Patricia Vandenberg

Im Sonnenwinkel Staffel 3 – Familienroman


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Wenn ich doch nur ihre Augen sehen könnte. Bestimmt hat sie ganz andere Augen als Vicky, und Vicky hatte auch nicht eine so gerade Nase gehabt. Sie hatte sich immer darüber geärgert, daß sie einen winzigen Schwung nach oben hatte.

      Er war sich nicht bewußt geworden, daß seine innere Auflehnung der eigentliche Grund war, daß er Vicky nicht erkannte. Er wollte sich überzeugen, daß er sich diese Ähnlichkeiten nur einredete, er wollte die innere Stimme zum Schweigen bringen, die ihm da sagte: Das ist Vicky, das muß sie sein, wenn sie auch ein anderes Gesicht hat!

      Aber man bekam doch nicht so einfach ein anderes Gesicht. Und wenn man so eine berühmte Pianistin geworden war, ging man nicht in die Heimat zurück, um bei dem Jugendfreund Haushälterin zu spielen.

      Till schalt sich all diesen Gedanken. Er war müde, sein Kopf schmerzte, und seine Augen brannten. Morgen brauche ich nicht schon halb sechs Uhr aufstehen, dachte er, als er den Wecker stellte. Und dann kam der Schlaf und mit ihm die Träume, in denen Vickys und Rias Gesicht ineinanderflossen…

      *

      Viktoria wurde von etwas Feuchtem geweckt, das ihre Wange berührte. Es war Christophs Mund.

      »Hat der Wecker denn schon geklingelt?« fragte sie, zu verwirrt, um diesen zärtlichen Augenblick auszukosten.

      »Ich wache immer von allein auf«, wisperte Christoph. »Papi muß uns doch immer ganz früh fertig machen und in den Kindergarten bringen.«

      »Jetzt braucht ihr nicht mehr in den Kindergarten, und von jetzt an wird länger geschlafen, Christoph.«

      Sie sah, daß es noch nicht ganz sechs Uhr war. Liebe Güte, so früh hatte Till immer schon aufstehen müssen.

      »Ich wollte auch nur mal gucken, ob du noch da bist«, gab Christoph zu. »Du siehst sehr hübsch aus ohne Brille, Ria.«

      Sie mußte unwillkürlich lachen.

      »Mach jetzt keine Komplimente, sondern leg dich wieder hin. Du bist ja noch so müde.«

      »Könnte ich nicht ein bißchen bei dir bleiben?« fragte er.

      »Und was wird der Papi dazu sagen?«

      »Er braucht es doch nicht zu wissen. Er traut sich bestimmt nicht in dein Zimmer«, flüsterte er. »Er macht sich seinen Kaffee auch allein.«

      »Von heute an nicht mehr«, erklärte sie. »Na schön, fünf Minuten, du Schlingel.«

      Blitzschnell kroch er unter die Decke. Zärtlich rieb er sein Näschen an ihrer Schulter.

      »Es ist so schön, daß du da bist, Ria«, flüsterte er. »So schön war es noch nie. Und wenn du keine Brille aufhast, siehst du wie das Christkind aus.«

      Es blieb natürlich nicht bei den fünf Minuten, und als er fürchten mußte, daß sie ihn daran erinnerte, schloß er die Augen und dann war er auch schon wieder eingeschlafen.

      Sie stand schnell auf, als sie im Bad das Wasser rauschen hörte. Sie nahm sich nicht lange Zeit für die Morgentoilette. Nein, jetzt sollte Till sich den Kaffee nicht mehr allein bereiten müssen.

      Er hatte nicht gehört, daß sie in die Küche gegangen war. Ganz erschrocken sah er sie an, als er eintrat.

      »Guten Morgen«, sagte sie heiter.

      »Guten Morgen. Aber meinetwegen brauchen Sie nicht so früh aufzustehen.«

      Er war bei weitem nicht so gelassen wie sie. Er sah aus wie ein großer, verlegener Junge. Etwa so wie an jenem Tag, als er ihr eine Rose mitbrachte. Verschämt hatte er sie unter seiner Jacke verborgen gehalten. Daran mußte sie jetzt denken.

      Natürlich hatte sie jetzt wieder die Brille auf, und er konnte in ihren Augen nicht den weichen Schimmer sehen. Aber er sah ihren lächelnden Mund und starrte fasziniert darauf. Irgend etwas, eine winzige Kleinigkeit, verwirrte ihn.

      Aber wieder dachte er, daß er sich etwas einredete.

      »Möchten Sie das Ei hart oder weich?« fragte sie, obgleich sie ganz genau wußte, daß er nur hartgekochte Eier mochte.

      »Eigentlich hatte ich in der Früh nie Zeit, etwas zu essen«, erwiderte er.

      »Dann werden Sie sich jetzt wieder daran gewöhnen. Mit einem guten Frühstück beginnt der Tag noch mal so schön.«

      »Daß Christoph noch gar nicht munter ist«, bemerkte er, als er sich am Tisch niederließ.

      »Er war es schon. Ich habe ihn wieder ins Bett gesteckt.« Sie verriet allerdings nicht, daß er in ihrem Bett lag.

      »Er könnte auch weiter in den Kindergarten gehen. Wäre das nicht eine Entlastung für Sie?« fragte Till.

      »Nein. Er könnte es als ungerecht empfinden.«

      »Sie scheinen von Kindern eine ganze Menge zu verstehen«, äußerte Till beiläufig.

      »Das ist reine Gefühlssache. Bisher hatte ich noch gar nicht mit Kindern zu tun. Leider…!«

      »Was haben Sie denn bisher gemacht, Ria?« fragte er nebenbei.

      »Nichts, was von Bedeutung gewesen wäre.«

      Sie wandte sich ab, als er sie forschend anblickte.

      »Ach, ich wollte ja keine Fragen stellen«, murmelte er.

      »Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar«, sagte sie gepreßt. »Es macht alles leichter.«

      Und in diesem Augenblick wußte er es. Ganz deutlich wurde es ihm bewußt, daß er Viktoria vor sich sah. Aber er hatte sich in der Gewalt. Er sprach es nicht aus.

      Er hatte keine Erklärung dafür, daß er schwieg. Es war wieder die innere Stimme, die ihn warnte. Und er mußte auch erst mit sich selbst ins reine kommen.

      Es war ein Glück, daß Corri sich meldete und Viktoria sofort zu ihr lief. Vielleicht hätten schon die nächsten Sekunden eine Entscheidung herbeigeführt, die Till in dem Wirrwarr seiner Gefühle zu Ungerechtigkeiten verleitet hätten.

      Doch nun war es Zeit für ihn, zur Schule zu fahren.

      »Ich gehe jetzt«, rief er hinauf. Viktoria erschien, mit Corri auf dem Arm, an der Treppe.

      »Was möchten Sie heute zu Mittag essen?« fragte sie.

      »Das ist mir gleich. Nein, ich hätte mal Appetit auf Bohneneintopf. Grüne Bohnen.«

      Ihr Herz tat einen schnellen Schlag. Das war früher ihr Leibgericht gewesen, seines aber auch.

      »Schmeckt das, Ria?« fragte Corri.

      »Das schmeckt wunderbar, Schätzchen«, sagte sie, und ihre Stimme schwang wie eine Glocke.

      *

      Es ist Vicky, dachte Till. Mit einem andern Gesicht, aber doch Vicky.

      Es war so unbegreiflich, daß er seine Gedanken nicht davon lösen konnte.

      Auf dem Parkplatz vor der Schule traf er Fabian Rückert. Er verstand sich ausnehmend gut mit dem Jüngeren.

      »Es spricht sich herum, daß Sie eine Betreuerin für Ihre Kinder gefunden haben, Herr Jaleck«, sagte Fabian. »Sind Sie zufrieden?«

      Zufrieden? Du lieber Gott, was sollte er darauf antworten. Es war Vicky!

      »Die Kinder sind zufrieden«, erwiderte er.

      »Das ist die Hauptsache«, meinte Fabian.

      Damit war das Gespräch auch schon wieder beendet. Sie gingen beide in ihre Klassen.

      »Also, Herrschaften, die Schulaufgabe ist saumäßig ausgefallen«, leitete Till den Unterricht ein. »Damit ihr nicht in Schwierigkeiten bei den Zensuren kommt, werden wir sie übermorgen wiederholen. Tut mir den Gefallen und setzt euch auf die Hosen!«

      Er blickte in bestürzte Gesichter, aber auch dabei dachte er an Vicky. Und da saßen sie vor ihm, diese Vierzehn- und Fünfzehnjährigen, die mit ihren Gedanken oftmals nicht