Stefan Breuer

Moderner Fundamentalismus


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von seiten eines begnadeten Heros oder eines inkarnierten Gottes zuteil werden (Fremderlösung). Als mögliche Eigenaktivitäten kommen in Frage: rituelle Handlungen, soziale Leistungen und Heilsvergewisserung qua Selbstvervollkommnung. Der zuletzt genannte Weg, bei dem das Heil zunächst über Ekstase angestrebt wird, wird von Weber am ausführlichsten behandelt. Hat die Ekstase den Charakter einer akuten Entrücktheit, dann manifestiert sie sich in Erscheinungen wie Orgie, Rausch, Euphorie. Hat sie den Charakter eines chronischen Habitus, dann tendiert sie zur Selbstvergottung. Ist der Platz Gottes jedoch bereits durch einen überweltlichen allmächtigen Gott besetzt, so ergeben sich zwei Möglichkeiten als Substitute:

      Zum einen ein Selbstverständnis, bei dem sich der Handelnde als ‚Gefäß‘ Gottes auffaßt – der Fall der Kontemplation oder der Mystik. Zum andern ein Selbstverständnis als ‚Werkzeug‘ Gottes – der Fall der Askese. Von dieser heißt es weiter, sie könne in Gestalt eines förmlichen Ausscheidens aus der Welt auftreten und sei dann ‚weltablehnende Askese‘. Sie könne aber auch die Bewährung innerhalb der Welt verlangen und sei dann ‚innerweltliche Askese‘. Dieselbe doppelte Erscheinungsform muß nach Weber der Mystik zugesprochen werden. Schlägt die Gottinnigkeit des Mystikers um in Gottbesessenheit, so kann sich dies als Mystagogentum oder revolutionäre Chiliastik äußern. Auch bei der innerweltlichen Askese ist eine revolutionäre (oder auch nur: reformistische) Wendung möglich, neben der sonst anzutreffenden Bewährung innerhalb der gegebenen Ordnungen der Welt (Weber 1976, 321 ff.).

      Der Weg der Fremderlösung kennt drei Möglichkeiten. Die Gnadengüter können, erstens, auf magisch-ritualistischem Wege angeeignet werden, wobei als Träger der charismatischen Gnadenspendung Mystagogen oder Priester fungieren. Sie können, zweitens, über das Medium der Glaubensreligiosität angeeignet werden, die entweder die Form einer Heilsaristokratie der intellektuell Wissenden oder die einer vornehmlich auf Vertrauen gestützten Massenreligiosität annehmen kann. Als dritte Möglichkeit nennt Weber den Prädestinationsglauben, bei dem die Erlösung als grundloses, freies Gnadengeschenk eines nicht zu beeinflussenden Gottes gedacht wird (Weber 1976, 337 ff.).

      Nicht alle dieser Erlösungswege kommen für den modernen Fundamentalismus in Betracht. Der Prädestinationsglaube ist an die Bedingung eines transzendenten und personalen Gottes gebunden und dadurch unvereinbar mit einer rein innerweltlich gedachten Erlösung; dasselbe gilt für viele Formen der Glaubensreligiosität, der Mystik und der Askese. Immerhin ist der Begriff der Glaubensreligiosität so weit, daß er auch Erscheinungen einschließt, die nicht auf die Annahme eines überweltlichen Gottes gegründet sind, wie etwa verschiedene metaphysische Systeme rein philosophischer Art (ebd., 340 f.). Und was die Mystik betrifft, so hat Ernst Troeltsch gezeigt, daß sie ebenfalls nicht notwendig theistisch sein muß, vielmehr auch im Rahmen eines kosmozentrisch-immanenzbezogenen, unter Umständen sogar pantheistischen Weltbildes auftreten kann. In diesem Fall erfahren dann freilich auch die Grundhaltungen der Weltflucht oder Weltindifferenz eine Modifikation. Denkbar sind hier ebensowohl fundamentalistische Wendungen, die sich aus der „Verwachsung der vollendeten religiösen Innerlichkeit und Individualität mit der ästhetischen Individualitätsidee“ speisen, als auch das genaue Gegenteil eines weltverklärenden, spiritualisierten Evolutionismus, wie er sich etwa in der panpsychistischen Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts und ihren diversen künstlerischen Ausdrucksformen artikuliert hat. Die „heimliche Religion der Gebildeten“, als die Troeltsch die in romantische Religiosität transformierte Mystik bezeichnet hat, kann also sowohl zeitablehnende als auch zeitbejahende Formen annehmen4.

      In dieser abgewandelten Form ist die Webersche Typologie durchaus von Relevanz für die Benennung wichtiger Differenzierungen innerhalb des modernen Fundamentalismus. Der moralische Fundamentalismus setzt eine Herauslösung der Moral aus dem traditionellen Bündnis mit Religion voraus, in deren Gefolge die moralische Kommunikation unabhängig wird von religiös begründeten Normen und Verhaltenserwartungen, damit aber auch von allen Instanzen, die Fremderlösung bewirken könnten. Es geht in der Moral nur noch um Interaktionen, bei denen sich die Individuen „als unterscheidbare Personen behandeln und ihre Reaktionen aufeinander von einem Urteil über die Person statt über die Situation abhängig machen“ (Luhmann 1997, 244). Die Instrumentalisierung solcher moralisch koordinierter Interaktionsformen für soteriologische Zwecke kann in einer mehr offensiven, auf das gesellschaftliche Ganze gerichteten Weise erfolgen, oder in einer mehr defensiven, auf das Individuum und seinen Nahbereich beschränkten Weise. Das erstere ist im Rousseauismus der Fall, der die Folgeprobleme der Modernisierung sowohl mithilfe einer elargierten Mitleids- und Brüderlichkeitsmoral (also auf dem Erlösungsweg der sozialen Leistungen) als auch im Wege der Selbstvervollkommnung zu bewältigen versucht; das letztere bei Schopenhauer, der eine Form der innerweltlichen Mystik bevorzugt. Auch an Ansätzen zur Verbindung dieser beiden entgegengesetzten Einstellungen hat es nicht gefehlt, wie man am Beispiel Tolstois studieren könnte, bei dem die innerweltliche Mystik in eine rousseauistische Attacke gegen Arbeitsteilung, Technik, Wissenschaft, Staat und Wirtschaft umschlägt (Hanke 1993).

      Für die Erotik ist nach Weber speziell „auf dem Boden intellektualistischer Kulturen“ ein dem mystischen ‚Haben‘ gleichartiger Erlebnismodus charakteristisch, der sich als Sprengung der Individuation, als volle Einswerdung der Liebenden unter Aufgabe ihrer Differenz artikuliert (Weber 1972, 560). Eine fundamentalistische Wendung in Richtung der revolutionären Chiliastik ist bei Herbert Marcuse zu erkennen; eine andere Variante, die mehr an den Erlösungsweg der Selbstvervollkommnung anknüpft, bei Otto Gross. Die Affinität, in der die Mystik zur Glaubensreligiosität steht, hat aber auch einen Umschlag in die Fremderlösung möglich gemacht, wie er am Beispiel von Ludwig Klages studiert werden kann.

      Für die ästhetische Sphäre nimmt Weber ein besonders starkes Spannungsverhältnis zur Mystik an, die in ihrem innersten Wesen formfeindlich sei (Weber 1972, 556). Dieser Befund steht indes nicht nur zu seinen eigenen Aussagen, etwa über Rilke, in Widerspruch, sondern auch zu anderen Untersuchungen, die gerade die Analogie von ästhetischer und mystischer Erfahrung betonen (Margreiter 1997, 30 f.). In der Musik ist das herausragende Beispiel, mit dem wir uns hier begnügen müssen, Richard Wagner, der seinen Kompositionen die Kraft zuschrieb, die Erscheinungen der Zivilisation aufzuheben wie das Tageslicht den Lampenschein. In der Literatur käme tatsächlich vor allem Rilke in Frage, dessen späte Dichtungen Affinitäten zur Mystik aufweisen, sich von der christlichen Gestalt derselben allerdings durch das Eingeschlossensein in einer Immanenz unterscheiden (Kunisch 1979). Eher ungewöhnlich und deshalb in dieser Form wohl auch singulär ist die Akzentuierung der Fremderlösung, wie sie der George-Kreis zelebriert hat, der sich um die vom Gründer entworfene Figur eines ‚plastischen Gottes‘, des früh verstorbenen Knaben Maximin, organisierte und die charismatische Gnadenergießung u.a. im liturgisch-psalmodierenden Lesen von Gedichten erfuhr.

      IV.

      Mit der Aufgabe, Erlösung zu bewirken, wächst der Kunst, der Erotik und der Moral eine wichtige Funktion der Religion zu, aus der diese immer wieder ihren Hegemonialanspruch abgeleitet hat. Keineswegs aber wächst ihnen damit auch schon die gesellschaftliche Ordnungskapazität der Religion zu. Diese liegt in ihrer Fähigkeit begründet, das im Kern außeralltägliche persönliche Glaubenserlebnis in einen Dauerhabitus zu verwandeln, was nur über die Ausschaltung oder Minimierung der ekstatisch-irrationalen, eben: erlebnishaften Momente und die Hinwendung zu symbolischen Ordnungen möglich ist. Zwar sind diese, wie Cassirer, Susanne K. Langer u.a. gezeigt haben, durchaus nicht einseitig auf Diskursivität festgelegt, da es neben dem verbalen auch einen nichtverbalen, ‚präsentativen‘ Symbolismus gibt (Langer 1984, 86 ff.); doch enthält der verbal-diskursive Modus ein Potential für die Intellektualisierung und Ethisierung des Religiösen, das die Herausbildung und Institutionalisierung sinnhafter Ordnungen mächtig gefördert hat. Wie die Religionsgeschichte lehrt, haben dadurch nicht nur einzelne Individuen ihr spezifisches Erlebnis zu stabilisieren vermocht. Vielmehr war es immer auch möglich, daß andere die Symbolisierung dieses Erlebnisses übernahmen und ihre Lebensführung danach ausrichteten. Der Erfolg der Weltreligionen dürfte darin begründet sein, daß sie genau die richtige Mischung von präsentativen, die Gefühls- und Erlebnissphäre ansprechenden Modi und diskursiven Elementen enthielten, die ein bestimmtes Weltbild kontextunabhängig machten und es so befähigten, gewaltige Massen von Gläubigen auf gemeinsame Ziele und entsprechende Formen des Gemeinschaftshandelns