du was wüßtest?« hakte Heli ein.
»Ach, nichts«, entgegnete ihre Mutter rasch, versank aber gleich wieder ins Grübeln.
Als Viktoria, beladen mit Paketen, zurückkam, stand Maria Dosch an der Rezeption. Sie hatte Heli weggeschickt, denn ihr war eine Erinnerung gekommen.
»Vicky!« rief sie leise.
Viktoria zuckte zusammen. Ängstlich blickte sie sich um.
»Es ist niemand da, der uns belauschen kann«, sagte die Ältere. »Viktoria Lindberg, warum habe ich dich nicht gleich erkannt.«
»Wahrscheinlich habe ich mich doch sehr verändert«, äußerte Viktoria ironisch.
»Meinst du, daß Till dich nicht erkennen wird?« fragte Maria. »Heli hat es mir brühwarm erzählt.«
»Und du?«
»Ich sage nichts, wenn du es nicht willst, Vicky. Ich kann’s nicht glauben, Mädchen. Entschuldige, wenn mir die Zunge durchgeht.«
»Wirst du es Till sagen, Maria?« fragte Viktoria verhalten.
»Kein Wort! Wenn er so blind ist, daß er dich nicht erkennt, ist ihm nicht zu helfen. Aber was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich kann noch zu etwas nütze sein«, flüsterte Viktoria. »Ich muß mich sputen, daß ich den Bus bekomme. Bitte, schweig!«
»Ich bringe dich hin. Du kannst doch das ganze Zeug nicht allein schleppen. Mädchen, ich bin ganz durcheinander. Warte, ich hole meinen Mantel.«
*
»Woran hast du mich erkannt?« fragte Viktoria, als sie nebeneinanderher gingen.
»An deinen Zähnen, ja, an deinen Zähnen. Die kleine Ecke da vorn hast du dir abgestoßen, als du bei uns hingefallen bist. Und ich war schuld, weil ich Öl ausgeschüttet hatte.«
Sie machte eine kleine Pause. »Wenn der Till dich genau anguckt, wird er auch drauf kommen. Warum gehst du zu ihm, Vicky?«
»Ich weiß es nicht. Die Kinder haben mir leid getan.«
»Und was ist mit deiner Karriere?«
»Schau dir doch den Arm an«, sagte Viktoria. »Es ist aus und vorbei, und du wirst es mir nicht glauben, aber ich bin darüber hinweg.«
»Und warum gehst du nicht zu Onkel Korbinian?«
»Das hatte ich eigentlich vor. Sehen wollte ich ihn wenigstens. Jetzt muß ich erst zur Ruhe kommen. Irgendwann werde ich schon mal Zeit haben, daß wir länger miteinander reden können. Aber bitte, Maria, sprich mit niemandem über mich!«
»Kannst dich drauf verlassen, Vicky.«
»Hab Dank, daß du es mir nicht nachträgst, daß ich nie etwas von mir hören ließ. Ich war gefangen in dieser Welt, aber heute weiß ich, daß ich eine Gefangene war. Es ist nichts übriggeblieben, nichts, was mir noch etwas bedeuten könnte. War Till glücklich mit seiner Frau?« fragte sie dann leise.
»Glücklich? Ich weiß nicht, Vicky. Sie war ein liebes, gutes Menschenkind, aber du…«
»Komm bald mal wieder, Vicky!« flüsterte Maria Dosch noch, und verstohlen wischte sie sich ein paar Tränen ab. »Jetzt werde ich ja hierbleiben«, erklärte Viktoria.
Maria Dosch ging langsam zurück, ganz langsam, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.
Sie war mit Viktorias Mutter befreundet gewesen. Sie kannte die kleine Vicky von Geburt an, und die Lindbergs hatten Marias viel jüngere Schwester Leni bei sich aufgenommen, nachdem ihre Eltern gestorben waren.
Leni war immer fürs Praktische gewesen. Sie hatte sich als Haushaltshilfe bei den Lindbergs ein schönes Taschengeld verdient, und gut hatte sie es auch bei ihnen gehabt.
Und dann war dieser schreckliche Winter gekommen mit der Grippeepidemie, die beide Lindbergs hinweggerafft hatte. Die kleine Vicky, erst zwölf Jahre, war zum Onkel Korbinian gekommen, dem alten Gruber-Bauern, dem reichen, eigensinnigen Eigenbrötler.
Allen hatte die kleine Vicky leid getan, aber ändern konnte niemand etwas daran. Doch eins mußte man dem Gruber-Bauern lassen: Ganz vernarrt war er in das Kind gewesen, und eifersüchtig hatte er es bewacht.
Als dann die erste Liebe zwischen Till, dem Gärtnerssohn, und Vicky keimte, hatte Maria Dosch oft herhalten müssen, damit Vicky sich ein Alibi verschaffte. Und sie hatte es gern getan, weil sie fest daran glaubte, daß aus den beiden mal ein Paar werden würde.
Und doch war alles ganz anders gekommen, als man Vickys Talent entdeckte, als auch der Korbinian mit all seinem Einfluß nichts dagegen ausrichten konnte, daß sie ihren Weg in die Welt ging.
Geschimpft und gewettert hatte er, und auch gesagt, daß er sie enterben würde und sie ihm nie mehr unter die Augen kommen sollte. Und manche hatten doch gewußt, daß er nichts anderes erhoffte, als daß ihre Träume sich zerschlagen würden und sie doch wieder den Weg zu ihm fände.
Und der Till? Marias Gedanken waren bei ihm angelangt. Aber da kam ihr Heli entgegengelaufen.
»Du bist vielleicht eine Mutti!« sagte sie vorwurfsvoll. »Schickst mich weg und gehst selber los, und niemand ist am Empfang!«
»Ich hab die…« Sie verschluckte sich fast, weil sie sich nun beinahe verplappert hätte. »Frau… Burg zum Bus gebracht. Es gehört sich ja wohl. Schließlich war sie zahlender Gast bei uns, und die Koffer hätte sie nicht tragen können mit ihrem Arm.«
»Was hat sie denn mit dem Arm?« fragte Heli bestürzt. »Ich hab doch gar nichts bemerkt.«
»Einen schweren Unfall hatte sie mal. Sie hat es mir erzählt«, erwiderte Maria Dosch hastig. »Kraft hat sie keine mehr.«
»Und da will sie einen Haushalt mit zwei Kindern bewältigen?« wunderte sich Heli.
»Der Till wird froh sein, wenn er überhaupt jemanden hat«, meinte Maria Dosch. »Ich bin schon arg froh und hoffe, daß alles gut wird.«
Hell konnte nur noch den Kopf schütteln über ihre Mutter.
*
Corri weinte herzzerreißend, weil Ria nicht da war, und Christoph bombardierte seinen Vater mit empörten Blicken.
»Du hast sie wieder weggeschickt!« sagte er aggressiv.
»Ich habe sie nicht weggeschickt, sie holt ihre Koffer. Sie wird bald wiederkommen.«
»Und wenn sie nicht wiederkommt?« Nun heulte auch Christoph los. »Hätte ich bloß nicht geschlafen! Du warst bestimmt nicht lieb zu ihr!«
»Nun wartet doch erst mal ab«, seufzte Till resigniert. »Der Bus muß gleich kommen. Ich fahre schnell mal runter, damit sie ihre Koffer nicht zu tragen braucht. Paßt du auf Corri auf, Christoph?«
»Aber wehe, wenn du Ria nicht mitbringst!« stieß der Junge trotzig hervor. »Dann gucke ich dich nicht mehr an!«
Gott gebe, daß sie wiederkommt, dachte Till, als er den Wagen aus der Garage holte.
Er sah den Bus schon kommen, als er die Straße erreichte, die man vom Haus aus nicht sehen konnte. Und er sah sie, die schon an der Tür stand.
Er sprang aus seinem Wagen und eilte auf sie zu. Viktoria war wie erstarrt, als sie in seine hellen Augen schaute, in denen sie so viel Dankbarkeit und Erleichterung las.
»Zu Fuß ist es doch ein bißchen weit«, murmelte er, »und die Koffer sollten Sie nicht tragen. Christoph paßt schon auf Corri auf. Sie ahnen ja nicht, wie froh ich bin, daß Sie wiederkommen!«
Es fiel ihr unsagbar schwer, sich weiterhin als Fremde zu geben. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Ein jähes Erschrecken war plötzlich in ihr.
Was waren das für Gedanken, für Wünsche, die da erwachten? Zehn Jahre waren doch nicht ungeschehen zu machen, nicht einfach wegzustreichen. Sie waren beide nicht mehr die, die sie früher gewesen waren. Gewaltsam versuchte