zu dichten.
Sie starrte das Papier an, das vor ihr auf dem Tisch lag. Es war immer noch weiß und völlig leer, und das seit mehr als einer Stunde. So viel zu dem grandiosen Tipp des künstlerischen Leiters Milton Chu, zur ursprünglichen Form zurückzukehren und mit einem Stift in der Hand zu schreiben.
Du wirst sehen, es setzt die Inspiration frei, und du kannst deine Gedanken ganz leicht in Worte gießen, hatte er gesagt.
Lächerlich!
Sie nahm das Papier, zerknüllte es, zielte, warf und verfehlte den Mülleimer. Der Stift landete einen Atemzug später ebenfalls auf dem Boden und hinterließ einen Fleck auf dem glänzenden Echtholzboden ihrer Raumschiffssuite in der GIACOMO PUCCINI.
»Wie soll man auch arbeiten, in diesen Zeiten!«, sagte sie in den leeren Raum hinein.
»Erstaunlich, wie melodiös deine Stimme klingt«, antwortete das blecherne Timbre der Raumpositronik. »Du bist eben geboren, um zu singen, nicht um zu dichten.«
»Pah!«, machte Nene Emelumado. »Deine Schmeicheleien klingen, als würde Milton mir höchstpersönlich Honig um den Mund schmieren.«
»Er hat mich ja auch programmiert, diese Worte an der passenden Stelle fallen zu lassen«, sagte die Positronik. »Oder erwartest du von mir echte Kreativität und Anteilnahme an deinen Befindlichkeiten? Ich mag dich, Nene, aber ich bin eine Maschine.«
Nene Emelumado atmete tief und geräuschvoll durch und schnippte mit den Fingern. »Stummschalten!«, befahl sie. Das bedeutete die totale Desaktivierung jeglicher Aufnahme-, Beobachtungs- und Kommunikationsfunktionen in ihrer Suite.
»Wie du wünschst. Du weißt, wie du mich wieder rufen kannst, wenn du ...«
»Stummschalten!«
Die Positronik schwieg; es kam Nene Emelumado pikiert vor, aber wahrscheinlich bildete sie sich das ein.
Sie beschloss, das zu tun, was sie konnte und ihr Freude bereitete – zu singen. Sie musste üben, und dabei drehte es sich weniger darum, ihre Gesangstechnik zu perfektionieren – bei allen Kometenschweifen der Milchstraße, wie sollte sie denn noch besser werden? Nein, die tägliche Probestunde diente vielmehr der Entspannung und der inneren Sammlung.
Nene ging mit schnellen Schritten einmal zur Tür, anschließend zum Fenster mit der perfekt simulierten Sicht auf das Himalaja-Gebirge. Am Fuß eines dieser majestätischen, schneebedeckten Abhänge war sie aufgewachsen, unter der Obhut ihres älteren Bruders, in einer Hütte, die kleiner gewesen war als diese Suite. Ihr Bruder lebte dort immer noch. Sie hatte ihn herausholen wollen, ihm eine Villa kaufen, aber er hatte sie nur verwundert angesehen und gefragt, was er mit ihrem Geld solle, wo er doch in der Gebirgseinsamkeit alles habe, was er brauche.
»Sie sind die Wächter von DORIFER«, sang sie. »Erbitterte Gegner der Ewigen Krieger!« Die erste Zeile ihrer persönlichen Lieblingsoper Die Gänger des Netzes. Die Töne schwebten durch den Raum, leicht, beschwingt und phantasievoll. Es war eine verrückte Zeit gewesen, damals, als die Oper entstanden war – noch im Ursprungsuniversum, jener anderen Hälfte des Dyoversums, aus der Terra und Luna samt allen Bewohnern vor einem halben Jahrtausend in die neue Heimat versetzt worden waren.
Nene sang das Einstiegslied, in dem Perry Rhodans Tochter Eirene von ihrer Schlaflosigkeit berichtet und davon, dass sie erwachsen wird. Es fühlte sich gut an, der alten Geschichte Leben einzuhauchen. Friedlich und erfüllend.
So schmeichlerisch Milton Chus Worte sein mochten, die er der Zimmerpositronik eingeimpft hatte, so sehr entsprachen sie der Wahrheit: Nene war geboren, um zu singen, und genau das tat sie nun.
Die Welt um sie versank in Bedeutungslosigkeit.
*
Später, gut gelaunt, aktivierte Nene die Positronik wieder und orderte Kekse. Sie liebte Kekse.
»Welche Sorte?«, fragte die blecherne Stimme.
»Überrasch mich!«
Halb erwartete sie Widerspruch, doch der erfolgte nicht. Stattdessen schwebte eine Minute später völlig lautlos ein Servorobot heran und hielt ihr eine elegant geschwungene Kristallglasschale hin. Sie war gefüllt mit Keksen, alle von derselben Sorte, in sich gedrehte, kross aussehende, überzuckerte Stäbchen.
»Keine Auswahl?«, fragte Nene.
»Ich sollte dich überraschen.«
»Das hast du.«
»Probier sie! Sie sind köstlich.«
»Woher willst du das wissen? So ganz ohne Geschmackssinn.«
»Ich bediene Terraner seit 382 Jahren. Vertrau meinen Erfahrungswerten.«
Sie nahm einen Keks und biss hinein. Die Süße explodierte auf der Zunge, aber es lag noch eine andere Nuance darin, die sie nicht beschreiben konnte. Sie schloss die Augen, schmeckte nach.
»Und?«, fragte die Positronik.
»Phantastisch.«
»Einer der Hauptbestandteile ist Bier.«
»Wie bitte?« Sie mochte keinen Alkohol, und wenn, dann ein winziges Schlückchen Rotwein. Alkohol griff ihre Stimmbänder an, davon war sie überzeugt, und ihre Stimme diente als Wohlstandsversicherung. Als Mittel für eine sorglose Zukunft, in der Hunderttausende sie bewunderten.
»Ich wusste, dass dich das überraschen wird«, sagte die Positronik. »Du erhältst übrigens soeben Besuch. Soll ich dich verleugnen?«
»Kommt drauf an.«
»Es ist Engine-One.«
»Lieber Kollegenbesuch ist mir stets willkommen. Lass ihn ein!«
Leise surrend fuhr die Kabinentür auf. Ein wenig lauter surrend kam ihr Gast näher. »Es ist eine Freude, dich zu sehen«, sagte der Posbi, der auf 35 Rädern in den Raum rollte – Nene kannte die Zahl seit Jahren, weil Engine-One sie immer wieder betonte.
Der eigentliche Körper der kybernetischen Lebensform bestand aus einer geometrisch perfekten vierseitigen Pyramide mit abgeflachter Spitze, auf der in einer durchsichtigen Halbkugel das Plasma ruhte. Wenn der Posbi sang, leuchtete es in einem bunten Farbspektakel auf; das hohe C brach sich als Lichtstrahl an der Glaskugel zu einem Regenbogen.
Nene war ein wenig neidisch auf dieses zweifellos gut programmierte Spektakel, wenngleich sie in Interviews stets betonte, dass es beim Gesang auf die inneren Werte und die Schlichtheit der reinen Stimme ankam. »Was führt dich zu mir?«, fragte sie.
»Es gibt einen kleinen Streit, ob unser Auftritt genehmigt werden soll.« Engine-Ones Stimme erklang volltönend aus allen Seiten der Pyramide zugleich. »Man ist sich im Gestänge des Pluto nicht ganz einig.«
Nene schaute hinaus ins Himalaja-Gebirge. »Hm«, machte sie. Wer sie kannte, wusste, dass sie damit um Zeit bat, um in Ruhe nachdenken zu können. Und Engine-One kannte sie gut.
Sie versuchte zu überlegen, doch ihre Gedanken schweiften ab. Konnte der Posbi Ungeduld verspüren? Langeweile? Oder schaltete er einfach ab – was aber nur für seine mechanischen Bestandteile möglich war, nicht für das Plasma, das seine Persönlichkeit ausmachte.
Wobei es an Bord der GIACOMO PUCCINI einen spitzfindigen Streit darüber gab, ob Engine-One überhaupt eine Persönlichkeit hatte; Nene fand bereits die Fragestellung absurd. Sie brauchte keine wissenschaftlichen Abhandlungen, um die Wahrheit zu spüren: Wer sang wie Engine-One, hatte ein Bewusstsein, eine Seele. Ohne jeden Zweifel. Wie konnte man das einem derart herausragenden Künstler absprechen?
»Lass mich raten«, sagte sie. »Pino Farr streitet mit Rebekka Klee.«
»Wer sonst?«, fragte Engine-One und fügte die sprichwörtliche Zeile in der melodramatischen Titelmelodie von M 87 revisited hinzu: »Es sind immer dieselben, die für Unfrieden sorgen – es sind immer dieselben, die rauben und morden!«