Walter Benjamin

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke


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weil sie ihnen ungemäß ist. Nur die strenge Bindung an ein Ritual, die Aberglaube einzig heißen darf, wo sie ihrem Zusammenhange entrissen rudimentär überdauert, kann jenen Menschen Halt gegen die Natur versprechen, in der sie leben. Geladen, wie nur mythische Natur es ist, mit übermenschlichen Kräften, tritt sie drohend ins Spiel. Wessen Macht, wenn nicht ihre, ruft den Geistlichen hinab, welcher auf dem Totenacker seinen Klee baute? Wer, wenn nicht sie, stellt den verschönten Schauplatz in ein fahles Licht? Denn ein solches durchwaltet – eigentlicher oder umschriebener verstanden – die ganze Landschaft. An keiner Stelle erscheint sie im Sonnenlicht. Und niemals, soviel auch vom Gute gesprochen wird, ist von seinen Saaten die Rede oder von ländlichen Geschäften, die nicht der Zierde, sondern dem Unterhalt dienten. Die einzige Andeutung derart – Aussicht auf die Weinlese – führt vom Schauplatz der Handlung fort auf das Gut der Baronin. Desto deutlicher spricht die magnetische Kraft des Erdinnern. Von ihr hat in der Farbenlehre – um dieselbe Zeit möglicherweise – Goethe gesagt, daß die Natur dem Aufmerksamen »nirgends tot noch stumm; ja dem starren Erdkörper hat sie einen Vertrauten zugegeben, ein Metall, an dessen kleinsten Teilen wir dasjenige, was in der ganzen Masse vorgeht, gewahr werden sollten«. Mit dieser Kraft haben Goethes Menschen Gemeinschaft und im Spiel mit dem Unten gefallen sie sich wie in ihrem Spiel mit dem Oben. Und doch, was sind zuletzt ihre unermüdlichen Anstalten zu dessen Verschönerung anderes als der Wandel von Kulissen einer tragischen Szene. So manifestiert sich ironisch eine verborgene Macht in dem Dasein der Landedelleute.

      Ihren Ausdruck trägt wie das Tellurische so das Gewässer. Nirgends verleugnet der See seine unheilvolle Natur unter der toten Fläche des Spiegels. Von dem »dämonisch-schauerlichen Schicksal, das um den Lustsee waltet«, spricht bezeichnend eine ältere Kritik. Das Wasser als das chaotische Element des Lebens droht hier nicht in wüstem Wogen, das dem Menschen den Untergang bringt, sondern in der rätselhaften Stille, die ihn zu Grunde gehn läßt. Die Liebenden gehen, soweit Schicksal waltet, zu Grunde. Sie verfallen, wo sie den Segen des festen Grundes verschmähen, dem Unergründlichen, das im stehenden Gewässer vorweltlich erscheint. Buchstäblich sieht man dessen alte Macht sie beschwören. Denn zuletzt läuft jene Vereinigung der Wasser, wie sie schrittweis festem Lande Abbruch tut, auf die Wiederherstellung des einstigen Bergsees hinaus, der sich in der Gegend befand. In alledem ist die Natur es selbst, die unter Menschenhänden übermenschlich sich regt. In der Tat: sogar der Wind, »der den Kahn nach den Platanen treibt«, »erhebt sich« – wie der Rezensent der »Kirchenzeitung« höhnisch mutmaßt – »wahrscheinlich auf Befehl der Sterne«.

      Die Menschen selber müssen die Naturgewalt bekunden. Denn sie sind ihr nirgends entwachsen. Ihnen gegenüber macht dies die besondere Begründung jener allgemeinern Erkenntnis aus, nach welcher die Gestalten keiner Dichtung je der sittlichen Beurteilung unterworfen sein können. Und zwar nicht, weil sie, wie die von Menschen, alle Menscheneinsicht überstiege. Vielmehr untersagen bereits die Grundlagen solcher Beurteilung deren Beziehung auf Gestalten unwidersprechlich. Die Moralphilosophie hat es stringent zu erweisen, daß die erdichtete Person immer zu arm und zu reich ist, sittlichem Urteil zu unterstehen. Vollziehbar ist es nur an Menschen. Von ihnen unterscheidet die Gestalten des Romans, daß sie völlig der Natur verhaftet sind. Und nicht sittlich über sie zu befinden, sondern das Geschehn moralisch zu erfassen, ist geboten. Töricht bleibt, wie Solger, später auch Bielschowsky es getan, ein verschwommenes sittliches Geschmacksurteil, das sich nie hervorwagen dürfte, da an Tag zu legen, wo es noch am ersten den Beifall erhaschen kann. Die Figur des Eduard tut es niemand zu Dank. Aber wieviel tiefer als jene sieht Cohen, dem es – nach den Darlegungen seiner »Ästhetik« – sinnlos gilt, Eduards Erscheinung in dem Ganzen des Romans zu isolieren. Dessen Unzuverlässigkeit, ja Roheit ist der Ausdruck flüchtiger Verzweiflung in einem verlorenen Leben. Er erscheint »in der ganzen Disposition dieser Verbindung genau so, wie er sich selbst« Charlotten gegenüber »bezeichnet: ›Denn eigentlich hänge ich doch nur von Dir ab‹. Er ist der Spielball, nicht zwar für die Launen, die Charlotte überhaupt nicht hat, aber für das Endziel der Wahlverwandtschaften, auf das ihre zentrale Natur mit ihrem festen Schwerpunkt aus allen Schwankungen heraus hinstrebt«. Von Anfang an stehen die Gestalten unter dem Banne von Wahlverwandtschaften. Aber ihre wundersamen Regungen begründen, nach Goethes tiefer, ahnungsvoller Anschauung, nicht ein inniggeistiges Zusammenstimmen der Wesen, sondern einzig die besondere Harmonie der tiefern natürlichen Schichten. Diese nämlich sind mit der leisen Verfehltheit gemeint, die jenen Fügungen ohne Ausnahme anhaftet. Wohl paßt Ottilie sich Eduards Flötenspiel an, aber es ist falsch. Wohl duldet Eduard lesend bei Ottilie, was er Charlotten verwehrte, aber es ist eine Unsitte. Wohl fühlt er sich wunderbar von ihr unterhalten, aber sie schweigt. Wohl leiden selbst die beiden gemeinsam, aber es ist nur ein Kopfschmerz. Nicht natürlich sind diese Gestalten, denn Naturkinder sind – in einem fabelhaften oder wirklichen Naturzustande – Menschen. Sie jedoch unterstehen auf der Höhe der Bildung den Kräften, welche jene als bewältigt ausgibt, ob sie auch stets sich machtlos erweisen mag, sie niederzuhalten. Für das Schickliche ließen, sie ihnen Gefühl, für das Sittliche haben sie es verloren. Nicht ein Urteil über ihr Handeln ist hier gemeint, sondern eines über ihre Sprache. Denn fühlend doch taub, sehend doch stumm gehen sie ihren Weg. Taub gegen Gott und stumm gegen die Welt. Rechenschaft mißlingt ihnen nicht durch ihr Handeln sondern durch ihr Sein. Sie verstummen.

      Nichts bindet den Menschen so sehr an die Sprache wie sein Name. Kaum in irgend einer Literatur wird es eine Erzählung vom Umfang der Wahlverwandtschaften geben, in der so wenige Namen sich finden. Diese Kargheit der Namengebung ist einer Deutung außer jener landläufigen fähig, die da auf die Goethesche Neigung zu typischem Gestalten verweist. Sie gehört vielmehr innigst zum Wesen einer Ordnung, deren Glieder unter einem namenlosen Gesetze dahinleben, einem Verhängnis, das ihre Welt mit dem matten Licht der Sonnenfinsternis erfüllt. Alle Namen, bis auf den des Mittler, sind bloße Taufnamen. In diesem ist keine Spielerei, mithin keine Anspielung des Dichters zu sehen, sondern eine Wendung, die das Wesen des Trägers unvergleichlich sicher bezeichnet. Er hat als ein Mann zu gelten, dessen Selbstliebe keine Abstraktion von den Andeutungen gestattet, die ihm in seinem Namen gegeben scheinen und der ihn damit entwürdigt. Sechs Namen finden sich außer dem seinen in der Erzählung: Eduard, Otto, Ottilie, Charlotte, Luciane und Nanny. Von diesen ist aber der erste gleichsam unecht. Er ist willkürlich, seines Klanges wegen gewählt worden, ein Zug, in dem durchaus eine Analogie zum Versetzen der Grabsteine erblickt werden darf. Auch schließt sich eine Vorbedeutung an den Doppelnamen, denn es sind seine Initialen E und O, die eins der Gläser aus des Grafen Jugendzeit zum Pfande seines Liebesglücks bestimmen.

      Nie ist die Fülle vorverkündender und paralleler Züge im Roman den Kritikern entgangen. Sie gilt als nächstgelegner Ausdruck seiner Art schon längst für genugsam gewürdigt. Dennoch scheint – von seiner Deutung völlig abgesehen – wie tief er das gesamte Werk durchdringt, nie voll erfaßt. Erst wenn dies aufgehellt im Blickfeld steht wird klar, daß weder ein bizarrer Hang des Autors, noch gar bloße Spannungssteigerung darinnen liegt. Dann erst tritt auch genauer an den Tag, was diese Züge allermeist enthalten. Es ist eine Todessymbolik. »Daß es zu bösen Häusern hinaus gehn muß, sieht man ja gleich im Anfang« heißt es mit einer seltsamen Redewendung bei Goethe. (Sie ist möglicherweise astrologischen Urprungs; das Grimmsche Wörterbuch kennt sie nicht.) Bei anderer Gelegenheit hat der Dichter auf das Gefühl der »Bangigkeit« hingewiesen, das mit dem moralischen Verfall in den Wahlverwandtschaften beim Leser sich einfinden soll. Auch daß Goethe Gewicht darauf legte, »wie rasch und unaufhaltsam er die Katastrophe herbeigeführt« wird berichtet. In den verborgensten Zügen ist das ganze Werk von jener Symbolik durchwebt. Ihre Sprache aber nimmt allein das Gefühl, dem sie vertraut ist, mühelos in sich auf, wo der gegenständlichen Auffassung des Lesers nur erlesene Schönheiten sich bieten. An wenigen Stellen hat Goethe auch ihr einen Hinweis gegeben und dies sind im Ganzen die einzigen geblieben, die bemerkt wurden. Sie schließen sich alle an die Episode vom kristallnen Becher an, der, zum Zerschellen bestimmt, im Wurfe aufgefangen und erhalten wird. Es ist das Bauopfer, das bei der Einweihung des Hauses zurückgewiesen wird, das Ottiliens Sterbehaus ist. Aber auch hier wahrt Goethe das verborgene Verfahren, da er aus dem freudigen Überschwang die Gebärde herleitet, welche dieses Zeremonial vollzieht. Deutlicher ist eine Gräbermahnung in den freimaurerisch gestimmten Worten der Grundsteinlegung enthalten: »Es ist ein ernstes Geschäft und unsere Einladung ist ernsthaft: denn diese Feierlichkeit wird in der Tiefe begangen. Hier innerhalb dieses engen ausgegrabenen