so müs­sen wir an­neh­men, dass er am Nach­mit­tag wie­der auf­brach und einen Plan er­wog, der den Ge­brauch ei­ner Waf­fe nö­tig mach­te. Wir kön­nen nicht wis­sen, wel­ches die­ser Plan war, aber die Tat­sa­che, dass er die Ei­sen­stan­ge in der Hand trug, be­vor er Wicks­teed traf, ist im­mer­hin über­zeu­gend.

      Na­tür­lich ken­nen wir die Ein­zel­hei­ten der Be­geg­nung nicht. Es war im Dickicht am Ran­de ei­ner Kies­gru­be, nicht zwei­hun­dert Schrit­te von Lord Bur­docks Parktor ent­fernt. Al­les deu­tet auf einen ver­zwei­fel­ten Kampf hin, der zer­tre­te­ne Bo­den, die zahl­rei­chen Wun­den, die der Kör­per Mr. Wicks­teeds auf­wies, sein zer­split­ter­ter Spa­zier­stock; aber warum der An­griff ge­sch­ah, wenn nicht aus pu­rer Mord­lust, ist schwer zu be­grei­fen. Es ist tat­säch­lich fast un­ver­meid­lich, an Wahn­sinn zu glau­ben. Mr. Wicks­teed, der Ver­wal­ter Lord Bur­docks, war ein Mann von etwa 55 Jah­ren und so fried­fer­tig von Na­tur und Ge­wohn­hei­ten, dass er der letz­te ge­we­sen wäre, einen so fürch­ter­li­chen Geg­ner zu rei­zen oder her­aus­zu­for­dern. Es scheint, dass der Un­sicht­ba­re aus ei­nem ei­ser­nen Git­ter eine Stan­ge her­aus­ge­bro­chen hat­te und die­se als Waf­fe ver­wen­de­te. Er trat dem ru­hig zu sei­nem Mit­ta­ges­sen nach Hau­se ge­hen­den Mann in den Weg, schlug ihn, der sich nur schwach ver­tei­dig­te, nie­der und zer­schmet­ter­te ihm das Haupt.

      Er muss ja, na­tür­lich, die Stan­ge aus dem Git­ter ge­ris­sen ha­ben, ehe er sei­nem Op­fer be­geg­ne­te – muss sie schon zur Hand ge­habt ha­ben. Nur zwei Ein­zel­hei­ten au­ßer den schon ge­nann­ten schei­nen von Be­lang. Ers­tens, dass die Kies­gru­be nicht an Mr. Wicks­teeds Heim­weg, son­dern fast ein paar hun­dert Schrit­te ent­fernt lag. Und zwei­tens die Be­haup­tung ei­nes klei­nen Mäd­chens, dass sie auf ih­rem Weg zur Schu­le nach­mit­tags den Er­mor­de­ten in ei­ner ganz merk­wür­di­gen Wei­se über einen Acker der Kies­gru­be zu stap­fen sah. So, wie sie sei­ne Art zu ge­hen nach­mach­te, muss man auf den Ge­dan­ken kom­men, dass der Mann ir­gend et­was vor sich auf der Erde ver­folg­te und dann und wann mit sei­nem Spa­zier­stock da­nach schlug. Die Klei­ne war die letz­te, die ihn le­bend sah. Er ent­schwand ih­ren Bli­cken, um sei­nem Tod ent­ge­gen­zu­ge­hen, und nur eine Grup­pe von Bu­chen und eine leich­te Bo­den­sen­kung ent­zog den Kampf ih­ren Au­gen.

      Dies könn­te viel­leicht zu ei­ner Art Er­klä­rung des sonst zweck­los schei­nen­den Mor­des die­nen. Man könn­te sich vor­stel­len, dass Grif­fin die Stan­ge al­ler­dings als Waf­fe ge­nom­men hat, je­doch ohne die be­stimm­te Ab­sicht, einen Mord zu be­ge­hen. Wicks­teed mag dann vor­über­ge­kom­men sein und die Stan­ge, die sich auf so un­er­klär­li­che Wei­se durch die Luft be­weg­te, ge­se­hen ha­ben. Ohne über­haupt eine Ah­nung von dem Un­sicht­ba­ren zu ha­ben – denn Port Bur­dock liegt zehn Mei­len weit von dort –, mag er sie ver­folgt ha­ben. Es ist ganz denk­bar, dass er nichts von dem Un­sicht­ba­ren ge­hört hat­te. Die­ser hat­te sich viel­leicht – um sei­ne An­we­sen­heit in der Nach­bar­schaft