Die Idee der Kunst ist die Idee ihrer Form, wie ihr Ideal das Ideal ihres Inhalts ist. Die systematische Grundfrage der Kunstphilosophie läßt sich also auch als die Frage nach dem Verhältnis von Idee und Ideal der Kunst formulieren. Die Schwelle dieser Frage kann die vorliegende Untersuchung nicht überschreiten, sie konnte allein einen problemgeschichtlichen Zusammenhang soweit ausführen, bis er auf den systematischen mit völliger Klarheit deutete. Noch heute ist dieser Stand der deutschen Kunstphilosophie um 1800, wie er in den Theorien Goethes und der Frühromantiker sich darstellt, legitim. Die Romantiker so wenig wie Goethe haben diese Frage gelöst, ja auch nur gestellt. Sie wirken zusammen, um sie dem problemgeschichtlichen Denken vorzustellen. Nur das systematische kann sie lösen. – Die Romantiker haben es, wie schon betont wurde, nicht vermocht, das Ideal der Kunst zu erfassen. Es erübrigt zu bemerken, daß Goethes Lösung des Formproblems an philosophischer Tragweite seine Bestimmung des Inhalts der Kunst nicht erreicht. Die Kunstform interpretiert Goethe als Stil. Er hat jedoch im Stil nur dadurch das Formprinzip des Kunstwerks gesehen, daß er einen mehr oder weniger historisch bestimmten Stil ins Auge faßte: die Darstellung typisierender Art. Für die bildende Kunst repräsentierten ihn die Griechen, für die Poesie strebte er selbst dessen Vorbild aufzustellen. Aber trotzdem der Inhalt des Werkes das Urbild ist, braucht dennoch der Typus seine Form keineswegs zu bestimmen. Im Stilbegriff hat also Goethe nicht eine philosophische Klärung des Formproblems, sondern nur einen Hinweis auf das Maßgebende gewisser Vorbilder gegeben. Damit ist die Intention, die ihm die Tiefe des Inhaltsproblems der Kunst erschlossen hat, vor dem Formproblem zur Quelle eines sublimen Naturalismus geworden. Indem auch der Form gegenüber ein Urbild, eine Natur sich ausweisen sollte, mußte zum Urbild der Form – da die Natur an sich dies nicht sein konnte – gleichsam eine Kunstnatur – denn das ist der Stil in diesem Sinne – gemacht werden. Sehr scharf hat Novalis das gesehen. Ablehnend nennt er es Goethisch: »die Antiken sind aus einer anderen Welt, sie sind wie vom Himmel gefallen«317. Er bezeichnet damit in der Tat das Wesen dieser Kunstnatur, die Goethe im Stil als Urbild vorstellt. Der Begriff des Urbildes verliert aber für das Formproblem, sobald er als dessen Lösung gedacht werden soll, seinen Sinn. Das Problem der Kunst nach seinem ganzen Umfang, nach Form und Inhalt durch den Begriff des Urbildes zu umschreiben, ist das Vorrecht der antiken Denker, welche die tiefsten Fragen der Philosophie bisweilen in Gestalt mythischer Lösungen stellen. Einen Mythus erzählt letzten Endes auch Goethes Stilbegriff. Der Einwand gegen ihn ließe sich auch auf Grund der in ihm waltenden Ungeschiedenheit von Darstellungsform und absoluter Form erheben. Denn von dem erwogenen Formproblem als der Frage nach der absoluten Form bleibt die nach der Darstellungsform zu unterscheiden. Es bedarf übrigens kaum der Betonung, daß diese letzte bei Goethe eine gänzlich andere Bedeutung hat, als bei den Frühromantikern. Sie ist das die Schönheit begründende Maß, welches in Erscheinung tritt im Gehalt. Der Begriff des Maßes liegt der Romantik, welche kein a priori des Inhalts, kein Abzumessendes in der Kunst achtete, fern. Sie verwirft mit dem Begriff der Schönheit nicht allein die Regel, sondern auch das Maß, und nicht sowohl regellos als maßlos ist ihre Dichtung.
Goethes Kunsttheorie läßt nicht nur das Problem der absoluten Form ungelöst, sondern auch das der Kritik. Während sie aber das erste in verschleierter Form anerkennt und berufen ist, die Größe dieser Frage auszudrücken, scheint sie das letzte zu negieren. Kritik am Kunstwerk ist in der Tat nach Goethes letzter Intention weder möglich noch notwendig. Nötig mag allenfalls ein Hinweis auf das Gute, Warnung vor dem Schlechten sein, und möglich ist das apodiktische Urteil über Werke dem Künstler, der eine Anschauung vom Urbild hat. Aber die Kritisierbarkeit als ein wesentliches Moment am Kunstwerk anzuerkennen, verweigert Goethe. Methodische, d. h. sachlich notwendige, Kritik ist von seinem Standpunkt aus unmöglich. In der romantischen Kunst aber ist Kritik nicht allein möglich und notwendig, sondern unausweislich liegt in ihrer Theorie die Paradoxie einer höheren Einschätzung der Kritik als des Werkes. Die Romantiker kennen denn auch in ihren Kritiken kein Bewußtsein von dem Range, welchen der Dichter über dem Rezensenten einnimmt. Die Ausbildung der Kritik und der Formen, in welchen beiden sie die größten Verdienste erworben haben, sind als tiefste Tendenzen in ihrer Theorie angelegt. Sie haben also hierin Einhelligkeit in Tat und Gedanken völlig erreicht und eben das erfüllt, was ihnen als das Höchste nach ihren Überzeugungen galt. Der Mangel dichterischer Produktivität, mit dem man besonders Friedrich Schlegel bisweilen zeichnet, gehört im strengen Sinne in sein Bild nicht hinein. Denn er wollte in erster Linie nicht Dichter im Sinne des Werkbildners sein. Die Absolutierung des geschaffenen Werkes, das kritische Verfahren, war ihm das Höchste. Es läßt sich in einem Bilde versinnlichen als die Erzeugung der Blendung im Werk. Diese Blendung – das nüchterne Licht – macht die Vielheit der Werke verlöschen. Es ist die Idee.
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Verzeichnis der zitierten Schriften
~Quellenschriften318 ~
Johann Gottlieb Fichte: Sämmtliche Werke. Herausgegeben von I. H. Fichte. 9 Bde. in 3 Abt. Berlin 1845-1846.
cit Fichte (es handelt sich stets nur um den ersten Band).
Friedrich Schlegel: 1794-1802. Seine prosaischen Jugendschriften. Herausgegeben von J. Minor. 2 Bde. Wien 1906 (2. ((Titel-)) Auflage).
cit Jugendschriften (jedoch sind die Fragmente aus dem Lyzeum und Athenäum, sowie die Ideen, mit L bzw. A und I mit nachfolgender Angabe der Nummer, welche sie bei Minor haben, zitiert).
Philosophische Vorlesungen aus den Jahren 1804 bis 1806. Nebst Fragmenten vorzüglich philosophisch-theologischen Inhalts. Herausgegeben von C. J. H. Windischmann. Supplemente zu Fried, v. Schlegel’s sämmtlichen Werken. 4 Teile in 2 Bdn. Bonn 1846 (2. Ausgabe).
cit Vorlesungen (es handelt sich stets um den zweiten Band).
Lucinde. Ein Roman. Universal-Bibliothek. 320. Leipzig o. J.
cit Lucinde.
August Wilhelm und Friedrich Schlegel. In Auswahl herausgegeben von Oskar F. Walzel. Stuttgart (Deutsche National-Litteratur. Herausgegeben von Joseph Kürschner. Bd. 143).
cit Kürschner.
Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Herausgegeben von Oskar F. Walzel. Berlin 1890.
cit Briefe.
Novalis: Schriften. Kritische Neuausgabe auf Grund des handschriftlichen Nachlasses von Ernst Heilborn.319 2 Bde. Berlin 1901.
cit Schriften (es handelt sich stets um den zweiten Band).
Briefwechsel mit Friedrich und August Wilhelm, Charlotte und Caroline Schlegel. Herausgegeben von J. M. Raich. Mainz 1880.
cit Briefwechsel.
Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Zum Druck vorbereitet von Ludwig Jonas, nach dessen Tode herausgegeben von Wilhelm Dilthey. 4 Bde. Berlin 1858-1863.
cit ebenso.
Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Bd. 1. Dabei: Denkmale der innern Entwicklung Schleiermachers. Berlin 1870.
cit ebenso.
Caroline. Briefe an ihre Geschwister, ihre Tochter Auguste, die Familie Gotter, F. L. W. Meyer, A. W. und Fr. Schlegel, J. Schelling u. a. nebst Briefen von A. W. und Fr. Schlegel u. a. Herausgegeben von G. Waitz. 2 Bde. Leipzig 1871.
cit ebenso.
Goethe: Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 4 Abt. Weimar 1887-1914.
cit W A.
Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Unter Mitarbeit von Friedrich Seebaß besorgt durch Norbert v. Hellingrath. 6 Bde. (bisher erschienen 3 Bde.). München, Leipzig 1913-1916.
cit Hölderlin.
Untreue der Weisheit. Ungedruckte Handschrift aus den Sammlungen auf Stift Neuburg. In: »Das Reich«. Vierteljahresschrift. 1. Jahrgang, München 1916 (einziger Druck),
cit ebenso.
~Literatur nach den Autoren