Max Weber

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre


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wie ihn die Kulturwissenschaften unzählige Male brauchen – sind uns in ihrem Sinn, ihrem »Mit-, Aus- und Wegen-einander« (um mit Gottl zu reden) ganz und gar nicht unmittelbar »deutbar«. Sondern – wie am klarsten etwa beim ästhetischen Genuß, nicht minder aber auch z.B. bei klassenbedingtem inneren Sichverhalten zutage tritt – es ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, daß sie uns in all diesen Hinsichten durch Interpretation an der Hand der Analogie, d.h. unter Heranziehung fremder »Erlebungen«, die zum Zweck der Vergleichung denkend gewählt sind, also ein bestimmtes Maß von Isolation und Analyse als vollzogen unbedingt voraussetzen, nicht nur »gedeutet« werden können, sondern in dieser Weise geradezu kontrolliert und analysiert werden müssen, wenn anders sie jenen Charakter der Klarheit und Eindeutigkeit annehmen sollen, mit dem Gottl als einem a priori operiert. Die dumpfe Ungeschiedenheit des »Erlebens« muß – zweifellos auch nach Gottls Ansicht – gebrochen sein, damit auch nur der erste Anfang wirklichen »Verstehens« unsrer selbst einsetzen kann. Wenn man sagt, daß jedes »Erlebnis« das Gewisseste des Gewissen sei, so trifft dies natürlich darauf zu, daß wir erleben. Was wir aber eigentlich erleben, dessen kann auch jede »deutende« Interpretation erst habhaft werden, nachdem das Stadium des »Erlebens« selbst verlassen ist und das Erlebte zum »Objekt« von Urteilen gemacht wird, die ihrerseits ihrem Inhalt nach nicht mehr in ungeschiedener Dumpfheit »erlebt«, sondern als »geltend« anerkannt werden. Dies »Anerkennen«, als ein Bestandteil des Stellungnehmens gedacht, kommt aber nicht, wie Münsterberg seltsamerweise annimmt, dem fremden »Subjekt«, sondern der Geltung eigner und fremder Urteile zu. Das Maximum der »Gewißheit« aber im Sinn des Geltens – und nur in diesem Sinn hat irgend eine Wissenschaft damit zu schaffen – haftet an Sätzen wie 2 X 2 = 4, nachdem sie einmal »anerkannt« sind, nicht aber an dem unmittelbaren, aber ungeschiedenen Erlebnis, welches wir jeweils »haben« oder, was dasselbe ist, eben »sind«. Und die Kategorie des »Geltens« tritt alsbald in ihre formende Funktion, sobald die Frage nach dem »Was«? und »Wie«? des Erlebten auch nur vor unserm eignen Forum aufgeworfen wird und gültig beantwortet werden soll157. – Darauf wie dies geschieht, kommt es aber für die Beurteilung des logischen Wesens der »deutend« gewonnenen Erkenntnis allein an, und damit allein werden wir uns hier weiterhin beschäftigen.

III. Knies und das Irrationalitätsproblem.

       4) Die »Einfühlung« bei Lipps und die »Anschauung« bei Croce S. 105. – »Evidenz« und »Geltung« S. 115. – Heuristisches »Gefühl« und »suggestive« Darstellung des Historikers S. 118. – Die »rationale« Deutung S. 126. – Die doppelte Wendung der Kausalitätskategorie und das Verhältnis zwischen Irrationalität und Indeterminismus S. 132. – Der Begriff des Individuums bei Knies. Anthropologischer Emanatismus S. 138.

      Für die Erörterung der logischen Stellung des »Deutens« (in dem hier festgehaltenen Sinne) ist zunächst ein Blick auf gewisse moderne Theorien über seinen psychologischen Hergang unvermeidlich.

      Nach Lipps158, welcher, wennschon wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Begründung der ästhetischen Werte, eine eigenartige Theorie der »Deutung« entwickelt hat, ist das »Verstehen« der »Ausdrucksbewegung« eines anderen, z.B. eines Affektlautes, »mehr« als bloßes »intellektuelles Verständnis« (S. 106). Es enthält »Einfühlung«, und diese für Lipps grundlegende Kategorie ist ihrerseits (nach ihm) ein Seitentrieb der »Nachahmung«, nämlich die ausschließlich »innere« Nachahmung eines Vorganges (S. 120), z.B. des Seiltanzens eines Akrobaten – als eines »eigenen«. Und zwar ist es nicht reflektierende Betrachtung des fremden Tuns, sondern eigenes, aber rein innerlich bleibendes »Erlebnis«, neben welchem das »Urteil«, daß – im Beispiel – nicht ich, sondern eben der Akrobat auf dem Seile steht, »unbewußt« bleibt (S. 122)159. Aus dieser »vollkommenen« Einfühlung, welche also ein gänzliches inneres Hineingehen des »Ich« in dasjenige Objekt, in welches man sich »einfühlt«: – ein wirkliches phantastisches, eigenes (inneres) Tun also, nicht etwa ein bloß phantasiertes, d.h. zum Objekt einer »Vorstellung« gemachtes Tun160, – bedeutet, und welches Lipps als ästhetische »Einfühlung« zur konstitutiven Kategorie des ästhetischen Genusses erhebt, entwickelt (nach ihm) sich das »intellektuelle Verständnis« dadurch, daß, um im Beispiel zu bleiben, zunächst jenes »unbewußte« Urteil: – »nicht ich, sondern der Akrobat steht (oder: stand) auf dem Seil« – ins Bewußtsein erhoben, und damit das »Ich« in ein »vorgestelltes« (auf dem Seil) und ein »reales« (jenes andre sich vorstellendes) sich zerspaltet (S. 125), so daß alsdann die – wie Münsterberg sagen würde: – »Objektivierung« des Vorganges, insbesondere also seine kausale Interpretation, beginnen kann. Ohne vorangegangene kausale »Erfahrung« ist andererseits aber »Einfühlung« nicht möglich: ein Kind »erlebt« den Akrobaten nicht. Aber – dürfen wir in Lipps' Sinne einschalten – diese »Erfahrung« ist nicht das objektivierte Produkt nomologischer Wissenschaft, sondern die anschaulich »erlebte« und erlebbare, mit dem Begriff des »Wirkens«, der »wirkenden Kraft«, des »Strebens« verknüpfte Subjektkausalität des Alltags. Dies äußert sich insbesondere bei der »Einfühlung« in reine »Naturvorgänge«. Denn die Kategorie der »Einfühlung« ist nach Lipps keineswegs auf »psychische« Vorgänge beschränkt. Wir »fühlen« uns vielmehr auch in die physische Außenwelt ein, indem wir Bestandteile ihrer als Ausdruck einer »Kraft«, eines »Strebens«, eines bestimmten »Gesetzes« usw. gefühlsmäßig »erleben« (S. 188), und diese phantastisch »erlebbare«, anthropomorphe individuelle Kausalität in der Natur ist nach Lipps die Quelle der »Naturschönheiten«. Die »erlebte« Natur besteht im Gegensatz zur objektivierten, d.h. in Relationsbegriffe aufgelösten oder aufzulösenden, aus »Dingen« ganz ebenso, wie das erlebte eigene »Ich« ein Ding ist, – und der Unterschied zwischen »Natur« und »Ich« liegt eben darin, daß das »erlebte Ich« das einzige reale »Ding« ist, von dem alle »Natur«individuen ihre anschaulich »erlebbare« Dinghaftigkeit und »Einheit« zu Lehen tragen (S. 196).

      Wie man nun auch über den Wert dieser Aufstellungen für die Begründung der Aesthetik denken mag: für logische Erörterungen ist vor allem daran festzuhalten, daß das »individuelle Verstehen« – wie das ja auch bei Lipps wenigstens angedeutet ist – nicht ein »eingefühltes Erlebnis« ist. Aber jenes entwickelt sich auch nicht in der Art aus diesem, wie Lipps es darstellt. Wer sich in den Lippsschen Akrobaten »einfühlt«, »erlebt« ja weder, was dieser auf dem Seil »erlebt«, noch was er »erleben« würde, wenn er selbst auf dem Seil stände, sondern etwas dazu nur in durchaus nicht eindeutigen, phantastischen Beziehungen Stehendes, und deshalb vor allem: etwas, was nicht nur keinerlei »Erkenntnis« in irgendeinem Sinne enthält, sondern auch garnicht das »historisch« zu erkennende Objekt enthält. Denn dies wäre eben doch im gegebenen Falle das Erlebnis des Akrobaten und nicht dasjenige des Einfühlenden. Nicht eine »Spaltung« des einfühlenden Ich tritt also ein, sondern die Verdrängung des eigenen Erlebnisses durch die Besinnung auf ein fremdes als »Objekt«, wenn die Reflexion beginnt. Richtig ist nur, daß auch das »intellektuelle Verständnis« in der Tat ein »inneres Mitmachen«, also »Einfühlung«, in sich schließt, – aber, sofern es »Erkenntnis« beabsichtigt und erzielt, ein »Mitmachen« zweckvoll gewählter Bestandteile. Die Ansicht, daß die Einfühlung »mehr« sei als bloßes »intellektuelles Verständnis«, kann also nicht ein Plus an »Erkenntniswert« im Sinne des »Geltens« behaupten, sondern besagt nur, daß kein objektiviertes »Erkennen«, sondern reines »Erleben« vorliegt. Im übrigen ist entscheidend, ob die von Lipps dem »Ich« und nur ihm zugeschriebene reale »Dinghaftigkeit« Konsequenzen für die Art der wissenschaftlichen Analyse »innerlich nacherlebbarer« Vorgänge haben soll. Die letztgenannte Frage aber bildet einen Bestandteil des universelleren Problems nach der logischen Natur der »Dingbegriffe«, dessen allgemeinste Formulierung wiederum sich dahin zuspitzen läßt: gibt es denn überhaupt Dingbegriffe? Man hat es immer wieder geleugnet, und welche Konsequenzen dieser Standpunkt für die logische Beurteilung speziell der Geschichte haben muß, zeigt neuestens wieder in typischer Weise der geistvolle italienische Widerpart der Ansichten von Lipps und des Psychologismus überhaupt in der Philologie und Aesthetik: Benedetto Croce161. »Dinge sind Anschauungen«, meint Croce, »Begriffe