Jacques Derrida

Die Todesstrafe II


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andererseits so wenig kantianische Text bezüglich der Todesstrafe an eine Kantische Logik anknüpft. Benjamin erwähnt nämlich, was er „eine überraschende Möglichkeit“ nennt.27

      Welche? Nun, jene, die das „Interesse des Rechts“ betrifft, und zwar ein Interesse des Rechts, das nicht daran interessiert ist, dies oder jenes, dieses Allgemeininteresse, dieses oder jenes bestimmte Interesse, diese legale Einrichtung oder jenen besonderen Rechtszweck vor individuellen Subjekten und individuellen Gewaltsamkeiten zu schützen, nein, das Recht hat auf ganz tautologische Weise ein Interesse daran, sich selbst zu schützen, und also die Gewalt [violence] zu monopolisieren, indem es sie dem Individuum nimmt. Daher spricht Benjamin von einer „Monopolisierung der Gewalt“ durch das Recht. Das Recht ist die Gewalt [force], das Recht, das ist die absolute Kapitalisierung, die hyperbolische Aneignung der Gewalt [violence]. Die individuelle Gewalt bedroht nun nicht dieses oder jenes Interesse außerhalb des Rechts, außerhalb des Gesetzes, sie ist schlicht und einfach bedrohlich für das Recht, für das Interesse des Rechts selbst, weil sie ihre eigene Existenz (bloßes Dasein*) außerhalb des Rechts hat. Was bestraft und sanktioniert wird, ist dann nicht diese oder jene Missetat, das Böse, das sie hervorrief, der Schaden, den sie nach sich zog, die Überschreitung dieses oder jenes Verbots. Was bestraft wird, ist die Herausforderung des Gewaltmonopols, welches das Recht konstituiert (in Wirklichkeit der souveräne Staat, obwohl Benjamin damals eher nur vom Recht als vom souveränen Staat spricht). Nun kommt die Bemerkung, die ich mit Benvenistes Frage nach der „recht vage[n] Verknüpfung“ zwischen strafen und ehren verbinden wollte. Wir gehen von Benveniste zu Benjamin über, beziehungsweise wir glauben eine Antwort Benjamins auf Benveniste zu vernehmen, wenn Letzterer – ohne allzu sehr daran zu glauben – nach der vagen Verbindung zwischen Glorifizieren und Bestrafen, Ehren und Strafen fragt. Kurz nachdem er diese Hypothese einer Monopolisierung der Gewalt durch das Recht formuliert hat, findet Benjamin die eklatanteste Bestätigung dieser Hypothese in der „heimliche[n] Bewunderung des Volkes“ für „die Gestalt des ‚großen Verbrechers‘“28.

      Der große Verbrecher, das ist die souveräne Ausnahme dessen, der sich darauf verstanden hat, entweder die Monopolisierung der Gewalt durch das Recht herauszufordern und zu bestreiten (also durch den Staat, der diese Monopolisierung selbst ist – und gleich danach spricht Benjamin die Frage der Staatsgewalt an, in Bezug auf den Streik und den Krieg, aber ich werde nicht darauf zurückkommen, da ich sie [diese Fragen] in Gesetzeskraft angesprochen habe29) [der große Verbrecher, das ist also die souveräne Ausnahme dessen, der sich darauf verstanden hat, entweder die Monopolisierung der Gewalt durch das Recht herauszufordern und zu bestreiten] oder sich, als Individuum, die Gewalt anzueignen, die das Recht den Individuen entzogen hat. Das Volk ehrt also heimlich den „großen Verbrecher“, selbst wenn es der ihm auferlegten Bestrafung applaudiert; übrigens (immer noch die Frage des Spektakels und der Sichtbarkeit, des Voyeurismus, die wir letztes Jahr mit und gegen Foucault behandelt hatten, wobei wir auch Victor Hugo und Albert Camus gelesen haben30), wenn das faszinierte Volk den Martern oder den Hinrichtungen beiwohnen möchte, wenn es sie genießt oder bejubelt, dann deswegen, weil sein Hass auf den oder seine Furcht vor dem Verurteilten mit einem heiligen Schauder [horreur sacrée] vermischt ist, bestehend aus Bewunderung, Erstaunen, Neid gegenüber demjenigen, dem es in einer Art Duell mit dem Staat oder dem Recht, mit dem Gewaltmonopol, beinahe gelungen ist, sich die größte Kraft/Gewalt [force] wiederanzueignen und den Staat herauszufordern. Selbst wenn das Volk das Todesurteil verlangt, erkennt es im Verbrecher, im „großen“ Verbrecher, demjenigen, den man zum Tode verurteilt, eine absolute, fast souveräne Macht an. Der „große“ Verbrecher wird im Grunde, in seiner „Gestalt“, wie Benjamin sagt, so etwas wie der Repräsentant des Volkes in seinem latenten Protest gegen das Recht oder gegen den souveränen Staat, der ihm, dem Volk, die Gewalt [violence] entzogen hat, der das Volk der Gewalt beraubt hat, der das Volk vergewaltigt [violé] hat, um die Gewalt zu monopolisieren. Die Bewunderung für den Verbrecher, so heimlich und unbewusst, so uneingestanden sie auch bleiben mag, ähnelt einer Rache des Volkes am Recht oder am souveränen Staat, der ihm Gewalt angetan hat, um die Gewalt zu monopolisieren, selbst wenn dieser Akt der staatlichen oder juridischen Gewalt gegen das Volk im Interesse und mit Zustimmung des Volkes geschah. Ich glaube, dass Benjamin genau das sagen will, wenn er von einer „Sympathie der Menge gegen das Recht“31 spricht. Das Recht, das „heutige Recht“, sagt Benjamin – der so zu verstehen gibt, dass die Dinge anders sein konnten oder sein könnten –, wird vom Volk als eine Bedrohung empfunden, weil es ihm Gewalt angetan hat, um ebendiese Gewalt zu monopolisieren; und die Bewunderung, die den Verbrecher glorifiziert, ist ein Zeugnis dieser Situation. Aber da dasselbe Volk zugleich die Verurteilung fordern und den Verurteilten bewundern kann, und es ist Volk nur in dem Maße, in dem es zu diesem Widerspruch fähig ist, in einer Logik der Opferung, in der man sowohl die Logik des pharmakos (ausgeschlossen und gefeiert, ausgeschlossen und erwählt) als auch die Logik des sacer (gesegnete und verfluchte Sakralität zugleich) wiederfindet, kann der Begriff des „Volks“ oder der „Menge“ nicht auf einer Logik des repräsentativen und objektiven Bewusstseins beruhen, sondern bereits auf einem bestimmten unbewussten Affekt, den es im Herzen der Problematik zu berücksichtigen gilt. Das Volk ist unbewusst und verfügt über ein Unbewusstes, wo es sich auf die legale Gewalt, auf die Monopolisierung der Gewalt durch das Recht bezieht. Wenn Benjamin von einer „heimliche[n] Bewunderung“ des Volkes für den großen Verbrecher spricht, dann geht diese Heimlichkeit/dieses Geheimnis [secret], diese innerlich verborgene, private, heim-liche (heimliche*)32 Dimension, dieses Uneingestehbare der Bewunderung aus der Nacht des Unbewussten hervor, aus einer unbewussten Verhandlung zwischen dem (im Grunde legitimen, aber uneingestehbaren) Begehren, gegen die Monopolisierung der Gewalt durch das Recht zu protestieren, und dem scheinbar eher eingestehbaren und ebenfalls legitimen Begehren, das Recht und also die Verurteilung des Verbrechers zu billigen. Das vollzieht sich vielleicht zwischen jenen zwei Ordnungen, die Kant unterscheidet, der poena naturalis und der poena < forensis >.33 Ohne dass Benjamin es in dieser Form sagt, können wir daraus bereits schließen, dass der zum Tode verurteilte große Verbrecher immer gefürchtet34, aber heimlich, unbewusst bewundert wird wie ein Revolutionär, wie ein in politischen Angelegenheiten Verurteilter. Selbst wenn sein Verbrechen allem Anschein nach nicht politisch ist, selbst wenn es ein Verbrechen gemeinen Rechts35 ist, ist durch die Tatsache, dass er durch sein Verbrechen die politische Gewalt des Rechts, das staatliche Gewaltmonopol herausgefordert hat, jedes große Verbrechen ein politisches Verbrechen und/oder eine politische Großtat. Es ließen sich viele Beispiele anführen für diese oftmals unentscheidbare und poröse Grenze zwischen dem Verbrechen gemeinen Rechts und dem politischen Verbrechen. Nicht nur in all den Fällen, in denen der Staat es aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichen Situationen für opportun hält, einen Anklagepunkt umzuwandeln und einen politischen Anklagepunkt unter einem Anklagepunkt gemeinen Rechts zu verbergen (Mumia Abu-Jamal: Kommentieren+), sondern wir können auch in Betracht ziehen, dass die Logik rousseauistischen Typs, die darin besteht, die Todesstrafe zu rechtfertigen, indem man den Verbrecher im Allgemeinen als Staatsfeind definiert, der den verrät und das Gesetz herausfordert, < dass > diese Logik des „Staatsfeinds“ [ennemi public] darin besteht, aus jedem Verbrechen ein politisches Verbrechen zum machen.

      2. Zweites Motiv: Es gibt noch ein anderes Motiv, ich hatte es angekündigt, das ich, sehr kurz, in Benjamins Text situieren möchte, den ich Ihnen im Übrigen zur nochmaligen Lektüre empfehle. Wir wollen es „die begründende Ausnahme oder das ausgeschlosseneingeschlossene-Transzendentale“ nennen. Es handelt sich in Wirklichkeit um die Konsequenz aus dem, was wir gerade analysiert haben. Sie berührt aber direkt die Todesstrafe, während Benjamin bislang nur von der Monopolisierung der Gewalt durch das Recht und die heimliche Bewunderung für den großen Verbrecher sprach. Wenn er, vier oder fünf Seiten weiter, die Todesstrafe diesmal beim Namen nennt, tut er das im Rahmen einer Überlegung, die sowohl an Kant erinnert (der die Todesstrafe als Ursprung und Möglichkeit selbst des Rechts rechtfertigt), als auch die Notwendigkeit dieser Kantischen Logik in eine Geschichte einschreibt, die es vielleicht erneut in Frage zu stellen gilt (ausgehend von Benjamin’schen Schemata, die die mythische Gewalt des griechischen Rechts der göttlichen Gewalt jüdischen Typs gegenüberstellen, und die rechtsgründende