vollzieht, besonders wenn Gewalt und sexueller Missbrauch in die sensiblen Prozesse dieses Alters eingreifen. Dann kann es zu dauerhaften posttraumatischen Veränderungen der Persönlichkeit kommen. Viele neurotische Störungen auf niederem Strukturniveau kommen durch das Zusammenspiel frühkindlicher Entwicklungsstörungen mit traumatischen Erlebnissen in Kindheit und Jugend zustande.
Das Leben als Erwachsener
Im mittleren Erwachsenenalter ist es die wichtigste Aufgabe, die individuelle Balance zwischen verschiedensten Ansprüchen von innen und von außen zu finden und zu bewahren. Wichtige Aufgaben sind, ein passendes Verhältnis zwischen Weiterführung und Ausbau der Entwicklung, Aufbau und Vorwärtsstreben einerseits und Verzicht und Beharren andererseits zu finden, einen Standort zwischen Fremdbezogenheit und Selbstbezug zu erlangen, einen Ausgleich zwischen Bedürfnis und Verpflichtung, zwischen Anstrengung und Entspannung. Die Art und Weise der tatsächlich gelebten Balance gibt dem Leben seine Individualität; in ihr äußert sich das innere unbewusste Gefühl der persönlichen Identität.
Es wird in diesem Buch immer wieder von den Konflikten des Alltags die Rede sein, die zum Anlass für neurotische Störungen werden. Es sind damit vorwiegend die Konflikte im mittleren Erwachsenenalter im dritten und vierten Lebensjahrzehnt gemeint, die mit den vielfältigen Bewältigungsaufgaben in Beziehungen und im Beruf verbunden sind. Dieses Alter ist die Lebensphase, in welcher der überwiegende Teil der neurotischen Störungen erstmals auftritt.
Mit der Lebensmitte ist meistens auch der Zenit des Aufbaus überschritten. Jetzt geht es um Bewahren und Neubestimmung. Der Abschied der eigenen Kinder erfordert eine Neudefinition der Partnerschaft. Mit der Rücknahme von Plänen und bis dahin scheinbar selbstverständlichen Zielen stellt sich verstärkt die Frage nach der Zukunft und dem Lebenssinn. Die Krise der Lebensmitte kann zu kreativen Lösungen und Wandlungen der bisherigen Lebensform führen. Menschen, die in ihrem Selbstwertgefühl an Aufstieg und Erfolg, Bewunderung und Beweise ihrer Größe gebunden sind, geraten aber in Gefahr, in narzisstische Krisen zu geraten und zu scheitern.
Mit dem Ruhestand beginnt die Periode des Verzichtes, die Wahrnehmung und Anerkennung von Grenzen an Kraft, Zeit und Perspektive. Rückzug aus sozial verantwortlichen Positionen, Abschied von der täglichen Arbeit, verblassende körperliche Attraktivität, nachlassende sexuelle Bedürfnisse, das ist die eine Seite des Erlebens. Ihr steht gegenüber, dass der Ruhestand für viele eine Periode des Lebens ist, in der sie ohne Zeitdruck und wirtschaftliche Sorgen Interessen nachgehen können, vielleicht erstmals »zu sich selbst kommen«. Zugleich werden die Generationengrenze gegenüber den Berufstätigen und eine relative soziale Isolierung spürbarer. Verluste von Eltern und Menschen auch der eigenen Generation leiten zu einer Besinnung auf die Endlichkeit des Lebens, in die Auseinandersetzung mit dem Altern und dem Sterben über. Rückblick und Bilanz stehen auf der einen Seite, Nutzung der verbleibenden Zeit auf der anderen. Das macht eine Neubestimmung der eigenen Identität erforderlich. Diese Schwellensituation stellt vor allem das Selbstwertgefühl auf die Probe. Sie kann zur Krise werden, wenn der Rückblick in Resignation und Verzweiflung endet. Darin haben depressive Störungen, Somatisierungssyndrome (Schlafstörungen), aber oft auch sekundäre psychogene Störungen ihren Ursprung. Sie können von einer neurotischen Verarbeitung nun gehäuft auftretender körperlicher Leiden ihren Ausgang nehmen.
Das Alter
Mit dem Alter104 rückt das Erleben der Begrenzungen in den Vordergrund. Abschiede und Schmerz, oft Einsamkeit und Resignation lassen den Blick in die Vergangenheit zurückgehen, die nun oft idealisiert und zurückersehnt wird. Dem kann – bei erhaltener körperlicher und geistiger Rüstigkeit – eine von Gelassenheit, Lebenserfahrung, Weisheit und Dankbarkeit getragene Haltung gegenüber dem Leben entgegenwirken, mit der es gelingt, Interesse am Gegenwartsprozess zu bewahren und daran teilzuhaben.
Die Häufung von Verlust-, Trennungs- und Verlassenheitserlebnissen, aber auch die Verletzung des Selbstwertgefühls, die mit der oft zunehmenden Isolierung verbunden sein kann, können spezifische alte Konflikte wiederbeleben und vor allem depressive Störungen in psychischer oder somatisierter Form herbeiführen. Oft tritt als Reaktion auf die Konflikte des Alterns auch eine Verstärkung der Charakterpathologie mit zunehmendem Geiz, Neid oder anderen Charaktersymptomen zu Tage. Bisweilen ist die Beurteilung auch schwierig, weil psychodynamische und hirnorganische Prozesse zusammenwirken. Häufig treten solche Störungen im Alter erstmals auf, bisweilen handelt es sich aber auch um eine erneute Manifestation einer bereits früher einmal vorhandenen Störung.
In allen Stufen des Lebens kommt es darauf an, Lösungen im Bewältigungsprozess zu finden, die mit dem eigenen Identitätsgefühl verträglich sind. Im Idealfall wächst man an den Aufgaben des Lebens. Die Voraussetzung dazu ist allerdings nicht nur eine einigermaßen geglückte prägende Frühentwicklung, sondern auch eine förderliche Umwelt und Beziehungen, die einen stützen.
Zur Vertiefung empfohlene Literatur
Entwicklungspsychologische Befunde: Fonagy P (2001), Stern D (1985), Dornes M (1993, 2006)
Erlebnisverarbeitung: Mentzos S (1982, 2009), Riemann F (1961), Rudolf (2004)
Psychoanalytische Entwicklungstheorie: Blanck G u. Blanck R (1979), Ermann M (2019), Fonagy P u. Target M (2003), Mertens W (1992), Seiffge-Krencke I (2004), Tyson P u. Tyson RL (1990)
Entwicklung und Lebenszyklus: Blos P (1962), Erikson EH (1950, 1959), Radebold H (1992)
29 Vgl. Mentzos (2009)
30 Kernberg (1976)
31 Edelman (1989)
32 Stern (1979), Köhler (1990)
33 Ermann (2016)
34 Rudolf (2004), Rudolf u. Henningsen (2013); vgl. auch die »überdauernden Konflikte« nach OPD-2,
35 Winnicott (1965)
36 Mitscherlich A (1969)
37 Ermann (2016)
38 Ein Beispiel für die Regression im Körperlichen ist das Bettnässen: Die Regression betrifft hier die Sphinkterkontrolle, sodass ein Erwachsener »wie ein kleines Kind« einnässt.
39 Rudoff (2013), Kruse (2017)
40 Freud (1923)
41 Hartmann (1964)
42 Erikson (1959), Bohleber (1992)
43 Freud A (1974)
44 Rudolf (2002)
45 Arbeitskreis OPD (2006)
46 Es gibt eine Fülle von Publikationen zum Thema Psychotherapie und Neurobiologie. Zur Einführung wird auf die Folgenden verwiesen: Roth (2001), Schiepek (2016), Kandel (2008).
47 Köhler (1998)
48 Freud (1905)
49 Lichtenberg (1987), Stern (1985), Dornes (1993)
50 nach Dornes (2000)
51 Dornes (1983, 2000). Der Begriff stammt ursprünglich von Stone u. a. (1973).
52 Papousek (1989), Köhler (1990)
53 Bauer (2005)
54 Rizzolatti u. Sinigaglia (2008)
55 Bowlby (1975, 1976)
56 Die »Baltimore-Studie« von Ainsworth u. a. (1978)
57 Pechstein, s. Tress (1986)
58 Modifiziert nach Egle u. a. (1997a)
59 Tress (1986)
60 Zur frühen Säuglingsforschung vgl. Freud A (1952), Bick (1964), Spitz (1965), Mahler (1968)
61 Hartmann H (1964)
62 Piaget (1954)
63 Freud (1905,