Ingo Rose

Augen, die im Dunkeln leuchten


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den Hut und nickt. Sie zahlt und geht, und als sie an der Tür steht, ruft Helena: „Bitte kommen Sie morgen wieder. Ich habe noch etwas anderes für Sie.“

      Von den zwölf Dosen mit Lykusky-Creme hat Helena noch einige übrig. Ihr kommt die Idee, diese Creme im Geschäft anzubieten, damit die Bewohnerinnen von Coleraine nicht länger Gesichter haben wie Seemänner und mit dreißig ausschauen wie fünfzig. Sie schließt den Laden und geht schnellen Schrittes heim. Ihre Cremedosen hat sie kühl gestellt – in Onkel Bernhards Keller. Lykuskys Wundermittel ist ergiebig, ein Tiegel langt für viele Monate. Wenn Helena den Inhalt der restlichen Dosen auf viele kleinere Töpfchen verteilt, hat sie noch ein ordentliches Angebot, das sie ins Schaufenster stellen und mit Preisschildern versehen kann. Wäre doch gelacht, wenn die Kundinnen nicht zuschlügen und Helena zu einem kleinen Extraverdienst verhülfen. Und tatsächlich, es spricht sich schnell herum, dass es bei Silberfeld etwas Besonderes zu kaufen gibt. Bald sind die Cremetöpfe ausverkauft. Helena ist es zufrieden. Und sie hat einen Plan.

      Ich werde damit weitermachen, sagt sie zu sich. Ich werde Mutter bitten, mir noch mehr Dosen zu schicken. Aber wie lange wird es dauern, bis das Paket hier ist? Drei Monate? Und wenn ich es selbst versuche? Mir in der Apotheke von Sandford die Ingredienzien besorge und die Creme selbst anrühre? Ja, das könnte gehen. Mit der Mutter hat sie einmal darüber gesprochen, woraus die Creme denn wohl bestehe, sie weiß also, was sie zu besorgen hat. Zu der Apotheke im Nachbarort fährt der Onkel von Zeit zu Zeit, um sich ein Pflaster gegen Rückenschmerzen zu besorgen, dann nimmt er Helena mit. Mr Henderson, der Inhaber, ist ein freundlicher alter Mann, immer zu Scherzen aufgelegt. Ja, sie wird bei ihm einkaufen und die Creme selbst herstellen. Die Nachbarin war neulich schon wieder im Laden und wollte eine Dose als Geburtstagsgeschenk für ihre Schwester. Und es war keine mehr da. Helena weiß: Der Absatz wird nicht das Problem sein. Allein die Zufuhr. Wenn es ihr gelingt, die Creme selbst herzustellen, könnte sie irgendwann so weit kommen, sich mit einem Laden selbständig zu machen. Ihr schwindelt ein wenig, zugleich aber empfindet sie eine große Erleichterung und sogar Freude, denn endlich sieht sie vor sich einen Weg. Und der führt sie – nach Melbourne! Dort ist sie einst an Land gegangen und hat sich vor der Weiterfahrt nach Coleraine ein wenig umgeschaut. In Melbourne gibt es Leute, die gut aussehen wollen – wie in Wien. Schafe hat sie dort keine gesehen, dafür die neueste Mode. Helena hat ein Ziel.

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      Ihre Versuche, in des Onkels Küche eine Creme zu produzieren, schlugen indes fehl. Entweder war die Mischung aus Ölen, Kräutern, Wasser und Parfum zu flüssig oder zu fest, auch wollten sich die Bestandteile nicht recht verbinden, und Helena gab auf. Ich brauche mehr Wissen über Chemie, dachte sie. Und wer ihr da weiterhelfen konnte, war niemand anders als Mr Henderson. Wie der Alte in seinem weißen Kittel zwischen den Pülverchen und Pastillen hantierte, wirkte er sehr kompetent, und Helena hatte auch nie eine Hilfskraft in den nach Eukalyptus duftenden Räumen bemerkt. Ob er womöglich …? Bei der nächsten Gelegenheit bat sie ihn geradeheraus um eine Anstellung. Der Apotheker sah sie zweifelnd an und fragte: „Was sagt denn der Onkel dazu?“, doch Helena glaubte zu bemerken, dass er die Idee gut fand.

      Als sie ihm ihr Leid mit den Inhaltsstoffen der Creme klagte, die sich nicht vermischen wollten, lachte er und dozierte:

      „Emulsionen sind eine Wissenschaft für sich. Öl und Wasser stoßen sich ja ab – wie kriegt man es also hin, sie so zu mischen, dass eine glatte Konsistenz dabei herauskommt? Wenn Sie bei mir anfangen wollen, Miss Rubinstein, kann ich es Ihnen zeigen.“

      Onkel Bernhard wurde von Helena vor vollendete Tatsachen gestellt. Eigentlich wollte er erst einmal an Vater Rubinstein schreiben, hatte auch, wie er zugab, einen weiteren Heiratskandidaten an der Hand, aber Helena war jetzt nicht mehr aufzuhalten. Von Onkel Louis’ Übergriff hatte sie noch nichts erzählt, sie war aber entschlossen, damit rauszurücken, wenn Onkel Bernhard sich ihr in den Weg stellte. Doch was sollte der machen – er ließ sie ziehen.

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      Helena hatte sich eine Mitfahrgelegenheit nach Sandford organisiert – ein Nachbar brachte sie mit der Kutsche dorthin, denn Onkel Bernhard krümmte keinen Finger. „Du bist starrköpfig wie ein Schaf!“ Er gab ihr noch ein paar unschöne Bemerkungen auf Jiddisch mit auf den Weg, und das war’s.

      Apotheker Henderson zahlte seinem neuen Lehrling einen kargen Lohn, verlangte aber umso größeren Einsatz. Helena konnte auf dem Dachboden über dem Laden mietfrei wohnen, mit dieser Übereinkunft war sie zufrieden. Sie konnte viel von ihrem Lehrherrn lernen, sie war unabhängiger als je zuvor, und das war es schließlich, weswegen sie nach Australien ausgewandert war. Bei Henderson stand Helena lange Tage im Geschäft hinter dem Tresen, auch am Wochenende. Sie musste ihm beim Verkauf zur Hand gehen, die Chargen auflisten und die Gerätschaften in Ordnung halten. Natürlich hatte sie auch alle Hilfsdienste zu erledigen, die eine Lehre so mit sich bringt: schwere Kisten schleppen, waschen und trocknen, aufräumen und saubermachen, den Müll entsorgen, Einkäufe erledigen. Das alles machte ihr nichts aus, beim Onkel hatte sie doch auch den Haushalt in Schuss halten müssen, noch dazu ohne Bezahlung. Schwere Arbeit schreckte sie nicht. Und als Mädchen für alles hatte sie stets das große Ganze im Blick. Sie führte die Bücher, organisierte die Abläufe, dokumentierte und analysierte Rezepte und Versuchsanordnungen, kümmerte sich um die Werbung. Kurz: sie schlüpfte in die Rolle einer Unternehmerin. Von der Mutter aus Krakau trafen neue Cremetöpfe ein. Helena setzte den Preis ein wenig herauf und arrangierte die Dosen mit einem Blumenstrauß im Schaufenster der Apotheke.

      Ihr gefiel der Kontakt mit der Kundschaft; die Frauen von Sandford suchten wie schon die von Coleraine neugierig ihre Nähe. Alle Kundinnen sprachen ihr Expertise, gar Autorität zu und saugten begierig auf, was Helena ihnen empfahl: die Sonne zu meiden, besonders zur Mittagszeit, einen Schirm zu verwenden und eine Creme aufzutragen. Bald schon waren die letzten Tiegel verkauft, neue mussten bestellt werden. So konnte es nicht weitergehen, eine Lieferung aus Europa dauerte einfach zu lange. Henderson ließ Helena wissenschaftliche Aufsätze und Gutachten lesen, die sie ihm referieren musste, im Gegenzug erlaubte er ihr nach Feierabend eigene Versuche in seinem Labor. In aller Ausführlichkeit unterwies er sie in der Herstellung von Emulsionen, er sprach von inneren und äußeren Phasen, dispersen Systemen und Tröpfchengrößen. Jetzt ging es darum, die verschiedenen Bestandteile der Creme ausfindig zu machen. Helena ging mit dem Mikroskop an die Analyse. Aber es gelang nicht, ihr fehlte noch immer das notwendige Know-how. Auch Viskosität und Haltbarkeit der Creme bereiteten Probleme: mal war die Mischung zu klebrig, dann wieder unter den schwierigen klimatischen Bedingungen schnell verdorben. Sie benutzte sich selbst als Versuchskaninchen und zog sich so manches Mal Hautreizungen, Verfärbungen oder kleine Pickel zu, die sie unter ihren Ärmeln verbarg. Doch dann erinnerte sie sich an etwas, worauf sie in Hendersons alten Büchern immer wieder gestoßen war.

      Bei der Zubereitung von Salben musste ein bestimmter Eingangsstoff vorhanden sein, und das war Wollwachs, das Sekret aus den Talgdrüsen von Schafen. „Genau, das ist es!“, rief sie. Aufgeregt sammelte sie alle Utensilien, die in Hendersons Apotheke zu finden waren, um Schafwolle auszuwaschen und so das Wollwachs zu gewinnen. Das Lanolin, wie Wollwachs auch genannt wird, roch streng, Helena kannte die fiesen Ausdünstungen von Schafen gut genug. Auf Hendersons Rat hin behandelte sie die Wolle daher mit Rosenwasser. Nach einigen Versuchen wurde die Konsistenz der Creme deutlich besser, nun könnte sie ihre ersten Chargen selbst produzieren. Doch für größere Mengen, die absehbar nötig waren, musste sie moderne Gerätschaften verwenden und dafür brauchte sie Geld. Auch für die Vorfinanzierung der mannigfachen Zutaten reichte ihr Erspartes nicht aus.

      Eine Weile erwog Helena, die Perlenkette, die Großmutter Rebecca ihr geschenkt hatte, zu versetzen. Doch sie verwarf den Gedanken. Die Perlen bedeuteten Heimat. An so manchen einsamen Tagen war das Familienband immer noch ein Trost. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als Geld zu borgen. Aber von wem? Weder die Onkel noch Mr Henderson kamen dafür in Frage. Helena grübelte. Sie schob die Kreditaufnahme erst mal in den Hintergrund und entschloss sich stattdessen, aus Sandford wegzugehen. In einer größeren Stadt werde ich weiter kommen, sagte sie sich. Wie hieß noch die nette Frau auf der Prinzregent Luitpold, deren Mann beim Gouverneur von Queensland arbeitet?