Max Weber

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre


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Durchgangsstufe für das »intellektuelle Verständnis«. Die volle Verdeutlichung der historisch relevanten Bestandteile der »inneren Entwickelung« einer »historischen Persönlichkeit« (etwa Goethes oder Bismarcks) oder auch nur ihres konkreten Handelns in einem konkreten historisch relevanten Zusammenhang pflegt in der Tat nur durch Konfrontation möglicher »Wertungen« ihres Verhaltens gewonnen zu werden, so unbedingt die Ueberwindung dieser psychologischen Durchgangsstufe in der Genesis seines Erkennens vom Historiker beansprucht werden muß. Wie in dem früher benutzten Beispiel des Patrouillenführers die kausale Deutung in den Dienst des praktischen »Stellungnehmens« trat, indem sie das noëtische »Verstehen« der aus sich selbst nicht eindeutigen Order ermöglichte, so tritt in diesen Fällen umgekehrt die eigene »Wertung« als Mittel in den Dienst des »Verstehens«, und das heißt hier: der kausalen Deutung fremden Handelns186. In diesem Sinn und aus diesem Grund ist es richtig, daß gerade eine ausgeprägte »Individualität« des Historikers, d.h. aber: scharf präzisierte »Wertungen«, die ihm eigen sind, eminent leistungsfähige Geburtshelfer kausaler Erkenntnis sein können, so sehr sie auf der andern Seite durch die Wucht ihres Wirkens die »Geltung« der Einzelergebnisse als Erfahrungswahrheit auch wieder zu gefährden geeignet sind187.

      Um hiermit diese notgedrungen etwas eintönige Auseinandersetzung mit den mannigfachen, in allerhand Farben und Formen schillernden Theorien, von der angeblichen Eigenart der »subjektivierenden« Disziplinen und der Bedeutung dieser Eigenart für die Geschichte abzuschließen, so ist das Ergebnis lediglich die eigentlich recht triviale, aber trotz allem immer wieder in Frage gestellte Einsicht, daß weder die »sachlichen« Qualitäten des »Stoffes« noch »ontologische« Unterschiede seines »Seins«, noch endlich die Art des »psychologischen« Herganges der Erlangung einer bestimmten Erkenntnis über ihren logischen Sinn und über die Voraussetzungen ihrer »Geltung« entscheiden. Empirische Erkenntis auf dem Gebiet des »Geistigen« und auf demjenigen der »äußern« »Natur«, der Vorgänge »in« uns und derjenigen »außer« uns ist stets an die Mittel der »Begriffsbildung« gebunden, und das Wesen eines »Begriffs« ist auf beiden sachlichen »Gebieten« logisch das gleiche. Die logische Eigenart »historischer« Erkenntnis im Gegensatz zu der im logischen Sinn »naturwissenschaftlichen« hat mit der Scheidung des »Psychischen« vom »Physischen«, der »Persönlichkeit« und des »Handelns« vom toten »Naturobjekt« und »mechanischen Naturvorgang« durchaus nichts zu schaffen188. Und noch weniger darf die »Evidenz« der »Einfühlung« in tatsächliche oder potentielle »bewußte« innere »Erlebungen« – eine lediglich phänomenologische Qualität der »Deutung« – mit einer spezifischen empirischen »Gewißheit« »deutbarer« Vorgänge identifiziert werden. – Weil und soweit es uns etwas »bedeuten« kann, wird eine, physische oder psychische oder beides umfassende, »Wirklichkeit« von uns als »historisches Individuum« geformt; – weil es durch »Wertungen« und »Bedeutungen« bestimmbar ist, wird »sinnvoll« deutbares menschliches Sich-Verhalten (»Handeln«) in spezifischer Art von unserm kausalen Interesse bei der »geschichtlichen« Erklärung eines solchen »Individuums« erfaßt; – endlich: soweit es an sinnvollen »Wertungen« orientiert oder mit ihnen konfrontierbar ist, kann menschliches Tun in spezifischer Art »evident« »verstanden« werden. Es handelt sich also bei der besonderen Rolle des »deutbar« Verständlichen in der »Geschichte« um Unterschiede 1. unseres kausalen Interesses und 2. der Qualität der erstrebten »Evidenz« individueller Kausalzusammenhänge, nicht aber um Unterschiede der Kausalität oder der Bedeutung und Art der Begriffsbildung. –

      Es erübrigt jetzt nur noch, einer bestimmten Art der »deutenden« Erkenntnis einige Betrachtungen zu widmen: der »rationalen« Deutung mittels der Kategorien »Zweck« und »Mittel«. Wo immer wir menschliches Handeln als durch klar bewußte und gewollte »Zwecke« bei klarer Erkenntnis der »Mittel« bedingt »verstehen«, da erreicht dieses Verständnis unzweifelhaft ein spezifisch hohes Maß von »Evidenz«. Fragen wir nun aber, worauf dies beruhe, so zeigt sich als Grund alsbald der Umstand, daß die Beziehung der »Mittel« zum »Zweck« eine rationale, der generalisierenden Kausalbetrachtung im Sinn der »Gesetzlichkeit« in spezifischem Maße zugängliche ist. Es gibt kein rationales Handeln ohne kausale Rationalisierung des als Objekt und Mittel der Beeinflussung in Betracht gezogenen Ausschnittes aus der Wirklichkeit, d.h. ohne dessen Einordnung in einen Komplex von Erfahrungsregeln, welche aussagen, welcher Erfolg eines bestimmten Sich-Verhaltens zu erwarten steht. Zwar ist es in jedem Sinn grundverkehrt, wenn behauptet wird, die »teleologische«189 »Auffassung« eines Vorganges sei aus diesem Grunde als eine »Umkehrung« der kausalen zu begreifen190. Richtig aber ist, daß es ohne den Glauben an die Verläßlichkeit der Erfahrungsregeln kein auf Erwägung der Mittel für einen beabsichtigten Erfolg ruhendes Handeln geben könnte, und daß, im Zusammenhang damit, ferner bei eindeutigem gegebenen Zweck die Wahl der Mittel zwar nicht notwendig ebenfalls eindeutig, aber doch wenigstens nicht in gänzlich unbestimmter Vieldeutigkeit, sondern in einer Disjunktion von je nach den Umständen verschieden vielen Gliedern »determiniert« ist. Die rationale Deutung kann so die Form eines bedingten Notwendigkeitsurteils annehmen (Schema: bei gegebener Absicht x »mußte« nach bekannten Regeln des Geschehens der Handelnde zu ihrer Erreichung das Mittel y bzw. eines der Mittel y, y', y'' wählen) und daher zugleich mit einer teleologischen »Wertung« des empirisch konstatierbaren Handelns in Eins zusammenfließen (Schema: die Wahl des Mittels y gewährte nach bekannten Regelns des Geschehens gegenüber y' oder y'' die größere Chance der Erreichung des Zweckes x oder erreichte diesen Zweck mit den geringsten Opfern usw., die eine war daher »zweckmäßiger« als die andere oder auch allein »zweckmäßig«). Da diese Wertung rein »technischen« Charakters ist, d.h. lediglich an der Hand der Erfahrung die Adäquatheit der »Mittel« für den vom Handelnden faktisch gewollten Zweck konstatiert, so verläßt sie trotz ihres Charakters als »Wertung« den Boden der Analyse des empirisch Gegebenen in keiner Weise. Und auf dem Boden der Erkenntnis des wirklich Geschehenden tritt diese rationale »Wertung« auch lediglich als Hypothese oder idealtypische Begriffsbildung auf: Wir konfrontieren das faktische Handeln mit dem, »teleologisch« angesehen, nach allgemeinen kausalen Erfahrungsregeln rationalen, um so entweder ein rationales Motiv, welches den Handelnden geleitet haben kann, und welches wir zu ermitteln beabsichtigen, dadurch festzustellen, daß wir seine faktischen Handlungen als geeignete Mittel zu einem Zweck, den er verfolgt haben »könnte«, aufzeigen, – oder um verständlich zu machen, warum ein uns bekanntes Motiv des Handelnden infolge der Wahl der Mittel einen anderen Erfolg hatte, als der Handelnde subjektiv erwartete. In beiden Fällen aber nehmen wir nicht eine »psychologische« Analyse der »Persönlichkeit« mit Hilfe irgendwelcher eigenartiger Erkenntnismittel vor, sondern vielmehr eine Analyse der »objektiv« gegebenen Situation mit Hilfe unseres nomologischen Wissens. Die »Deutung« verblaßt also hier zu dem allgemeinen Wissen davon, daß wir »zweckvoll« handeln können, d.h. aber: handeln können auf Grund der Erwägung der verschiedenen »Möglichkeiten« eines künftigen Hergangs im Fall der Vollziehung jeder von verschiedenen als möglich gedachten Handlungen (oder Unterlassungen). Infolge der eminenten faktischen Bedeutung des in diesem Sinn »zweckbewußten« Handelns in der empirischen Wirklichkeit läßt sich die »teleologische« Rationalisierung als konstruktives Mittel zur Schaffung von Gedankengebilden verwenden, welche den außerordentlichsten heuristischen Wert für die kausale Analyse historischer Zusammenhänge haben. Und zwar können diese konstruktiven Gedankengebilde zunächst [1.] rein individuellen Charakters: Deutungs-Hypothesen für konkrete Einzelzusammenhänge sein, – so etwa in einem schon erwähnten Beispiel die Konstruktion einer, durch supponierte Zwecke einerseits, durch die Konstellation der »großen Mächte« anderseits, bedingten Politik Friedrich Wilhelms IV. Sie dient dann als gedankliches Mittel zu dem Zweck, seine reale Politik daran in bezug auf den Grad ihres rationalen Gehaltes zu messen und so einerseits die rationalen Bestandteile, andererseits die (mit bezug auf jenen Zweck) nicht rationalen Elemente seines wirklichen politischen Handelns zu erkennen, wodurch dann die historisch gültige Deutung jenes Handelns, die Abschätzung der kausalen Tragweite beider und so die gültige Einordnung der »Persönlichkeit« Friedrich Wilhelms IV. als kausalen Faktors in den historischen Zusammenhang ermöglicht wird. Oder aber – und das interessiert uns hier – sie können [2.] idealtypische Konstruktionen