als Haushaltshilfe oder Kinderfrau in anderen Familien unterzukommen, und wenn das nun Chajas Wunsch war, sollte es so sein. Hertzel würde sein Einverständnis verweigern, dachte sie, aber sie würde ihm zureden. Tante Rosa, die in der Nähe wohnte, hätte wohl nichts dagegen, ihre Nichte bei sich aufzunehmen. Und dann könnte sie, Gitel, endlich darangehen, sich nach einem Heiratskandidaten für Pauline umzusehen.
„Nein, Mutter, zu Tante Rosa möchte ich auf keinen Fall“, sagte Chaja. „Ich will ja gerade raus aus Krakau. Wie wäre es mit Tante Chaja Silberfeld, die in Wien lebt? Der könnte ich behilflich sein – und ich könnte Deutsch lernen! Magst du ihr nicht einen Brief schicken und sie fragen, ob sie eine Hilfe braucht?“
Gitel überlegte. „Deine Namenspatronin heißt inzwischen Splitter“, sagte sie, „Schwager Liebisch betreibt ein gut gehendes Pelzgeschäft. Ja, das wäre eine Möglichkeit. Hilfe im Geschäft ist immer willkommen. Und du, meine Große, verstehst dich ja sogar auf Buchführung. Ich setze mich gleich hin und schreibe ihr.“
Die Familiensolidarität bewährte sich. Gitels Schwester fand sich bereit, die Nichte bei sich aufzunehmen. Chaja jubelte. Mutter freute sich, und Vater musste es hinnehmen.
Das junge Fräulein Rubinstein reiste mit großem Gepäck, denn was sie da vorhatte, war keine Spritztour, sondern ein Auszug. In Wien sollte ein neues Leben für die Vierundzwanzigjährige beginnen. Sie verstaute all ihre feinen, selbst genähten Kleider in großen Reisekisten, dazu ihre Wäsche, Hüte, Stiefeletten, die Spitzenkrägen der Großmutter Rebecca und den Sonnenschirm. Insgeheim hoffte Gitel, ihre Älteste würde in der Residenzstadt endlich den richtigen Mann finden. Der Vater brummelte zum Lebewohl ein paar Worte, ohne seine Tochter anzusehen.
Der war es gleichwohl leicht ums Herz. „Ich zählte die Tage bis zu meiner Abreise“, schrieb sie in ihren Erinnerungen. Sie sehnte sich danach, es den Ihren und sich selbst zu beweisen, dass sie auf eigenen Füßen stehen und vorangehen konnte. Und die Tante und der Onkel waren sehr freundlich zu ihr. Sie zeigten ihr Wien, das mit seinen barocken Palästen, verwunschenen Parks und vornehmen Cafés eine so ganz andere Ausstrahlung besaß als das provinzielle Krakau. Chaja machte große Augen angesichts all dieser Pracht, aber sie hatte nicht die Absicht, sich selbst in den Cafés und Tanzbars umzutun. Die Eltern waren für ihre Reisekosten aufgekommen und hatten ihr etwas Zehrgeld für die erste Zeit mitgegeben, das hielt sie zusammen. Zuerst wollte sie Geld verdienen, dann konnte auch etwas ausgegeben werden. Und sie bat schon bald nach ihrer Ankunft, im Pelzgeschäft arbeiten zu dürfen.
Tante und Onkel staunten nicht schlecht, als sie sahen, wie sich Chaja im Laden machte. Sie wusste die Ware zu drapieren, die Kunden zu empfangen und die Kasse im Auge zu behalten. Schon bald überließ ihr der Onkel die Kundenberatung ganz, denn darin war die kleine Nichte richtig professionell. So zurückhaltend sie sonst war und so unsicher in der deutschen Sprache – wenn es darum ging, einer Dame, die sich für einen Pelz interessierte, die Ware zu erklären, sie über Herkunft und Verarbeitung zu informieren und ihr dann vielleicht einen ganz anderen Mantel als passenderen zu empfehlen, war Chaja so einfallsreich und beredt, dass einem die Ohren klingen konnten. Sie vermied es, Kundinnen etwas aufzuschwatzen, sie versuchte immer, den richtigen Pelz für die jeweilige Dame herauszufinden, sie erzeugte eine Atmosphäre der Freude an schönen Dingen, die es den Damen – aber auch Herren kauften bei Splitter Geschenke ein – erleichterte, ihre Wahl zu treffen. „Die Kleine ist eine geborene Verkäuferin“, sagte Liebisch zu seiner Frau. „Wir können Gott danken, dass sie zu uns gekommen ist.“ Chaja schrieb nach Hause, dass sie sich im Geschäft unentbehrlich gemacht habe – was der Wahrheit entsprach.
Nach zwei Jahren allerdings ging die ersprießliche Zusammenarbeit der Splitters mit ihrer Nichte zu Ende. Die Splitters entschieden sich für eine Verlegung des Geschäfts nach Antwerpen, und im dortigen Laden, auch in der vorläufigen Unterkunft, war für ihre Verwandte kein Platz. Dennoch wollten die Splitters sie gerne mitnehmen, sie überlegten hin und her, ob es wohl möglich sein könnte, sie bei der Buchführung einzusetzen, bis Chaja sagte:
„Ich danke euch für alles. Ich habe viel gelernt. Ich möchte in Antwerpen keine Last für euch sein. Tante Chaja, deine Brüder Bernhard und Louis leben in Australien. Ich habe schon oft daran gedacht, die Onkel zu besuchen und vielleicht auch – dort zu bleiben. Es heißt, dass es drüben Arbeit für alle gibt. Was meint ihr?“
Tante Chaja und Onkel Liebisch sahen einander an und dann der Nichte ins Gesicht, um rauszufinden, ob sie das ernst meinte. Sie meinte es ernst. Sie hatte schon länger darüber nachgedacht. Ihre Wanderlust hatte sich wieder geregt. Mit Macht.
„Wir werden deine Eltern fragen müssen“, sagte die Tante. „Wenn du wirklich entschlossen bist … Aber bedenke, mein Kind: Onkel Bernhard züchtet Schafe!“
„Ich weiß. Er ist Witwer und braucht bestimmt Hilfe im Haushalt. Was ich suche, versteht mich, ist das Unbekannte und die Herausforderung. So bin ich nun mal. Australien!“
Chaja hatte eigentlich keine rechte Vorstellung von Australien. Sie hatte von der enormen Weite des Landes gehört, von der Hitze, der Wildnis und auch von den schnell wachsenden Städten. Sie dachte, wenn sie Weite und Wildnis hörte, an Freiheit. Nachdem die Eltern ihrem Auswanderungsplan zugestimmt hatten, setzte sie einen langen Brief an den Onkel Bernhard Silberfeld auf mit der Bitte, bei ihm in Coleraine wohnen und sich nützlich machen zu dürfen. Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam; sie war positiv. Bernhard Silberfeld, Schafzüchter und Besitzer eines Ladens mit Waren für den täglichen Bedarf, war bereit, seine Nichte bei sich aufzunehmen. Wenngleich er sich doch fragte, ob diese staubige einsame Gegend für eine junge Frau aus der Stadt das Richtige sei. Noch dazu so weit weg von zu Hause, hier kannte sie doch niemanden. Chaja selbst aber stellte sich diese Fragen nicht.
Ihre Eltern taten es auch nicht. Hertzel und Gitel wussten: Die Tochter hatte keinen Beruf gelernt. Und sie war ohne Mitgift. Sämtliche Bewerber um ihre Hand hatte sie brüsk zurückgewiesen. Sie war praktisch nicht vermittelbar, weder auf dem Heirats- noch auf dem Arbeitsmarkt. Für eine junge Frau in ihrer Lage war Auswandern sehr wohl eine Möglichkeit, die sie und auch ihre Familie das Gesicht wahren ließ – es war eine Notlösung. Chaja hatte keine Ahnung, was sie auf dem fernen fünften Kontinent erwartete, sie war jedoch willens und bereit, ein neues Leben anzufangen. Ihre Mutter verkaufte eines ihrer letzten Schmuckstücke und schickte der Tochter das Geld nach Wien – mitsamt zwölf Tiegeln ihrer kostbaren Gesichtscreme nach dem Rezept des Jakob Lykusky. Die Splitters, Silberfelds und Rubinsteins, die Großeltern, weitere Verwandte und Bekannte gaben Geld für die lange Überfahrt. Damit kam Chaja als allein reisende Frau in der Kabinenklasse unter, was jeden Zweifel an ihrer Ehrbarkeit zerstreute. Sie packte abermals ihre Sachen, auch das weiße Faltenkleid kam in den Koffer, die Schuhe mit den hohen Absätzen, der Pelzkragen – ein Geschenk von der Tante – und der Sonnenschirm. Zunächst ging es per Zug nach Genua und von dort mit der Prinzregent Luitpold, einem Reichspostdampfer der Bremer Reederei Norddeutscher Lloyd, durch den Suezkanal über den Indischen Ozean nach Australien, in den Hafen von Melbourne.
Auf dieser Reise, die insgesamt drei Monate dauert, da das Postschiff auf großer Fahrt öfter anlegt, etwa in Neapel, Alexandria, Aden und Bombay, lernt Fräulein Rubinstein drei junge Männer kennen, die ihr sogar Heiratsanträge machen: zwei kleine Italiener, mit denen sie sich überhaupt nicht verständigen kann, und einen schnauzbärtigen Engländer. Ihre Deutschkenntnisse, so fragmentarisch sie sind, ermöglichen ihr den Kontakt zu Schweizern, Österreichern und Deutschen. Sie ist beliebt unter den Passagieren, man unterhält sich gern mit ihr. Aber man rätselt. Was ist das für ein Mädchen, das da ohne Anstandsdame im Schlepptau reist? Meist sind es leichtlebige Tänzerinnen oder Prostituierte, die ohne Begleitung unterwegs sind – auf der Flucht vor wem auch immer. Oder einsame Frauen, die mehr oder weniger verzweifelt einen Mann suchen. Dieses Fräulein namens Helena Rubinstein aber ist weder das eine noch das andere. Sie ist allein, aber sie kann sich behaupten. Ihr eignet eine gewisse