Stefan Breuer

Moderner Fundamentalismus


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Geschichte. Im Streit mit Voltaire über das Erdbeben von Lissabon hat Rousseau sich denn auch folgerichtig auf die Seite von Leibniz und Pope gestellt und Voltaires negative Verbindung von Gott und Natur zurückgewiesen (Brief an Herrn von Voltaire: Rousseau 1978, Bd. I, 315 ff./1059 ff.).

      Die fehlende Weltablehnung, an der ein religiöser Fundamentalismus ankristallisieren könnte, wird durch eine um so vehementere Zeitablehnung kompensiert, die sich auf beinahe sämtliche wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen erstreckt. Schon der Erste Diskurs greift das Selbstverständnis der Epoche frontal an, indem er bezweifelt, daß der Fortschritt der Wissenschaften die Tugend gefördert habe. Die folgenden Schriften relativieren diesen Vorwurf, erweitern aber die Anklage eher, indem sie nun auch andere Faktoren für die allgemeine Verderbtheit verantwortlich machen: das Privateigentum und die Arbeitsteilung, den Handel und die Entdeckungsfahrten, das Bevölkerungswachstum und die großen Städte; das Bedürfnis, mehr zu haben, als man zum Leben braucht; das Streben nach Ungleichheit, nach Reichtum, nach Macht. Rousseau macht seiner Zeit den Prozeß; und sein Urteil fällt so vernichtend aus, daß er nicht wenigen Zeitgenossen als ein moderner Anachoret erscheint, als ein politischer Sonderling, „der die Sekte des Diogenes nach zwei Jahrtausenden wieder zum Leben erweckt“8.

      In seiner Verwerfung der Gegenwart stützt sich Rousseau auf verschiedene Gründe. Im Ersten Diskurs orientiert er sich an der Idee einer wahren, von der vertu durchdrungenen Kultur, in der die Handlungen des Menschen nicht zu eigengesetzlichen Sphären verdichtet, sondern Ausdruck seines Inneren, seines authentischen Selbst sind. Der Kern des ‚Rousseauismus‘ wird genau hier liegen: im Appell an die Ganzheit, im Wunsch, „die Trennungen des Subjekts von den gesellschaftlichen Funktionsdifferenzierungen weitestgehend rückgängig zu machen, dem ‚homme‘ des gesellschaftlichen Zustands seine größtmögliche Authentizität und Unmittelbarkeit wiederherzustellen“ (Link-Heer 1986, 147). Im Zweiten Diskurs fungiert als Maßstab zunächst die Fiktion eines reinen Naturzustands, in dem die Menschen isoliert, ohne Sprache, ohne Familie, ohne Sozialverbände leben und eben deshalb gut sind; später das Konzept eines modifizierten, durch diverse ‚Revolutionen‘ veränderten Naturzustands, der durch eine die natürliche Unabhängigkeit nicht tangierende, ergo: gute Vergesellschaftung bestimmt ist (DI 301, 195). Von dieser Epoche, die durch Seßhaftigkeit, Sprache, Familien- und Nationsbildung, Differenzierung der Geschlechter und Vorformen des Eigentums geprägt ist, heißt es ausdrücklich, sie sei die glücklichste und dauerhafteste gewesen, da sie die rechte Mitte zwischen der Indolenz des Anfangszustands und der Entfesselung der Eigenliebe gehalten habe:

      „Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr findet man, daß dieser Zustand der am wenigsten den Revolutionen ausgesetzte, der beste für den Menschen war und daß der Mensch nur aufgrund irgendeines unheilvollen Zufalls aus ihm herausgetreten sein muß, der sich zum allgemeinen Nutzen niemals hätte ereignen sollen. Das Beispiel der Wilden – die man beinahe alle an diesem Punkt angetroffen hat – scheint zu bestätigen, daß das Menschengeschlecht dazu geschaffen war, für immer in ihm zu verbleiben; daß dieser Zustand die wahrhafte Jugend der Welt ist; und daß alle späteren Fortschritte dem Scheine nach ebenso viele Schritte hin zur Vollendung des Individuums und in Wirklichkeit zum Verfall der Art gewesen sind“ (DI 193 f.).

      Um angesichts dieses, in seinen Augen unumkehrbaren Verfalls der ‚guten Vergesellschaftung‘ noch über eine Einspruchsinstanz zu verfügen, rekurriert Rousseau nach dem Zweiten Diskurs zunehmend auf eine Eigenschaft des Individuums – eine Eigenschaft, die zwar auch dem historischen Wandel, insbesondere der Entwicklung der Einbildungskraft und des Verstandes, unterworfen sein, darüber hinaus aber über ein transhistorisches, in der anthropologischen Grundausstattung verankertes Fundament verfügen soll: das Gewissen. Rousseau übernimmt es aus der christlichen Tradition, wandelt es jedoch gründlich um. Es ist nicht mehr, wie bei den Gnostikern, der göttliche Funken, der den mit ihm Begabten den Ausweg aus dem Gefängnis der Welt eröffnet, nicht mehr, wie bei den kirchlichen Theologen, die Stimme eines jenseitigen Gottes als einer im nachhinein verurteilenden wie Gnade gewährenden Instanz; vielmehr ist es ein dem Menschen angeborenes Gefühl, eine spontane Fähigkeit, Handlungen im vorhinein, ohne Blick auf göttliche Belohnungen oder Strafen, als gut oder böse zu beurteilen, ein Mechanismus der Selbstüberwindung, der aus eigener Kraft das Opfer vollbringt und dafür schon im Diesseits ein Stück der ewigen Seligkeit empfängt: das gute Gewissen (Kittsteiner 1991, 277). Gott ist aus einer außerweltlichen zu einer innerweltlichen Größe geworden, zu einem Teil des Menschen, der sich sichtend und richtend auf seine übrigen Teile bezieht. Er hat damit selbst seine älteren Hierophanien in schwer verständlichen und mehrdeutigen Texten überflüssig gemacht und spricht nunmehr unmittelbar durch den guten Willen: Alle diejenigen, die an Gott glauben, so Rousseau in einem Brief aus dem Jahr 1769,

      „meinen um des Heils willen, darauf mit einem Glaubenssatz antworten zu müssen, und sie antworten mit der Offenbarung. Ich, der ich an Gott glaube, ohne diesen Glauben für notwendig zu halten, sehe nicht, warum Gott ihn uns hätte geben müssen. Ich glaube, daß ein jeder einst gerichtet wird, nicht nach seinem Glauben, sondern nach seinen Taten, und ich glaube nicht, daß es zu Werken eines Lehrgebäudes bedarf, da es an seiner Statt das Gewissen gibt9.

      II.

      Die Linie, auf der sich die Metamorphose des Fundamentalismus vollzieht, ist klar zu erkennen. Anstelle der alten religiös motivierten Weltablehnung tritt eine Kampfansage an die Gegenwart, die sich teils am reinen Naturzustand, teils an dessen Rudimenten orientiert; anstelle der buchstäblich interpretierten Offenbarung das Gewissen; anstelle der Kommunikation mit einem transzendenten Gott die ‚moralische Instrumentalisierung Gottes‘, die diesen zum Stifter einer rein innerweltlichen, von allen gut gesinnten, der Stimme ihres Herzens folgenden Laien zu verstehenden Moral erhebt (Kondylis 1986, 371). Zwar ließe sich argumentieren, daß Rousseau auch die Moral zu den entarteten Formen der Gesellschaftlichkeit rechnet, insofern er die Verteilung von Achtung und Mißachtung als ‚ersten Schritt hin zur Ungleichheit und gleichzeitig zum Laster‘ identifiziert (DI 189). Doch erfolgt dieser Angriff auf einen Moralcode im Namen einer ebenfalls moralischen Codierung, die um die Unterscheidung von gut/schlecht bzw. gut/böse kreist. Die öffentliche Wertschätzung wird als böse perzipiert, weil sie den Menschen von anderen Personen, deren Meinungen, Absichten und Gefühlen abhängig macht; wodurch sie ihm das nimmt, was seine Stärke und Güte ausmacht: seine Unabhängigkeit (Meier, in: Rousseau 1993, LXV). Die Kritik an der Moral bleibt damit eine innermoralische, immanente Kritik, die den Code gut/böse gegen den Code Achtung/Mißachtung ausspielt.

      Fundamentalistisch wird diese Position in dem Augenblick, in dem sich der Appell an den guten Willen mit dem Versprechen verbindet, das Böse, die Quelle allen Unheils, aus der Welt zu schaffen. Der erste Schritt hierzu wird getan, wenn ein ‚höherer Geist‘, der Gesetzgeber, die Aufgabe übernimmt, „gleichsam die menschliche Natur umzuwandeln, jedes Individuum, das für sich ein vollendetes und einzeln bestehendes Ganzes ist, zu einem Teile eines größeren Ganzen umzuschaffen, aus dem dieses Individuum gewissermaßen erst Leben und Wesen erhält; die Beschaffenheit des Menschen zu seiner eigenen Kräftigung zu verändern und an die Stelle des leiblichen und unabhängigen Daseins, das wir alle von der Natur empfangen haben, ein nur teilweises und geistiges Dasein (une existence partielle et morale) zu setzen“ (CS 46/381).

      Die Überwindung des entarteten Naturzustands ist möglich, so Rousseaus Botschaft, wenn die durch die gleiche Entwicklung gesteigerte Vernunft sich in einem herausragenden Individuum inkarniert, das dann alle übrigen dazu zwingt, „ihren Willen der Vernunft anzupassen“ (CS 44/380). Ist eine solche Anpassung einmal erfolgt, haben sich die Menschen ihrer Sonderinteressen begeben und ganz auf das Allgemeine ausgerichtet, so kann der Gesellschaftsvertrag geschlossen werden – ein Vertrag, bei dem sich die Individuen so, wie sie sind, ohne jeden Vorbehalt, restlos der Gesamtheit überantworten, um dafür im Gegenzug von dieser als untrennbare Momente des Ganzen aufgenommen zu werden. Durch diesen Vertrag tritt an die Stelle der einzelnen Personen ein geistiger Gesamtkörper (un corps moral et collectif), der über ein gemeinsames Ich (moi commun) verfügt (CS 19/361).

      Gewiß: die hier anvisierte Verschmelzung ist nicht vollkommen. Als moralisch-körperliche Doppelwesen können die Menschen nur ihre moralische,