Einer der Richter trat ins Zimmer, ein kleiner Mensch mit eckigen Schultern und traurigem Gesicht, der eine goldene Brille trug.
»Nun! es ist Zeit!« sagte er mit scharfer Stimme.
»Ich bin bereit,« versetzte der Präsident und zog seine Amtstracht an. »Aber Mathias Nikitisch kommt noch immer nicht!«
»Er treibt die Gewissenlosigkeit wirklich zu weit,« sagte der Richter, setzte sich ärgerlich und steckte sich eine Cigarette an.
Dieser Richter, ein ungewöhnlich pünktlicher Mensch, hatte am Vormittag eine höchst unangenehme Szene mit seiner Frau gehabt, weil diese das Geld, das er ihr für den Monat gegeben, zu schnell ausgegeben hatte. Sie hatte einen Vorschuß verlangt, und er hatte ihn ihr abgeschlagen; daher die Szene. Die Frau hatte erklärt, unter solchen Umständen würde es kein Essen geben, und hatte ihm vorher erklärt, er habe nichts zu erwarten. Darauf war er fortgegangen und fürchtete nun, sie könne ihre Drohung zur Ausführung bringen, denn er wußte, daß sie zu allem fähig war. »Da soll man ein tadelloses und anständiges Leben führen,« sagte er sich und betrachtete den Präsidenten, diesen von Gesundheit und guter Laune strotzenden dicken Mann, der mit aufgestützten Ellenbogen mit seinen schönen weißen Händen die dichten und sorgfältig gebürsteten Haare seines Backenbartes glattstrich, um sie zu den beiden Seiten seines galonnierten Kragens zu legen. »Er ist stets heiter und zufrieden, ich dagegen habe nur Unannehmlichkeiten!«
In diesem Augenblick trat der Gerichtsschreiber ein und brachte die Akten, die der Präsident verlangt hatte.
»Ich danke Ihnen,« sagte der Präsident und zündete sich ebenfalls eine Cigarette an. »Na, mit welcher Sache wollen wir anfangen?«
»Nun, mit dem Giftmordprozeß, – wenn Sie die Reihenfolge nicht ändern wollen!« versetzte der Gerichtsschreiber.
»Also gut, mit dem Giftmordprozeß,« sagte der Präsident, welcher annahm, das wäre eine sehr einfache Sache, die bis vier Uhr beendet sein konnte, so daß er frei war, zu seiner Schweizerin zu eilen.
»Ist Breuer gekommen?« fragte er den Gerichtsschreiber, der hinausgehen wollte.
»Ich glaube, ja!«
»Dann sagen Sie ihm, wenn Sie ihn treffen, wir fangen mit der Giftmordaffaire an.«
Breuer war der Staatsanwalt, der in dieser Schwurgerichtsperiode die Anklage vertreten sollte.
Thatsächlich traf ihn der Aktuar auf dem Korridor. Den Kopf vornüber geneigt, mit aufgeknöpftem Gehrock, die Aktenmappe unter dem Arm, ging er mit großen Schritten, lief fast, die Hacken zusammenschlagend und in fieberhafter Aufregung den Arm bewegend.
»Michel Petrowitsch fragt, ob Sie bereit sind?« sagte der Aktuar, ihn aufhaltend.
»Natürlich! Ich bin stets bereit. Womit wird angefangen?«
»Mit dem Giftmord!«
»Es ist gut!« versetzte der Staatsanwalt.
Noch tatsächlich fand er durchaus nicht, daß es gut war, er hatte die ganze Nacht in einem Wirtshaus mit andern jungen Leuten Karten gespielt; sie hatten einen Kameraden fortbegleitet; man hatte viel getrunken und bis fünf Uhr morgens gespielt, so daß der junge Staatsanwalt nicht einmal Zeit gefunden hatte, einen Blick in die Akten des Giftmordprozesses zu werfen, der verhandelt werden sollte, Der Aktuar wußte das, und absichtlich hatte er den Präsidenten veranlaßt, mit dieser Sache zu beginnen, die zu studieren der Staatsanwalt keine Zeit gehabt hatte. Dieser Aktuar war ein Liberaler, um nicht zu sagen, ein Radikaler, was ihn aber nicht hinderte, in der Magistratur mit einer Pension von 1200 Rubeln zu dienen und sich sogar um einen Staatsanwaltsposten zu bemühen. Breuer dagegen war konservativ und ein ganz besonders eifriger Orthodoxer, wie die meisten Deutschen, die in Rußland Beamte sind; deshalb hatte der Aktuar, abgesehen davon, daß er ihm seine Stellung beneidete, noch, eine persönliche Antipathie gegen ihn.
»Und die Anklage gegen die Skopsen?« fragte der Aktuar.
»Ich habe erklärt, daß die Verhandlung in Abwesenheit der Zeugen unmöglich ist,« versetzte der Staatsanwalt, »und werde das vor Gericht wiederholen.«
»Was thut das?«
»Unmöglich!« erwiderte der Staatsanwalt, schüttelte den Arm und lief in sein Kabinet.
Er verschob die Klage gegen die Skopsen, nicht wegen der Abwesenheit einiger unbedeutender Zeugen, sondern weil dieser Fall, wenn man ihn in einer großen Stadt, wo die meisten Geschworenen den gebildeten Klassen angehörten, verhandelte, mit einer Freisprechung auszulaufen drohte; daher hatte er sich mit dem Präsidenten dahin verständigt, daß der Fall vor die Geschworenen einer kleinen Stadt gebracht werden sollte, wo die Jury zum großen Teile aus Bauern gebildet wurde und die Verurteilung deshalb leichter durchzusetzen war.
Inzwischen war das Treiben auf den Gängen noch stärker geworden. Die Menge drängte sich namentlich vor dem Zivilgerichtssaal, wo einer jener Fälle verhandelt wurde, die man gewöhnlich als interessant bezeichnet, derselbe, von dem die wichtig thuende Persönlichkeit im Geschworenenzimmer so eingehend gesprochen hatte. Ohne einen Schimmer von Verstand oder moralischem Recht, aber in streng gesetzmäßiger Weise hatte sich ein Advokat des ganzen Vermögens einer alten Dame bemächtigt. Die Klage der alten Frau war vollständig berechtigt. Die Richter wußten das, und noch mehr wußten es der Gegner und sein Advokat, doch dieser Advokat war so geschickt zu Werke gegangen, daß die alte Frau notgedrungen verlieren mußte.
Im Augenblick, da der Aktuar in die Kanzlei hineingehen wollte, sah er gerade vor sich im Korridor die alte Dame, die eben in aller Form rechtens ihres Vermögens beraubt worden war. Es war eine dicke Frau mit ungeheuer großen Blumen auf dem Hut. Sie kam aus dem Sitzungssaal, streckte ihre Hände danach aus und wiederholte fortwährend: »Was soll daraus werden? Was soll daraus werden?« Dann fing sie an, eine sehr verwickelte Geschichte zu erzählen, die mit ihrer Sache gar nichts zu thun hatte. Der Advokat betrachtete die Blumen ihres Hutes, nickte zustimmend mit dem Kopfe und hörte augenscheinlich gar nicht auf sie.
Plötzlich öffnete sich eine kleine Thür und strahlend, sein steifes Hemd auf der tiefausgeschnittenen Weste zeigend, erschien schnellen Schrittes mit zufriedener Miene derselbe berühmte Advokat, der es bewirkt hatte, daß die alte Frau mit den Blumen ohne alle Mittel dastand, und daß der Gegner gegen Zahlung von 10 000 Rubeln, die er ihm für sein Plaidoyer gegeben hatte, 100 000 erhielt, auf die er kein Anrecht hatte. Er ging an der alten Dame vorüber. Aller Augen wandten sich ihm respektvoll zu und er war sich dessen auch klar, doch seine ganze Persönlichkeit schien zu sagen: »Bitte, meine Herren, sparen Sie die Zeichen Ihrer Bewunderung!«
Endlich kam Mathias Nikitisch, der Richter, auf den man wartete. Sofort sahen die Geschworenen den Gerichtsnuntius, einen kleinen, mageren Mann mit zu langem Hals und ungleichmäßigem Gange, in das Zimmer treten, in welchem sie versammelt waren. Dieser Nuntius war übrigens ein braver Mann, der alle seine Studien auf der Universität absolviert hatte; doch er konnte es nirgends aushalten, weil er trank. Vor drei Monaten hatte ihm eine Gräfin, die sich für seine Frau interessierte, diese Stellung als Nuntius im Justizgebäude verschafft, und er hatte sich bis jetzt dort zu halten vermocht, worüber er sich wie über ein Wunder freute.
»Nun, meine Herren, sind alle da?« fragte er, setzte sein Pincenez, bald darüber weg ansah.
»Ich glaube, ja,« versetzte der joviale Kaufmann.
»Wir wollen 'mal sehen,« sagte der Nuntius.
Er zog eine Liste aus der Tasche und begann die Namen