Ersten: »Unsere Abteilung wird ab morgen verladen! Angeblich geht’s irgendwohin nach Osten!«
Während Horst Ulmer in der Stube bedächtig seine Fußlappen wickelte, knurrte er grimmig:
»Lothar, was soll das jetzt wieder bedeuten? Sollen wir uns etwa endgültig von unseren Bergen verabschieden? Soviel ich weiß, hat das mit uns verbündete Rumänien eine Schwarzmeerküste. Sollen wir denen etwa aushelfen müssen? Kaum zu glauben. Gegen wen denn?«
»Hans, ich hab auch keine Ahnung, wohin wir kutschiert werden. Nur eines weiß ich gewiss: Wir werden es sehr bald erfahren, und das im wahrsten Sinne des Wortes.«
Horst, der wegen seiner Hasenscharte manchmal schwer zu verstehen war, knurrte irgendetwas Unverständliches vor sich hin.
Das Verladen am Güterbahnhof in Landshut beanspruchte seine Zeit. Es war nicht so einfach, die vier schweren französischen Beutegeschütze, die unter anderem zu unserer Batterie gehörten, mit Muskelkraft auf die Güterwagen zu schieben. Heute noch vernehme ich die gebrüllten Befehle, als wäre es erst gestern gewesen:
»Zugleich! Zugleich!«
Wir griffen in die Speichen einer Kanone und schoben sie mühsam und ruckweise auf die Ladefläche des offenen Güterwagens. Wer und wie viel Mann hinter mir schufteten, habe ich vergessen. Es dauerte jedenfalls Stunden, bis unsere vier Geschütze auf den offenen Ladeflächen so sicher festgezurrt waren, dass sie sich auch bei einem unvorhersehbaren plötzlichen Aufprall nicht selbstständig machen konnten. Auf den Waggons davor standen unsere beiden Zugmaschinen. Am Tag danach verstauten wir in den überdachten Güterwagen zahlreiche Gerätschaften, unser Marschgepäck, Karabiner, Stahlhelme und dergleichen und richteten uns dazwischen so gemütlich wie möglich ein. Wir waren nur vier Mann in unserem Waggon, während in den anderen zehn bis fünfzehn Mann Platz finden mussten.
Unser Zug erschien mir endlos lang zu sein, als er an einem milden Maiabend am Isarufer entlang zunächst nach München rollte. Wir standen etwa eine Stunde am Ostbahnhof und durften zur Verrichtung unserer Notdurft abwechselnd und nur kurze Zeit unseren Wagen verlassen. Weiter ging es nach Salzburg und Wien, und weil unser Zug aus wahrscheinlich betriebsbedingten Gründen manchmal längere Zeit irgendwo warten musste, kamen wir nicht allzu schnell voran.
Wir rollten durch Ungarn. In der Donauebene, in einem kleinen Dorfbahnhof, hielten wir wieder einmal an, und hier umringten unsere Waggons plötzlich fröhlich tanzende Zigeuner, die mit unmissverständlichen Gesten bettelten.
»Vorsicht! Lasst sie nicht zu nahe kommen! Die klauen!«
Einige von uns warfen ihnen Zigaretten zu, deuteten ihnen aber auch an, einige Meter von den Wagen entfernt zu bleiben. Unser Unteroffizier fühlte sich dennoch dazu veranlasst, seine Pistole 08 zu ziehen, denn ein frecher, schwarz gelockter junger Mann wollte zu uns in den Wagen klettern. Wir lachten schallend, als er wieselflink zu den anderen zurücklief, dabei seinen Hut verlor, diesen rasch wieder aufhob und sich, den Hut vor seine Brust haltend, mit einer unnachahmlich demütigen Geste vor uns verbeugte.
Später, als wir auf freiem Feld anhielten, standen plötzlich zwei kleine Mädchen vor unserer Wagentür. Wir vier hatten bisher Karten gespielt, einen zünftigen »Schafkopf« gedroschen. Die beiden sahen allerliebst aus. Sie waren mit weißen Kopftüchern, blauen Blusen und bunt bestickten Schürzen über knöchellangen Röcken bekleidet. Die jungen Damen erweckten sogleich unsere Aufmerksamkeit.
Unser Unteroffizier rief lachend zu ihnen hinaus:
»Na ihr zwei Schönheiten, möchtet ihr etwa auch Zigaretten?«
Die beiden verstanden ihn jedoch nicht. Die etwas größere von ihnen knickste und hielt uns einen Strauß bunter Wiesenblumen entgegen, den wir gern annahmen und mit einer Tafel Schokolade belohnten. Als wir langsam weiterrollten, standen die beiden immer noch neben den Gleisen und winkten uns nach.
An einer kleinen Bahnstation in der weiten Ebene war bei einem längeren Aufenthalt große Wäsche an einem Pumpbrunnen angesagt. Wir konnten warmes Essen fassen, das unser Koch auf seinem von einer Plane überdachten Küchenwagen zubereitet hatte, und nahmen Kommissbrot, Hartwürste, einige Konservendosen und Zigaretten in Empfang. Wir waren durchweg froh gelaunt, obwohl das Rätselraten darüber nicht enden wollte, wohin unsere Reise führen sollte.
Kurz vor Budapest war die Donau über die Ufer getreten. Vom erhöhten Bahndamm aus konnten wir den etwa einen Kilometer weit entfernten Strom sehen, und ich dachte einige Sekunden lang daran, dass sich in dem Wasser der überschwemmten Wiese auch einige Tropfen der Loisach befinden könnten.
Von Budapest sahen wir lediglich das langsam an uns vorübergleitende, prachtvolle Parlamentsgebäude. Danach hielten wir kurze Zeit, ohne die Wagen verlassen zu dürfen. Wir hielten immer wieder, wobei wir abwechselnd unsere Notdurft verrichten konnten. Der Zug rollte mit uns durch die Pässe der Karpaten, während wir Karten spielten oder die draußen an uns vorbeiziehende Landschaft und bald schon die Dörfer Siebenbürgens bewunderten.
Irgendwann schlief ich fest ein. Horst aber rüttelte mich wieder wach:
»Aufstehen, du Schlafmütze, wir halten gerade in einem Vorortbahnhof von Bukarest. Dort ist zwar keine Stadtbesichtigung angesagt, aber so, wie ich dich kenne, wärst du mir böse, wenn ich dich schlafend durch die Hauptstadt unserer Waffenbrüder fahren ließe. Frag mich ohnehin immer, gegen wen die mit uns verbündet sein wollen.«
»Das würde ich auch gern wissen!«, rief Wachtmeister Kurz. »Der Führer hat mit den Russen einen Nichtangriffspakt geschlossen. Hier herrscht doch tiefster Frieden. Sollen wir etwa Löcher ins Schwarze Meer ballern?«
Gegen Abend des dritten Tages erreichten wir Galaz (Galati) am nördlichen Ufer der Donau, und wir vermuteten, dass wir hier ausgeladen werden sollten.
»Falsch gedacht!«, rief Hans Maul, als unser Zug nur kurz anhielt, um danach nordwärts wieder aus dem Bahnhof zu rollen.
Inzwischen war es Nacht geworden, und wir alle schauten uns verdutzt an, als wir neben einigen Bretterbuden anhielten. Auf dem uns gegenüber liegenden Bretterbau war ein Name zu lesen: Fulgaresti.
»Wachen für die Nacht einteilen!«
Diese laute Stimme gehörte zweifelsohne unserem Hauptmann. »Die Schreibstube kommt in das Haus neben dem Bahnhofsgebäude!«
Täuschte ich mich, oder klang in der Betonung des Wortes »Haus« leichter Spott mit?
»Spieß und Schreiber bleiben hier! Der Rest der Batterie marschiert zwei Kilometer weiter. Dort werden wir auf einer Wiese vor einem Waldhügel Zelte aufbauen. Etwas Bewegung wird uns allen guttun!«
In unserer »Schreibstube« hing eine nackte Glühbirne an einem wenig Vertrauen erweckenden Leitungsdraht an der Decke. Als der mürrisch um sich blickende Hauptwachtmeister den Drehschalter neben dem Eingang betätigte, huschte eine Ratte unter dem Lattenrost und der Bretterwand ins Freie.
»Hervorragend! Allein müssen wir hier jedenfalls nicht schlafen. Hängt alles Essbare an diesen Balken dort hinten. Warum, das brauche ich wohl nicht zu erklären. Unser Gastland hat aber an alles gedacht.« Er deutete auf drei alte Kisten, die als Schreibtische dienen sollten, Stühle und Feldbetten im Hintergrund und fügte in gelassenem Tonfall hinzu: »Morgen bekommen wir Telefon. Vielleicht finden wir schon bald etwas Besseres.«
Wir hatten schon während der Fahrt gegessen, waren rechtschaffen müde und froh, nicht als Wache eingeteilt zu sein. Jedenfalls schlief ich sofort ein und musste am Morgen herzlich lachen, als mir Hans zurief:
»Die nächste Ratte, die ich in der kommenden Nacht in diesem Schuppen herumtrampeln höre, stirbt den Heldentod!«
Anderntags begann die Entladung ohne jede Eile. Die Mannschaft und auch unsere Offiziere bezogen Quartier in der Schule und etlichen Häusern von Roscani, einer nahegelegenen kleinen Ortschaft. Das Dorf lag sauber eingebettet in einer leicht gewellten, fruchtbaren Kulturlandschaft. Wir, die Schreibstube, fanden Platz in einem aus Lehmziegeln errichteten und mit Stroh gedeckten Haus am Dorfrand. Wir wunderten uns, weshalb einige rumänische Offiziere so um unser Wohlergehen besorgt waren. Wieder einmal rätselten