Walter Benjamin

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke


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Kritik ihrer Erforschung. Herausgegeben von Franz Schultz. München, Berlin 1918. (Historische Bibliothek. Bd. 39).

      Carl Enders: Friedrich Schlegel. Die Quellen seines Wesens und Werdens. Leipzig 1913.

      R. Haym: Die Romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Berlin 1870.

      Ricarda Huch: Blüthezeit der Romantik. Leipzig 1901 (2., unveränderte Ausgabe).

      Erwin Kircher: Philosophie der Romantik. Aus dem Nachlaß herausgegeben. Jena 1906.

      Paul Lerch: Friedrich Schlegels philosophische Anschauungen in ihrer Entwicklung und systematischen Ausgestaltung. Berlin 1905, Erlanger Diss.

      Frieda Margolin: Die Theorie des Romans in der Frühromantik. Stuttgart 1909, Berner Diss.

      Charlotte Pingoud: Grundlinien der ästhetischen Doktrin Fr. Schlegels. Stuttgart 1914, Münchener Diss.

      Max Pulver: Romantische Ironie und romantische Komödie. St. Gallen 1912, Freiburger Diss.

      Elisabeth Rotten: Goethes Urphänomen und die platonische Idee. Gießen 1913. (Philosophische Arbeiten herausgegeben von Hermann Cohen und Paul Natorp. Bd. 8, I. Heft).

      Heinrich Simon: Die theoretischen Grundlagen des magischen Idealismus von Novalis. Heidelberg 1905, Freiburger Diss.

      Wilhelm Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften. Bd. 2: Die Blütezeit der deutschen Philosophie. Von Kant bis Hegel und Herbart. Leipzig 1911 (5. Auflage).

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      1919–22

      Jula Cohn gewidmet

      »Wer blind wählet, dem schlägt Opferdampf in die Augen.«

      Klopstock

      Die vorliegende Literatur über Dichtungen legt es nahe, Ausführlichkeit in dergleichen Untersuchungen mehr auf Rechnung eines philologischen als eines kritischen Interesses zu setzen. Leicht könnte daher die folgende, auch im einzelnen eingehende Darlegung der Wahlverwandtschaften über die Absicht irre führen, in der sie gegeben wird. Sie könnte als Kommentar erscheinen; gemeint jedoch ist sie als Kritik. Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt. Das Verhältnis der beiden bestimmt jenes Grundgesetz des Schrifttums, demzufolge der Wahrheitsgehalt eines Werkes, je bedeutender es ist, desto unscheinbarer und inniger an seinen Sachgehalt gebunden ist. Wenn sich demnach als die dauernden gerade jene Werke erweisen, deren Wahrheit am tiefsten ihrem Sachgehalt eingesenkt ist, so stehen im Verlaufe dieser Dauer die Realien dem Betrachtenden im Werk desto deutlicher vor Augen, je mehr sie in der Welt absterben. Damit aber tritt der Erscheinung nach Sachgehalt und Wahrheitsgehalt, in der Frühzeit des Werkes geeint, auseinander mit seiner Dauer, weil der letzte immer gleich verborgen sich hält, wenn der erste hervordringt. Mehr und mehr wird für jeden späteren Kritiker die Deutung des Auffallenden und Befremdenden, des Sachgehaltes, demnach zur Vorbedingung. Man darf ihn mit dem Paläographen vor einem Pergamente vergleichen, dessen verblichener Text überdeckt wird von den Zügen einer kräftigern Schrift, die auf ihn sich bezieht. Wie der Paläograph mit dem Lesen der letztern beginnen müßte, so der Kritiker mit dem Kommentieren. Und mit einem Schlag entspringt ihm daraus ein unschätzbares Kriterium seines Urteils: nun erst kann er die kritische Grundfrage stellen, ob der Schein des Wahrheitsgehaltes dem Sachgehalt oder das Leben des Sachgehaltes dem Wahrheitsgehalt zu verdanken sei. Denn indem sie im Werk auseinandertreten, entscheiden sie über seine Unsterblichkeit. In diesem Sinne bereitet die Geschichte der Werke ihre Kritik vor und daher vermehrt die historische Distanz deren Gewalt. Will man, um eines Gleichnisses willen, das wachsende Werk als den flammenden Scheiterhaufen ansehn, so steht davor der Kommentator wie der Chemiker, der Kritiker gleich dem Alchimisten. Wo jenem Holz und Asche allein die Gegenstände seiner Analyse bleiben, bewahrt für diesen nur die Flamme selbst ein Rätsel: das des Lebendigen. So fragt der Kritiker nach der Wahrheit, deren lebendige Flamme fortbrennt über den schweren Scheitern des Gewesenen und der leichten Asche des Erlebten.

      Dem Dichter wie dem Publikum seiner Zeit wird sich nicht zwar das Dasein, wohl aber die Bedeutung der Realien im Werke zumeist verbergen. Weil aber nur von ihrem Grunde das Ewige des Werkes sich abhebt, umfaßt jede zeitgenössische Kritik, so hoch sie auch stehen mag, in ihm mehr die bewegende als die ruhende Wahrheit, mehr das zeitliche Wirken als das ewige Sein. Doch wie wertvoll immer Realien für die Deutung des Werkes sein mögen – kaum braucht es gesagt zu werden, daß das Goethesche Schaffen nicht wie das eines Pindar sich betrachten läßt. Vielmehr war gewiß nie eine Zeit, der mehr als Goethes der Gedanke fremd gewesen ist, daß die wesentlichsten Inhalte des Daseins in der Dingwelt sich auszuprägen, ja ohne solche Ausprägung sich nicht zu erfüllen vermögen. Kants kritisches Werk und Basedows Elementarwerk, das eine dem Sinn, das andere der Anschauung der damaligen Erfahrung gewidmet, geben auf sehr verschiedene, doch gleichermaßen bündige Weise Zeugnis von der Armseligkeit ihrer Sachgehalte. In diesem bestimmenden Zuge der deutschen – wenn nicht der gesamteuropäischen – Aufklärung darf eine unerläßliche Vorbedingung des Kantischen Lebenswerks einerseits, des Goetheschen Schaffens andererseits erblickt werden. Denn genau um die Zeit, da Kants Werk vollendet und die Wegekarte durch den kahlen Wald des Wirklichen entworfen war, begann das Goethesche Suchen nach den Samen ewigen Wachstums. Es kam jener Richtung des Klassizismus, welche weniger das Ethische und Historische zu erfassen suchte als das Mythische und Philologische. Nicht auf die werdenden Ideen, sondern auf die geformten Gehalte, wie sie Leben und Sprache verwahrten, ging ihr Denken. Nach Herder und Schiller nahmen Goethe und Wilhelm von Humboldt die Führung. Wenn der erneuerte Sachgehalt, der in Goethes Altersdichtungen vorlag, seinen Zeitgenossen entging, wo er nicht wie im Divan sich betonte, so kam dies, ganz im Gegensatz zur entsprechenden Erscheinung im antiken Leben, daher, daß selbst das Suchen nach einem solchen denselben fremd war.

      Wie klar in den erhabensten Geistern der Aufklärung die Ahnung des Gehalts oder die Einsicht in die Sache war, wie unfähig dennoch selbst sie, zur Anschauung des Sachgehalts sich zu erheben, wird angesichts der Ehe zwingend deutlich. An ihr als einer der strengsten und sachlichsten Ausprägungen menschlichen Lebensgehalts bekundet zugleich am frühesten, in den Goetheschen Wahlverwandtschaften, sich des Dichters neue, auf synthetische Anschauung der Sachgehalte hingewendete Betrachtung. Kants Definition der Ehe aus der »Metaphysik der Sitten«, deren einzig als Exempel rigoroser Schablone oder als Kuriosum der senilen Spätzeit hin und wieder gedacht wird, ist das erhabenste Produkt einer ratio, welche, unbestechlich treu sich selber, in den Sachverhalt unendlich tiefer eindringt, als gefühlvolles Vernünfteln tut. Zwar bleibt der Sachgehalt selbst, welcher allein philosophischer Anschauung – genauer: philosophischer Erfahrung – sich ergibt, beiden verschlossen, aber wo das eine ins Bodenlose führt, trifft die andere genau auf den Grund, wo die wahre Erkenntnis sich bildet. Sie erklärt demnach die Ehe als »die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften. – Der Zweck Kinder zu erzeugen und zu erziehen mag immer ein Zweck der Natur sein, zu welchem sie die Neigung der Geschlechter gegen einander einpflanzte; aber daß der Mensch, der sich verehelicht, diesen Zweck sich vorsetzen müsse, wird zur Rechtmäßigkeit dieser seiner Verbindung nicht erfordert; denn sonst würde, wenn das Kinderzeugen aufhört, die Ehe sich zugleich von selbst auflösen«. Freilich war es der ungeheuerste Irrtum des Philosophen, daß er meinte, aus dieser Definition, die er von der Natur der Ehe gab, ihre sittliche Möglichkeit, ja Notwendigkeit durch Ableitung darlegen und dergestalt ihre rechtliche Wirklichkeit bestätigen zu können. Ableitbar aus der sachlichen Natur der Ehe wäre ersichtlich nur ihre Verworfenheit – und darauf läuft es bei Kant unversehens hinaus. Allein das ist ja das Entscheidende, daß niemals ableitbar ihr Gehalt sich zur Sache verhält, sondern daß er als das Siegel erfaßt werden muß, das sie darstellt. Wie die Form eines Siegels unableitbar ist aus dem Stoff des Wachses, unableitbar aus dem Zweck des Verschlusses, unableitbar sogar aus dem Petschaft, wo konkav ist, was dort konvex, wie