neu zu erfinden. Ein neuer Name ist da sehr hilfreich. Helena Rubinstein, mit diesem Namen hat sie sich in die Passagierliste eingetragen, damit ersetzte sie den hebräischen Namen Chaja, der strahlendes Leben bedeutete, durch das griechische Helena, das dieselbe Bedeutung hat. Sie spricht es seltsam aus, mit polnisch-jiddischem Akzent. Helena ist in der griechischen Mythologie die schönste Frau ihrer Zeit. So schön, dass jeder Mann sie besitzen möchte. Doch die schöne Helena aus Krakau ist nicht auf Männerjagd. Soll sie sich etwa Gefahren wie Schiffbruch, Unfall und Krankheit aussetzen, nur um schließlich im Hafen der Ehe zu landen? Doch sie fällt nicht nur auf, weil sie allein unterwegs ist. Sie ist schon auch eine besondere Erscheinung. Wegen ihrer geringen Größe hält man sie trotz ihres Alters für ein junges Mädchen, obwohl ihre weiblichen Rundungen ausgeprägt sind. Aus praktischen Gründen und wohl auch, weil sie es von der Mutter kennt, bindet sie die Haare zu einem Chignon, das lässt sie strenger wirken. Meist trägt sie ein Kleid mit Stiefeletten, einen Spitzenkragen und einen Sonnenschirm. Ihre Haut ist zart und hell wie Porzellan, diesen blassen Teint schützt sie sorgfältig gegen die Sonne. Auf dem Schiff macht sie die Bekanntschaft zweier Engländerinnen, die ihr hübsches Gesicht bewundern und sich ihrer ein wenig annehmen. Lady Susanna, die mit dem Sekretär des Gouverneurs von Queensland verheiratet ist – und Helen McDonald, die in Melbourne heiraten will. Beider Adressen vermerkt sie in ihrem Notizbuch, man kann ja nie wissen.
Im Hafen von Melbourne angekommen, fährt sie die restlichen 350 Kilometer weiter mit der Postkutsche bis nach Coleraine im Bundesstaat Victoria. Der kleine Ort mit seinen knapp zweitausend Einwohnern wurde erst fünfzig Jahre zuvor gegründet. Onkel Bernhard holt sie von der Station ab.
„Hallo Chaja, hier bin ich!“
„Ich heiße jetzt Helena, bitte nenn mich nur noch so.“
„Na gut, mir soll’s recht sein. – Ist dir nicht zu warm in der langärmeligen Bluse? Dein Schirm wird bald ziemlich schmutzig aussehen, und mit diesen hochhackigen Schuhen wirst du nicht weit kommen.“ Der Onkel spuckt ein Stück Kautabak aus und greift sich das Gepäck.
„Kannst du reiten?“ Als sie verneint, seufzt er und knurrt: „Als Erstes besorgen wir dir ein Paar Gummistiefel.“
Im Städtchen Coleraine, das lernt Helena bald, dreht sich alles um Schafe. Der Mensch kommt an zweiter Stelle, und er ist bäuerlich gekleidet, an Stil denkt hier niemand. Die Frauen in der Nachbarschaft tragen grobe Leinenkleider mit schmutzigen Säumen. Alle sprechen Englisch, Onkel Bernhard ziemlich radebrechend und mit Jiddisch vermischt, obwohl er schon viele Jahre hier lebt. So schnell wie möglich will Helena die Landessprache lernen. Dem Onkel ist dieser Ehrgeiz suspekt, er meint, die Schafe verstünden eh kein Wort. Er wünscht sich die Hilfe seiner Nichte auf der Farm. Da braucht sie nicht zu reden, und sie muss Gummistiefel tragen.
Die junge Einwanderin aber möchte sich lieber auf andere Art nützlich machen. Wie steht es denn um Silberfelds Laden – wie wäre es, wenn sie dort bediente und die Bücher führte? Dass sie das kann, hat sie doch schon in Splitters Wiener Pelzhandlung bewiesen. Außerdem will sie irgendwo einen Kurs belegen – um Englisch zu lernen. Der Onkel misst die zierliche Gestalt im weißen Kleid mit seinem Blick und zuckt die Achseln. „Diese Kleine ist wirklich nicht für die Viehwirtschaft geschaffen“, denkt er bei sich. Soll sie im Laden aushelfen und im Haushalt anpacken. Er will nicht mit ihr streiten, sondern den Familienauftrag erfüllen und sie so bald wie möglich an den Mann bringen. Er tut ihr den Gefallen und meldet sie in der Schule von Coleraine an. Sie darf dort am Englischunterricht teilnehmen.
Helena bezieht ein eigenes Zimmer im geräumigen Haus des Onkels, sie hilft der Haushälterin in der Küche und sortiert im Laden die Waren – sie kommt zurecht. Und in der ersten Zeit hat sie mit den Englischstunden, mit neuen Bekanntschaften in der Nachbarschaft und mit Besuchen im nahen Merino, wo Onkel Louis wohnt, auch allerlei Abwechslung. Aber nach einigen Monaten findet sie ihr Leben reichlich öde. Und als der Onkel, der sonst nicht viel redet, anfängt, einen gewissen jungen Mann aus der jüdischen Gemeinde öfter und mit Nachdruck zu erwähnen und auch noch zum Essen einzuladen, begreift Helena, was die Stunde geschlagen hat. Es ist die alte Leier: Sie soll heiraten.
„Ich mag diesen Galgenvogel nicht, Onkel“, mault sie. „Da ist nichts zu machen.“
„Ob du ihn magst oder nicht: Er ist Sattler. Sein Handwerk blüht. Alle bestellen bei ihm.“
„Umso besser für ihn. Was soll er da mit einer Frau?“
„Aber du weißt schon, Helena, dass deine Mutter sehnsüchtig auf eine gewisse Nachricht von mir wartet? Du wirst bald dreißig.“
„Das weiß ich selbst.“
„Worauf wartest du? Willst du einen Goj heiraten? Am Ende einen Goldsucher? Oder einen entlaufenen Sträfling?“
Helena steht auf und atmet tief durch. Jetzt wird sie dem Onkel ein für alle Mal klar machen müssen, dass sie nicht gedenkt zu heiraten. Und dass sie keine Lust hat, ihn noch weiter in die Synagoge zu begleiten. Ja, sie wird ehrlich mit ihm sein. An Kazimierz erinnert sie sich gern, sie hat als Kind in der Synagoge andächtig den Gesängen gelauscht. Auch die stille Frömmigkeit der Eltern konnte sie von Herzen respektieren. Doch als sie heranwuchs, hat sie festgestellt, dass etwas in ihr gegen Gott und Glauben aufbegehrte. Das muss sie dem Onkel erklären. Und sie tut es. Der Onkel schaut sie lange an.
„Kind, du machst dich unglücklich. Kein Glaube. Kein Mann. Wo soll das enden?“
„Wenn es einen Gott gibt“, sagt Helena, „dann hat er mich so gemacht, wie ich bin. Ohne Verlangen nach Gebet und ohne Verlangen nach Ehe. Auch ich bin sein Werk. Das solltest du anerkennen!“
Der Onkel schüttelt empört den Kopf. Er denkt weiter. Wenn die Nichte sich weigert, einen Mann zu nehmen, wird sie ihm zur Last fallen. So war das aber nicht gedacht. Er kann sie nicht ewig durchfüttern. Außerdem vermindert eine junge Frau im Haus seine Chancen auf eine Wiederverheiratung. Er wird mit Bruder Louis darüber reden müssen.
Der andere Onkel, der aus Merino, ist auch Schafzüchter. Er versucht, seiner Nichte das Reiten beizubringen. Talentiert, das sieht er gleich, ist sie nicht. Als er jetzt von Bernhard hört, wie renitent sie außerdem ist, sieht er sie mit anderen Augen. Im Pferdestall tritt er hinter sie und greift ihr mit beiden Händen an die Brust. Helena erstarrt. Dann dreht sie sich um, holt aus und schlägt dem Onkel mit ihrem Sonnenschirm nach Kräften auf den Kopf. Und stürzt davon. Ein Ochsenkarren nimmt sie mit zurück nach Coleraine. Der Mann auf dem Bock fragt nicht, und so kann Helena in Ruhe heulen.
Lange hat sie es nicht verspürt, und nun kommt es doch: das Heimweh. Wie rau, hart und brutal ist diese Welt, wie ungehobelt sind die Menschen. Da war doch das glänzende Wien etwas ganz Anderes, selbst Krakau besaß urbanes Flair im Vergleich zu Coleraine. Und die Menschen hatten Manieren. Großmutter Rebecca würde im Boden versinken, wenn sie erführe, was ihr Sohn Louis sich herausgenommen hat! Die Briefe, die Helena nach Hause schreibt und die sie von dort empfängt, trösten sie nicht mehr, sie denkt an Heimkehr. Aber wie würde sie sich fühlen daheim in Krakau, wenn sie bei den Ihren auf der Schwelle stünde – eine Verliererin, die es in der weiten Welt zu nichts gebracht hat? Nein, sie kann nicht zurück. Sie sieht ihre Schwestern vor sich, eine Hochzeit ist in Vorbereitung, die Mutter ganz aufgeregt. Bald wird sie die ersehnten Enkel wiegen – und ihre Älteste wird vergessen sein. Vergessen? Helena, allein im Geschäft und mit Abrechnungen beschäftigt, fühlt Tränen aufsteigen. Sie ist immer tapfer gewesen, all die Jahre in der Fremde, aber jetzt verlassen sie die Kräfte.
Da kommt eine Kundin in den Laden, eine Frau aus der Nachbarschaft. Helena putzt sich die Nase und winkt kurz mit der Hand.
„Hallo“, grüßt die Kundin und tritt näher. „Darf ich … darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“
„Nur zu.“
„Was tun Sie, meine Liebe, dass Sie eine so wunderbar faltenfreie, helle Haut haben?“
Helena lächelt. „Ich meide die Sonne, benutze einen Sonnenschirm oder trage einen Hut. Wenn Sie da drüben mal