Max Weber

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre


Скачать книгу

      Daß wir bei der »deutenden« Synthese eines individuellen historischen Vorganges oder einer historischen »Persönlichkeit« Wertbegriffe verwenden, deren »Sinn« wir selbst als stellungnehmende Subjekte handelnd und fühlend fortwährend »erleben«, ist ganz richtig. Dies ist jedoch zwar auf dem Gebiet der »Kulturwissenschaften« infolge der Eigenart ihres durch den Erkenntniszweck geformten und begrenzten Objekts am umfassendsten der Fall, aber durchaus nicht nur ihnen eigentümlich. »Deutungen« bilden z.B. den unvermeidlichen Durchgangspunkt auch der »Tierpsychologie«141, und »Deutungen« enthalten ihrem ursprünglichen Gehalt nach auch die »teleologischen« Bestandteile biologischer Begriffe. Aber wie hier an Stelle der metaphysischen Hineindeutung eines »Sinnes« die bloße Faktizität der mit Bezug auf die Daseinserhaltung »zweckmäßigen« Funktionen tritt, so an Stelle der »Wertung« die theoretische Wertbeziehung, an Stelle der »Stellungnahme« des erlebenden Subjekts das kausale »Verstehen« des deutenden Historikers. In all diesen Fällen tritt die Verwendung von Kategorien der »erlebten« und »nacherlebten« Wirklichkeit eben in den Dienst »objektivierender« Erkenntnis. Das hat methodisch wichtige und interessante Folgen, aber nicht die, welche Münsterberg voraussetzt. Welche? – könnte nur eine, soweit ersichtlich, heute kaum angebahnte Theorie der »Deutung« ergeben142. Hier kann nur im Anschluß an das vorstehend Gesagte noch einiges zur Feststellung der Lage und der möglichen Tragweite dieses Problems für uns bemerkt werden. –

      Die logisch weitaus entwickeltsten Ansätze einer Theorie des »Verstehens« finden sich in der zweiten Auflage von Simmels »Probleme der Geschichtsphilosophie« (S. 27-62)143. Die umfassendste methodologische Verwertung der Kategorie hat, und zwar teilweise unter dem Einfluß der Ausführungen Münsterbergs, für die Geschichte und die Nationalökonomie Gottl versucht144, während für die Aesthetik bekanntlich Lipps und B. Croce sich eingehender mit ihr beschäftigt haben.

      Simmel145 hat zunächst das Verdienst, innerhalb des weitesten Umkreises, den der Begriff des »Verstehens« – wenn man ihn in Gegensatz stellt zu dem »Begreifen«146 der nicht der »inneren« Erfahrung gegebenen Wirklichkeit – umfassen kann, das objektive »Verstehen« des Sinnes einer Aeußerung von der subjektiven »Deutung« der Motive eines (sprechenden oder handelnden) Menschen klar geschieden zu haben147. Im ersteren Fall »verstehen« wir das Gesprochene, im letzteren den Sprechenden (oder Handelnden). Simmel ist der Meinung, daß die erstere Form des »Verstehens« nur vorkomme, wo es sich um theoretische Erkenntnis, um ein Darbieten von sachlichem Inhalt in logischer Form handele, die – weil Erkenntnis – einfach in genau identischem Sinn erkennend nachgebildet werden könne. Das ist so nicht zutreffend. Um ein Verstehen nur des Gesprochenen handelt es sich z.B. auch bei dem Aufnehmen und Befolgen eines Kommandos, eines Appells an das Gewissen, an Wertgefühle und Werturteile des Hörers überhaupt, welches den Zweck hat, nicht ein theoretisches Deuten, sondern ein unmittelbar »praktisch« werdendes Fühlen und Handeln zu erzeugen. Gerade das Münsterbergsche »stellungnehmende«, d.h. wollende und wertende, Subjekt des wirklichen Lebens begnügt sich normalerweise mit dem Verstehen des Gesprochenen (korrekter ausgedrückt: des »Geäußerten«) und ist zu einer »Deutung« in dem Sinn, wie sie die »subjektivierenden« Wissenschaften Münsterbergs betreiben sollen, weder geneigt noch – in den meisten Fällen – fähig: die »Deutung« ist eine durchaus sekundäre, in der künstlichen Welt der Wissenschaft heimische Kategorie. Auf dem Boden des »stellungnehmenden« wirklichen Lebens hält sich dagegen auch das »Verstehen des Gesprochenen« in jenem Sinn, den Simmel im Auge hat. Hier handelt es sich bei dem »Verstehen« um ein Stellungnehmen zu dem »objektiven« Sinn eines Urteils. Die »verstandene« Aeußerung kann jede mögliche logische Form, auch natürlich die einer Frage haben, – stets ist das, worum es sich handelt, ihre Beziehung zur Geltung von Urteilen, eventuell eines einfachen Existenzurteils, zu dem der »Verstehende« bejahend, verneinend, zweifelnd, urteilsfällend »Stellung« nimmt. Simmel drückt das in seiner psychologistischen Formulierungsweise so aus, daß »durch das gesprochene Wort die Seelenvorgänge des Sprechenden ... auch im Hörer erregt werden«, der erstere als dabei »ausgeschaltet« und nur der Inhalt des Gesprochenen in dem Denken des letzteren, parallel zu demjenigen des ersteren, fortbestehen bliebe. Ich zweifle, ob durch diese psychologische Beschreibung der logische Charakter dieser Art des »Verstehens« hinlänglich scharf zutage tritt: irrig wäre m. E. – wie schon gezeigt – jedenfalls, daß der Vorgang dieses »Verstehens« nur bei »objektiver Erkenntnis« stattfände. Das Entscheidende ist, daß es sich in diesen Fällen von »Verstehen«: – eines Kommandos, einer Frage, einer Behauptung, eines Appells an Mitgefühl, Vaterlandsliebe oder dergleichen, – um einen Vorgang innerhalb der Sphäre der »stellungnehmenden Aktualität« handelt, um in der hier durchaus brauchbaren Münsterbergschen Terminologie zu reden. Mit diesem »aktuellen« Verstehen haben wir es bei unserer »Deutung« nicht zu tun. Diese letztere würde in solchen Fällen erst in Funktion treten, wenn z.B. der »Sinn« einer Aeußerung, einerlei welchen Inhalts, nicht unmittelbar »verstanden« ist, und eine aktuelle »Verständigung« darüber mit dem Urheber nicht möglich, ein »Verstehen« aber unbedingt praktisch nötig wäre: ein mehrdeutig abgefaßter schriftlicher Kommandobefehl z.B. – um auf dem Boden der »aktuellen« Lebenswirklichkeit zu bleiben – nötigt den Empfänger, etwa einen patrouillenführenden Offizier, zur »Deutung« desselben die »Zwecke«, d.h. aber die Motive des Befehls zu erwägen, um danach handeln zu können148. Die kausale Frage: wie ist der Befehl »psychologisch« entstanden, wird dabei also zu dem Zweck aufgeworfen, die »noëtische Frage« nach seinem »Sinn« zu lösen. Hier tritt die theoretische »Deutung« des persönlichen Handelns und eventuell der »Persönlichkeit« (des Befehlenden) in den Dienst des aktuell praktischen Zweckes.

      Wo sie in den Dienst der empirischen Wissenschaft tritt, da haben wir sie in der Gestalt, in welcher sie uns hier beschäftigt. Sie ist, wie gerade diese Auseinandersetzungen wieder zeigen: durchaus im Gegensatz zu Münsterbergs Aufstellungen, eine Form kausalen Erkennens, und es sind uns bisher noch keinerlei, im Sinne Münsterbergs, grundsätzliche Unterschiede gegenüber den Formen der »objektivierenden« Erkenntnis begegnet, – denn, daß das »Gedeutete« in ein »Subjekt«, d.h. aber hier: in ein psychophysisches Individuum, als dessen Vorstellung, Gefühl, Wollen »introjiziert« wird, bedingt einen solchen Unterschied gerade nach Münsterbergs Ansicht ja nicht149. Für die weitere Erörterung des Wesens der »Deutung« knüpfen wir nun zweckmäßigerweise zunächst an die Ansichten von Gottl an. Denn wir können seine Ausführungen bequem als Anknüpfungspunkt benutzen, um uns klar zu machen, worin die erkenntnistheoretische Bedeutung der »Deutbarkeit« nicht besteht150. Dadurch wird es möglich, auch zu einigen noch unerledigten wichtigen Thesen Münsterbergs, auf dem Gottl (in seiner zweiten Schrift) fußt, Stellung zu nehmen und zugleich Simmels Formulierungen entweder zu verwerten oder unter Angabe der Gründe abzulehnen151. Dabei soll, soweit dies in unseren Zusammenhang gehört, auch eine kurze Auseinandersetzung mit den Ansichten von Lipps und Croce versucht werden.

      Nach Gottl ist das »historische« Erkennen seinem Wesen nach im Gegensatz zur »Erfahrung« der Naturwissenschaften:

      1. Erschließung des zu Erkennenden. Das heißt: es setzt mit einem Akt – wie wir sagen würden – deutenden Durchschauens des Sinnes menschlicher Handlungen ein, und schreitet fort, indem immer neue deutend erfaßte Bestandteile des Zusammenhanges der historischen Wirklichkeit angegliedert, immer neue einer »Deutung« zugängliche »Quellen« auf den Sinn jenes Handelns hin, dessen Spuren sie sind, erschlossen und so ein stets umfassenderer Zusammenhang sinnvollen Handelns gebildet wird, dessen Einzelbestandteile sich gegenseitig stützen, weil der gesamte Zusammenhang für uns »von innen heraus« durchsichtig bleibt. Dieses »Erschließen« ist nach Gottl dem Erkennen menschlichen Handelns eigentümlich und scheidet es von aller Naturwissenschaft, als welche stets nur im Weg von Analogieschlüssen die Annäherung an ein möglichstes Maximum der Wahrscheinlichkeit – durch immer wiederkehrende Bewährung der hypothetischen »Gesetze« – erstreben könne. Hier ist