Michael Ermann

Psychotherapie und Psychosomatik


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überfordert ist. Diese Voraussetzung hängt von vielen Faktoren ab, u. a. von äußeren Gegebenheiten, von der Unterstützung durch andere oder von kreativen Fähigkeiten und Ressourcen in einem selbst, von der Fähigkeit, sich selbst zu trösten.

      Wenn die Bewältigung auf diese Weise nicht gelingt, bleibt der Weg hin zur neurotischen Erlebnisverarbeitung. Je nach Art, Zeitpunkt und Anlass entstehen dabei verschiedene Verarbeitungsmuster, die im Folgenden als Grundformen der psychogenen Pathologie erläutert werden.

      Entwicklungspathologie

      Sehr frühe und intensiv belastende, beängstigende und überfordernde Erfahrungen werden nicht bewältigt. Sie führen zur Fixierung einer chaotischen, zerstückelten inneren Welt mit diffusen Ahnungen über sich und andere. Es kommt zur Ausbildung von Leerstellen in der Persönlichkeitsorganisation, die sich später als strukturelle Ichstörungen und Unklarheiten über sich selbst und andere zeigen. Sie sind in das Erleben von Mangelzuständen, Vernachlässigung und Verletzung des Nähe-, Bindungs- und Sicherheitsbedürfnisses in der vulnerablen Frühentwicklung eingebettet.

      Diese Erfahrungen treffen ein unreifes Ich, das sich noch in der frühen, subjektiv »gespaltenen« Welt bewegt, die von »unbegreiflichen« emotionalen und sensorischen Wahrnehmungen geprägt ist. In diesem Zustand des prozeduralen Selbst- und Beziehungserlebens gibt es noch keine Begriffe. Er kann später auch nicht bildhaft-begrifflich erinnert werden. Die Erfahrungen werden stattdessen als affektive, sensorische und körperlich empfundene Zustände im implizit-prozeduralen Gedächtnis aufgehoben.

      Der unreife, unerfahrene kleine Säugling ist auf seine Pflegepersonen angewiesen, um sich Orientierung zu verschaffen und sein fragiles Selbst stabil zu halten. Wenn er nun z. B. durch eine Krankheit eine lange Trennung erfährt, kann diese noch labile Fähigkeit verloren gehen. Wenn es sich um intensive oder anhaltende Entbehrungen handelt, können daraus Störungen der inneren Entwicklungsprozesse entstehen. Sie bewirken, dass die Bewältigung phasenspezifischer Entwicklungsaufgaben scheitert, z. B. die Überwindung des »gespaltenen« Erlebens der sog. schizoid-paranoiden Position oder die Stabilisierung der Bindungsfähigkeit in der intentionalen Entwicklung. Schwerwiegende Trennungserfahrungen bewirken auf diese Weise eine Fixierung der Spaltungsabwehr, ein brüchiges Selbstgefühl und ein unsicheres Bindungs- und Beziehungsverhalten.

      So entstehen Entwicklungsdefizite, die als Störung basaler struktureller Fähigkeiten und gering integrierte Selbst- und Objektrepräsentanzen in der Persönlichkeit verankert werden. Sie betreffen vor allem die Wahrnehmung, die Trieb- und Affektregulation, das Selbstgefühl und die Bindungsfähigkeit, die Entwicklung reifer Objektbeziehungen und die Bildung des Gewissens und der Ideale. Sie können durch kompensatorische Erfahrungen ausgeglichen und aufgeholt werden. Wenn das nicht geschieht, bleibt eine dauerhafte Verformung der Persönlichkeit mit einer spezifischen Schwäche der basalen Selbst- und Beziehungsregulation bestehen. Diese Persönlichkeitsorganisation wird als Entwicklungspathologie108 beschrieben. Sie bildet die Disposition für Strukturstörungen auf niederem Strukturniveau (image Kap. 4.2).

      Die Entwicklungspathologie hat demnach eine beziehungsorientierte und eine strukturelle Dimension. Darauf beziehen sich die später zu behandelnden Behandlungsansätze: Sie umfassen eine wachstumsfördernde Haltung (beziehungsorientierter Ansatz) oder die Substitution und Übung (strukturorientierter Ansatz) oder eine Kombination von beiden (image Kap. 17).

      Konfliktpathologie

      Eine deutlich reifere, im Entwicklungsverlauf spätere Form der neurotischen Erlebnisverarbeitung ist die Verdrängung von unlösbaren und ungelösten Konflikten. Sie betrifft Menschen, deren Erziehung nicht angemessen auf die kindlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten ausgerichtet ist. Sie werden vor Aufgaben und Konflikte gestellt, die sie nicht lösen können. Sie geraten dadurch immer wieder in Konfliktsituationen, in denen sie überfordert sind. Es entwickelt sich eine habituelle Abwehr dagegen, welche die Persönlichkeit prägt.

      Die Voraussetzung ist, dass der innere Zwiespalt als Konflikt wahrgenommen und erlebt werden kann. Diese Fähigkeit ist mit der Entwicklung des explizit-deklarativen Erlebnis- und Gedächtnismodus verbunden. Sie entsteht am Ende des ersten Lebensjahres und ist im Alter von eineinhalb bis zwei Jahren fest etabliert. In dieser Zeit sind verdrängte neurotische Konflikte in der Innenwelt wirksam. Sie müssen fortwährend durch eine habituelle Abwehr vom Bewusstsein ferngehalten werden. Diese Aufgabe überformt mehr und mehr die Persönlichkeit. Es bildet sich ein Locus minoris resistentiae, d. h. die Betroffenen können auch später ähnliche Konflikte nicht bewältigen. Sie dekompensieren in vergleichbaren Situationen.

      Auf diese Weise entstehen unter dem Einfluss einer andauernden Abwehrarbeit Bereiche verminderter Konfliktfähigkeit und unzureichender Lösungsmöglichkeiten. Es besteht die Gefahr, in ähnlichen konflikthaften Auslösesituationen zu entgleisen. Diese psychische Situation wird mit dem Begriff Konfliktpathologie109 beschrieben. Auf der Grundlage dieser Persönlichkeitsorganisation entstehen Konfliktstörungen, d. h. neurotische Störungen auf höherem Strukturniveau (image Kap. 4.4).

      Präödipale Pathologie

      Die Gegenüberstellung von frühen Störungen und reiferen Störungen, von Entwicklungspathologie und Konfliktpathologie betont die beiden Pole, welche die Ergebnisse einer neurotischen Erlebnisverarbeitung abbilden. Dazwischen liegt ein breites Spektrum von Möglichkeiten, in dem sich die Verschiedenheit und Vielfalt individueller Entwicklungen niederschlägt. Hier mischen sich Entwicklungs- und Konfliktpathologie. Dieser Bereich ist maßgeblich für die präödipale Pathologie und die daraus entstehenden Störungen.

      Um die Entwicklungsdynamik dahinter zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Entwicklung sich als Kontinuum vollzieht, in dem Fortschritte langsam erzielt und überholte Positionen nach und nach überwunden werden. Bei jedem dieser Schritte kann es zu Störungen kommen. Ein bedeutender Teil der neurotischen Störungen ist deshalb zwischen den Polen angesiedelt und enthält Merkmale beider Störungsformen. Diese Konstellation wird in diesem Buch als mittleres Strukturniveau beschrieben (image Kap. 4.3).

      Entwicklungstraumatisierung und Traumapathologie

      Ein dritter Weg der Erlebnisverarbeitung wird eingeschlagen, wenn Kinder und Jugendliche, deren Persönlichkeit sich in der Entwicklung befindet, traumatischen Erlebnissen ausgesetzt sind. In Abgrenzung von Traumaerfahrungen im Erwachsenenalter trifft dafür die Bezeichnung frühe oder Entwicklungstraumatisierung zu. Dabei handelt es sich um Erlebnisse, die den heranreifenden Menschen in einen Zustand verzweifelter Hilflosigkeit stürzen.

      Sie bewirken ein inneres Chaos und den Zusammenbruch der psychischen Abwehrfunktionen. Sie zerstören die Fähigkeit, die Erfahrungen zu integrieren und kognitiv und emotional zu verarbeiten. Beispiele dafür sind makrotraumatische Erfahrungen von sexueller oder aggressiver Gewalt in Kindheit und Jugend. Ebenso wirken Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen, womit anhaltende Mikrotraumatisierungen durch Vernachlässigung und Verwahrlosung bezeichnet werden.

      Frühe Traumaerfahrungen führen zu einer Unfähigkeit, emotionale Erregung zu verarbeiten. Sie werden nicht mentalisiert und bilden eine Schwachstelle in der späteren Persönlichkeit. Sie bewirkt, dass das frühe traumatische Erleben selbst dissoziiert und wie in einer Kapsel von der übrigen Persönlichkeit getrennt gehalten wird. Es nimmt an der weiteren Entwicklung nicht teil. Auf diese Weise wird eine Überflutung der Persönlichkeit durch Erinnerungen verhindert.

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