das Dargestellte (also die Natur) nicht mit dem Inhalt verglichen werden kann. Der Begriff des »Dargestellten« ist doppelsinnig. Er hat hier nicht die Bedeutung von »die Darstellung«, denn diese ist ja mit dem Inhalt identisch. Im übrigen faßt diese Stelle den Begriff der wahren Natur – im Anschluß an das oben über Anschauung Gesagte – ohne weiteres als identisch mit dem Bereich der Urbilder oder Urphänomene oder Ideale, ohne sich um den Begriff der Natur als eines Gegenstands der Wissenschaft zu kümmern. Es geht aber nicht an, ganz naiv den Begriff der Natur schlechterdings als einen der Kunsttheorie zu definieren. Vielmehr ist die Frage, wie der Wissenschaft Natur erscheint, dringend, und in ihrer Beantwortung würde der Begriff der Anschauung vielleicht nichts leisten. Er verbleibt nämlich innerhalb der Kunsttheorie (hier an dem Ort, wo das Verhältnis zwischen Werk und Urbild behandelt wird). Das Dargestellte kann nur im Werk gesehen, außerhalb desselben allein angeschaut werden. Ein naturwahrer Inhalt des Kunstwerks würde voraussetzen, daß die Natur der Maßstab sei, an dem er gemessen würde; dieser Inhalt selbst soll aber sichtbare Natur sein. Goethe denkt im Sinn der erhabenen Paradoxie jener alten Anekdote, nach der die Sperlinge auf die Trauben des großen griechischen Meisters flogen. Die Griechen waren keine Naturalisten, und die übermäßige Naturwahrheit, von der die Erzählung berichtet, scheint nur eine großartige Umschreibung für die wahre Natur als Inhalt der Werke selbst. Hier käme nun allerdings alles auf die nähere Definition des Begriffes der »wahren Natur« an, indem diese »wahre« sichtbare Natur, welche den Inhalt des Kunstwerks ausmachen soll, nicht nur nicht mit der erscheinenden sichtbaren Natur der Welt ohne weiteres identifiziert, sondern vielmehr sogar zunächst streng begrifflich von ihr unterschieden werden muß, indem freilich danach dann das Problem einer tiefern essentiellen Identität der »wahren« sichtbaren Natur im Kunstwerk und der in den Erscheinungen der sichtbaren Natur präsenten (vielleicht unsichtbaren, nur anschaubaren, urphänomenalen) Natur sich stellen würde. Und dies würde möglicher und paradoxer Weise so sich lösen, daß nur in der Kunst, nicht aber in der Natur der Welt, die wahre, anschaubare, urphänomenale Natur abbildhaft sichtbar würde, während sie in der Natur der Welt zwar präsent aber verborgen (durch die Erscheinung überblendet) wäre.
Mit dieser Anschauungsweise ist es aber gesetzt, daß jedes einzelne Werk gewissermaßen zufällig besteht gegenüber dem Ideal der Kunst, mag man ihren reinen Inhalt nun das Musische oder die Natur nennen, weil man wie Goethe in ihr einen neuen musischen Kanon sucht. Denn jenes Ideal ist nicht geschaffen, sondern nach seiner erkenntnistheoretischen Bestimmung Idee im platonischen Sinne, in seiner Sphäre ist Einheit und Anfangslosigkeit, das Eleatisch Ruhende in der Kunst beschlossen. Wohl haben die einzelnen Werke an den Urbildern Anteil, aber einen Übergang aus ihrem Reich zu den Werken gibt es nicht, wie ein solcher im Medium der Kunst, von der absoluten Form zu den einzelnen, wohl besteht. Im Verhältnis zum Ideal bleibt das einzelne Werk gleichsam Torso.302 Es ist eine vereinzelte Bemühung, das Urbild darzustellen, und nur als Vorbild kann es mit anderen seinesgleichen dauern, nie aber vermögen sie zur Einheit des Ideals selbst lebendig zusammenzuwachsen.
Über das Verhältnis der Werke zum Unbedingten und damit zu einander hat Goethe entsagend gedacht. Im romantischen Denken aber rebellierte alles gegen diese Lösung. Die Kunst war dasjenige Gebiet, in welchem die Romantik die unmittelbare Versöhnung des Bedingten mit dem Unbedingten am reinsten durchzuführen strebte. Friedrich Schlegel hat allerdings in seiner ersten Periode noch Goethes Auffassung nahegestanden und sie sehr prägnant formuliert, wenn er die griechische Kunst als diejenige bezeichnet, »deren besondere Geschichte die allgemeine Naturgeschichte der Kunst wäre«, und unmittelbar fortfährt: »… der Denker … bedarf … einer vollkommenen Anschauung. Teils als Beispiel und Beleg zu seinem Begriff, teils als Tatsache und Urkunde seiner Untersuchung … Das reine Gesetz ist leer. Damit es ausgefüllt … werde, bedarf es … eines höchsten ästhetischen Urbildes … kein anderes Wort als Nachahmung für die Handlung desjenigen … der sich die Gesetzmäßigkeit jenes Urbildes zueignet«.303 Aber was Schlegel diese Lösung, je mehr er zu sich selbst kam, verbot, war, daß sie zu einer höchst bedingten Einschätzung des einzelnen Werkes führt. In der gleichen Abhandlung, in der sein werdender Standpunkt sich zu bestimmen strebt, stellt er Notwendigkeit, Unendlichkeit, Idee im Grunde schon der Nachbildung, der Vollkommenheit, dem Ideal gegenüber, wenn er sagt: »Die Zwecke des Menschen sind teils unendlich und notwendig, teils beschränkt und zufällig. Die Kunst ist daher … eine freie Ideenkunst«.304 Viel entschiedener heißt es dann von der Kunst um die Jahrhundertwende: Es »will … jedes Glied in diesem höchsten Gebilde des menschlichen Geistes zugleich das Ganze sein, und wäre dieser Wunsch wirklich unerreichbar, wie uns … Sophisten glauben machen wollen, so möchten wir nur lieber gleich das nichtige und verkehrte Beginnen305 ganz aufgeben«.306 »Jedes Gedicht, jedes Werk soll das Ganze bedeuten, wirklich und in der Tat bedeuten und durch die Bedeutung … auch wirklich und in der Tat sein«.307 Die Aufhebung der Zufälligkeit, des Torsohaften der Werke ist die Intention in dem Formbegriff Friedrich Schlegels. Dem Ideal gegenüber ist der Torso eine legitime Gestalt, im Medium der Formen hat er keine Stelle. Das Kunstwerk darf nicht Torso, es muß bewegtes vergängliches Moment in der lebendigen transzendentalen Form sein. Indem es sich in seiner Form beschränkt, macht es sich in zufälliger Gestalt vergänglich, in vergehender Gestalt aber ewig durch Kritik.308
Die Romantiker wollten die Gesetzmäßigkeit des Kunstwerks zur absoluten machen. Aber das Moment des Zufälligen ist nur mit der Auflösung des Werkes aufzulösen oder vielmehr in ein Gesetzmäßiges zu verwandeln. Daher haben die Romantiker folgerecht eine radikale Polemik gegen die Goethesche Lehre von der kanonischen Geltung der griechischen Werke führen müssen. Sie konnten Vorbilder, selbständig in sich geschlossene Werke, endgültig geprägte und der ewigen Progression enthobene Gebilde nicht anerkennen. Am übermütigsten und geistreichsten hat sich gegen Goethe Novalis gewandt: »Natur und Natureinsicht entstehen zugleich309, wie Antike und Antikenkenntnis; denn man irrt sehr, wenn man glaubt, daß es Antiken gibt. Erst jetzt fängt die Antike an zu entstehen … Der klassischen Literatur geht es wie der Antike; sie ist uns eigentlich nicht gegeben – sie ist nicht vorhanden – sondern sie soll von uns erst hervorgebracht werden. Durch fleißiges und geistvolles Studium der Alten entsteht erst eine klassische Literatur für uns – die die Alten selbst nicht hatten«.310 »Man glaube nur auch nicht allzu steif, daß die Antike und das Vollendete gemacht sei; gemacht, was wir so gemacht nennen. Sie sind so gemacht, wie die Geliebte durch das verabredete Zeichen des Freundes in der Nacht, wie der Funken durch die Berührung der Leiter oder der Stern durch die Bewegung im Auge.«311 Das heißt, sie entsteht nur, wo ein schöpferischer Geist sie erkennt, sie ist kein Faktum im Goetheschen Sinn. Die gleiche Behauptung lautet an anderer Stelle: »Die Antiken sind zugleich Produkte der Zukunft und der Vorzeit«.312 Unmittelbar darauf: »Gibt es eine Zentralantike oder einen Universalgeist der Antiken?« Die Frage berührt sich mit Schlegels These von der werkhaften Einheit der antiken Poesie, und sie beide sind antiklassizistisch zu verstehen. – Wie die antiken Werke, so gilt es für Schlegel auch die antiken Gattungen in einander aufzulösen. »Umsonst war es, daß die Individuen das Ideal ihrer Gattung vollständig ausdrückten, wenn nicht auch die Gattungen selbst, streng und scharf isoliert, … waren. Aber sich willkürlich bald in diese, bald in jene Sphäre … versetzen … das kann nur ein Geist, der … ein ganzes System von Personen in sich enthält, und in dessen Innerem das Universum … reif … ist.«313 Also: »Alle klassischen Dichtarten in ihrer strengen Reinheit sind jetzt lächerlich«.314 Und endlich: »Man kann niemand zwingen, die Alten für klassisch zu halten oder für alt; das hängt zuletzt von Maximen ab«315.
Die Romantiker bestimmen die Relation der Kunstwerke zur Kunst als Unendlichkeit in der Allheit – das heißt: in der Allheit der Werke erfüllt sich die Unendlichkeit der Kunst; Goethe bestimmt sie als Einheit in der Vielheit – das heißt: in der Vielheit der Werke findet sich die Einheit der Kunst immer wieder. Jene Unendlichkeit ist die der reinen Form, diese Einheit die des reinen Inhalts.316 Die Frage des Verhältnisses der Goetheschen und der romantischen Kunsttheorie fällt also zusammen mit der Frage nach dem Verhältnis des reinen Inhalts zur reinen (und als solcher strengen) Form. In diese Sphäre ist die angesichts des Einzelwerks oft irreführend gestellte und dort niemals genau zu lösende Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt zu erheben. Denn diese sind nicht Substrate im empirischen Gebilde,