Stefan Breuer

Moderner Fundamentalismus


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formuliert werden, und dies schließe auch „das Beobachten solcher Beobachtungen“ ein (Luhmann 1995b, 30).

      Von dieser Grundlage aus kann man die Intellektuellen nicht nur von den Routiniers traditionaler und rationaler Art unterscheiden, sondern auch von den privilegierten Beobachtern vormoderner Sozialordnungen, die in den Rollen von Priestern und Propheten, Philosophen und Mandarinen, orthodoxen und heterodoxen Glaubensstiftern usw. auftraten – Positionen, deren Inhaber allesamt unter den Bedingungen niedriger Kontingenz und Armut an Alternativen operierten und deshalb die Chance hatten, ihre jeweilige Weltauslegung zu totalisieren. Zugleich aber läßt sich in der so gewonnenen Gruppe der Beobachter zweiter Ordnung eine Differenz ausmachen, die für die Verortung des modernen Fundamentalismus wesentlich ist. ‚Intellektuelle‘ sind danach nämlich nicht nur diejenigen, die sich als Beobachter zweiter Ordnung wissen und sich entsprechend den Imperativen funktional differenzierter Systeme verhalten, sondern auch diejenigen, die die gesteigerte Distanzierungsfähigkeit benutzen, um sich auch davon noch zu distanzieren; und die daraus den unzutreffenden Schluß ziehen, es sei möglich, auf diese Weise die Position eines privilegierten Beobachters wiederzugewinnen. Das muß nicht notwendig zur Totalablehnung der Funktionssysteme führen, wie die diversen Ideologien der politischen Linken und Rechten belegen. Aber wenn es dazu führt, haben wir es mit Intellektuellenfundamentalismus zu tun.

      Ihrer sozialen Herkunft nach können fundamentalistische Intellektuelle aus verschiedenen Klassen stammen: aus positiv privilegierten Besitzklassen wie dem Adel (Tolstoi) oder dem Besitzbürgertum (Lukács), aus dem Bildungsbürgertum (Georgekreis) oder dem Handwerk (Rousseau). In besonders enger Wahlverwandtschaft aber scheint der moderne Fundamentalismus zu einer sozialen Lage zu stehen, die Weber etwas drastisch und vielleicht auch nicht angemessen als Paria-Intellektualismus bezeichnet. Als dessen besondere Merkmale gelten: die stark ausgeprägte Distanzierungsfähigkeit; und ein nicht minder ausgeprägtes Bedürfnis nach Bindung, nach enracinement, wie der treffende Ausdruck von Maurice Barrès lautet. Die besondere Intensität des Paria-Intellektualismus, schreibt Weber, beruhe darauf, „daß die außerhalb oder am unteren Ende der sozialen Hierarchie stehenden Schichten gewissermaßen auf dem archimedischen Punkt gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen, sowohl was die äußere Ordnung wie was die üblichen Meinungen angeht, stehen. Sie sind daher einer durch jene Konventionen nicht gebundenen originären Stellungnahme zum ‚Sinn‘ des Kosmos und eines starken, durch materielle Rücksicht nicht gehemmten, ethischen und religiösen Pathos fähig“ (Weber 1976, 308). Weber hatte hierbei vor allem das russische Narodničestvo vor Augen, doch kann man den Kreis ohne Mühe weiter ziehen: von der ‚literarischen Politik‘, die Autoren wie Tocqueville und Darnton in der Französischen Revolution ausgemacht haben (Tocqueville 1978, 26 ff., 148; Darnton 1985), über die Romantik mit ihrer Verklammerung von rezessiver und produktiver Ironie – der doppelten Fähigkeit, sich aus allem zurückziehen und sich auf alles entwerfen zu können –, bis hin zu den jüngsten Untersuchungen über den politischen Existenzialismus des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, die diesen als Fortbildung des romantischen Subjektivismus deuten (Großheim 1999). Nicht immer muß es sich dabei um modernen Fundamentalismus handeln. Aber wenn sich der Paria-Intellektualismus mit Zeitablehnung verbindet und soteriologische Ambitionen artikuliert, dann sind alle nötigen Voraussetzungen dafür gegeben.

      Das starke Pathos wie auch das intensive Bindungsbedürfnis treffen nun aber, wie gezeigt, weder in der Moral noch in der Kunst, noch in der Erotik auf Instanzen, die geeignet wären, dem Paria-Intellektualismus à la longue das zu geben, was er sucht. Schon Hegel hat darin das Motiv für die notorische Neigung zur Konversion gesehen, die so viele Romantiker in die katholische Kirche getrieben hat. „Verzweiflung am Denken, an Wahrheit, an und für sich seiender Objektivität, und Unfähigkeit, eine Festigkeit, Selbsttätigkeit sich zu geben“, habe die einen dazu gebracht, sich in religiöse Empfindungen zu flüchten, die anderen, sich in positive Religiosität zu werfen, „um etwas Festes zu haben, weil der inneren Subjektivität alles schwankt. Sie will sich mit der ganzen Gewalt des Gemüts an Positives wenden, den Kopf unter das Positive beugen, dem Äußerlichen sich in die Arme werfen, und findet innere Nötigung dazu“ (Hegel, TW 20, 417 f.).

      Unter den Bedingungen fortgeschrittener sozialer Disprivilegierung der Religion bieten sich für dieses Bedürfnis nach Wiederverwurzelung nur noch die großen politischen Leitideologien an. So, und wohl nur so, ist es erklärlich, wie aus friedliebenden, die Todesstrafe perhorreszierenden Lesern Rousseaus in kürzester Frist Propagandisten eines revolutionären Terrors und eines Nationalismus werden konnten, wie er in der Welt bis dahin unbekannt war; so, und nur so, ist es begreiflich, wie ein Richard Wagner, dessen politische Ambitionen sich noch im Frühjahr 1848 auf den ‚Entwurf zur Organisation eines deutschen National-Theaters für das Königreich Sachsen‘ beschränkten, ein Jahr später einem bakunistischen Revolutionskonzept das Wort zu reden vermochte; oder wie aus dem Kreis um Stefan George, dessen Politikferne zunächst kaum zu überbieten war, Enthusiasten des Kulturkriegs wie Gundolf und deutschnationale Chauvinisten wie Wolters hervorgehen konnten. Angesichts der Häufigkeit solcher plötzlicher Wendungen und Sprünge, an die sich nicht selten extreme Positionswechsel anschließen, sollte man moralisierende Deutungsraster wie dasjenige vom ‚Verrat der Intellektuellen‘ (Julien Benda) vermeiden und sich statt dessen vor Augen führen, wie sehr dieses Phänomen strukturell bedingt ist. Es ist nicht so sehr der Mangel an Moral als der Mangel der Moral, der die fundamentalistischen Intellektuellen dazu bringt, bei den Großkollektiven Schutz zu suchen.

      Bemerkenswert ist, daß es dabei selten bei der bloßen Unterwerfung bleibt. Obwohl die Ideologien dieser Großkollektive – auf der Rechten: der Nationalismus; auf der Linken: der Sozialismus – in ihrer genuinen Gestalt Produkte des modernen Fortschrittsdenkens und deshalb welt- und zeitbejahend sind, kann es, wenn die Umstände dies begünstigen und die Zahl der fundamentalistischen Konvertiten groß genug ist, zu mehr oder minder erfolgreichen Umdeutungen kommen, die das Wesen dieser Richtungen von Grund auf ändern. Im Falle des Nationalismus ist dann ein nationalreligiöser Fundamentalismus zu erwarten, der die Nation bzw. das Volk zu einer Erscheinung des Überzeitlichen im Zeitlichen erhebt und sich zur Aufgabe setzt, diese vorerst nur ‚an sich‘ existierende Größe durch Umkehr und Wiedergeburt zu sich selbst zu bringen und in dieser gereinigten Gestalt gegen die übrigen Nationen zu mobilisieren. Ansätze dazu findet man zeitweise bei Fichte, später bei Wagner, bei Lagarde oder bei Niekisch6. Macht sich der Fundamentalismus im Sozialismus geltend, so ist eine starke Abschwächung der zeitbejahend-progressistischen Grundhaltung und eine Umpolung ins Regressive zu erwarten. Beispiele dafür finden sich im rousseauistischen Kommunismus während der Französischen Revolution, vielleicht auch, was einer eingehenderen Untersuchung bedürfte, im populistischen Agrarsozialismus, dessen führende Vertreter in Rußland die kapitalistische Industrialisierung aufhalten und direkt, gestützt auf die angeblich kommunistische Umteilungsgemeinde, zum Sozialismus übergehen wollten. Moderner Fundamentalismus ist politisch ambivalent. Aber seine Folgen sind immer die gleichen: Regression, Zerstörung, Tod. Daß er dafür Gründe anführen kann, macht seine Lösungen nicht annehmbarer.

      Die Texte des vorliegenden Bandes sind als Versuche gedacht, die Tragfähigkeit des hier umrissenen Typus auszuloten. Einige davon wurden zwischen 1997 und 2001 an verschiedenen Orten veröffentlicht: im Berliner Journal für Soziologie (Einleitung), in Sinn und Form (I.1, II.3), der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (II.2), dem von Wolfgang Braungart u.a. herausgegebenen Band Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘ (Exkurs) den Recherches Germaniques (III.2), dem Jahrbuch der Klages-Gesellschaft, Hestia (IV) und der Internationalen Zeitschrift für Philosophie (V). Dennoch handelt es sich nicht um einen Sammelband im üblichen Sinne. Die schon publizierten Texte wurden vielfach erheblich erweitert und umgearbeitet, wie es immer da der Fall zu sein pflegt, wo ein Konzept nicht von Anfang an fest steht, vielmehr erst allmählich in der Auseinandersetzung mit bestimmten Erscheinungen Konturen annimmt. Für wichtige Anstöße hierzu bin ich Botho Strauß und Martin Riesebrodt verpflichtet: dem letzteren für seine klärenden Beiträge zur Religionssoziologie des Fundamentalismus, dem ersteren für die Idee, den Begriff auf außerreligiöse Phänomene anzuwenden. Dem Herausgeber der Kulturwissenschaftlichen Studien, Klaus Lichtblau, habe ich für manchen klärenden Hinweis auf begriffliche und sprachliche