Inanspruchnahme der einzelnen häuslichen Pflegeleistungen, der regelmäßige Besuch durch eine Pflegefachperson, ergänzende materielle, beratende und entlastende Angebote für zu Hause lebende Pflegebedürftige und ihre Angehörigen entscheidend zur Verwirklichung des Credos »ambulant vor stationär« beitragen, und davon, dass die heute existierenden ambulanten Pflegeversorgungsstrukturen die beste Antwort auf einen stetig wachsenden Pflegebedarf sind, ist hierzulande im Bewusstsein der Bevölkerung und Politik tief verankert. Aber stimmt das?
Wie könnten ambulante Pflegeleistungen weiterentwickelt werden, wie könnte die häusliche Pflege als heil- und hilfstätige sowie präventive Versorgungsform besser gestaltet werden? Wie steht es denn eigentlich mit der Organisation und Finanzierung der täglich inzwischen millionenfach erbrachten Leistungen – ist das angemessen und zielführend?
Die kritischen Nachfragen sind berechtigt. Darüber darf das stetige Wachstum der Branche nicht hinwegtäuschen. Die Pflegeversicherung, vor 25 Jahren von Vielen als ein »großer Wurf« zur Absicherung von Pflegebedürftigkeit gefeiert, ermöglicht tatsächlich nur eine rationierte Unterstützung. Die Lücke zwischen dem realen Bedarf der Menschen und dem formalrechtlichen Leistungsumfang der Pflegeversicherung, häufig als Teilkasko-Charakter umschrieben, tritt in Form von steigenden Zuzahlungen mehr und mehr offen zu Tage. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die beispiellose Mittelverknappung durch den Gesetzgeber im Rahmen der Gesundheitsversorgung hat zur Folge, dass die Pflegedienste unter einem dauerhaft massiven Kosten- und Spardruck stehen. Überraschend ist, dass die Auswirkungen dieser für das Gesundheitswesen einmaligen Konstruktion als »rationierte Sozialversicherungsleistungen« auf die Versorgungsqualität, die Versorgungsabläufe, Arbeitsbedingungen und die Angebotsstrukturen der Pflege kaum Eingang in die Debatte finden.
Gewiss, Kritik an den Bedingungen der Pflege ist zusehends sichtbar. Doch die Diskussion verläuft allzu oft oberflächig. Die Anerkennung der Brisanz und Gefahren rund um den Begriff des »Pflegenotstandes« ist neuerlich zwar wieder gewachsen und hat zu ersten politischen Korrekturen geführt.
Bei den in der Diskussion befindlichen Lösungsvorschlägen, die beispielsweise auf eine Erhöhung der Gehälter in der Pflege, der Sonderfinanzierung zusätzlicher Pflegestellen oder effektiveren (Qualitäts-)Kontrollen abstellen, handelt es sich um wichtige, jedoch zugleich weitgehend auch strukturimmanente Lösungsansätze. Die negativen Konsequenzen eines wohlfahrtsstaatlich stark limitierten Engagements für die Absicherung der Pflegerisiken und Gestaltung der Versorgung werden zwar moderiert, abgemildert oder zeitweise aufgehoben, nicht jedoch die dahinterliegenden fiskal- und pflegepolitischen sowie gesellschaftlichen Widersprüche. Das »Teilkasko-Konzept« der Pflegeversicherung wird nicht nachhaltig hinterfragt. Insoweit muss das Risiko als groß bemessen werden, dass die beabsichtigten Wirkungen »gut gemeinter« Einzelmaßnahmen größtenteils doch wieder verpuffen bzw. in der Umsetzung durch raffinierte und in der Binnenlogik auch legitime Gegenstrategien umgangen werden können.
Der vorliegende Band verdeutlicht die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer dezidiert kritischen wissenschaftlichen Strukturanalyse, die in ihrer Praxis die Perspektiven einer klinischen Pflegeforschung substantiell zu ergänzen und erweitern vermag. Es ist ein fundierter Beitrag zu einer längst fälligen sozial- und pflegewissenschaftlichen Diskussion über die derzeitigen Grundlagen der häuslichen Pflege, die Rahmenbedingungen dieses Arbeitsbereiches, die in diesem Zusammenhang stehenden Problematiken in der Versorgung durch Pflegefachpersonen – und damit zur Zukunft unseres Pflegesystems.
Lukas Slotala | Würzburg, im Mai 2020 |
1 Einleitung1
Der vorliegende Band beschäftigt sich mit dem zunehmend kritischen Bereich der sozialen Infrastruktur, der ambulanten Pflege. Er nimmt eine Bestandsaufnahme dessen vor, was gegenwärtig bei der häuslichen Unterstützung längerfristig hilfe- bzw. pflegebedürftiger Personen geschieht bzw. geschehen kann und wie sich dies zu den Erwartungen und Versprechungen verhält, die den öffentlichen und fachwissenschaftlichen Diskurs prägen. Dabei wird vor allem das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit kritisch analysiert, um daraus insbesondere für jene Akteure, die ambulante Hilfe organisieren und managen, Perspektiven für die Zukunft abzuleiten.
Damit richtet sich der Band an verschiedene Publika: fortgeschrittene Praktikerinnen und Führungskräfte im fraglichen Sektor sowie seinem Umfeld, Studierende in verschiedenen Ausbildungskontexten, aber auch an jene, die sich (fach-)wissenschaftlich mit der Entwicklung der ambulanten Pflege auseinandersetzen. Damit alle mitgenommen werden, ist sichergestellt, dass komplexe Begriffe und Konzepte verständnisorientiert aufbereitet und mit Hintergrundwissen versehen werden. Der Band gliedert sich in vier Perspektiven, der
• sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Perspektive (Adam-Paffrath),
• pflegewissenschaftlichen und fachwissenschaftlichen Perspektive (Selge),
• systemfunktionalen und systemkritischen Perspektive (Borutta),
• systemtheoretisch-manageriellen Perspektive (Ketzer).
Als grundlegende Richtschnur für die Beiträge dient die Darstellung des Ehepaares Meiers. Diese Darstellung wird, je nach Erfordernissen des entsprechenden Beitrags, variiert. Sie durchzieht jedoch die Teile dieses Bandes als praxisbezogene Richtschnur, auf die immer wiederkehrend exemplarisch Bezug genommen wird. Frau und Herr Meier treten in diversen Szenarien auf und ihr Schicksal, mit Pflegebedürftigkeit zurechtzukommen, wird aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Der Fall Meier ist somit Ausdruck der Kontextbindung.
Ein »Fall Meier« und seine gesellschaftliche Rahmung
Frau oder Herr Meier sind pflegebedürftig – was jetzt? In der deutschen Gesellschaft bestehen diesbezüglich eine Reihe von Normalitätsannahmen: Man erwartet einen bestimmten Umgang mit dem »Pflegefall«, und es gibt Reglements, die diese Denkweise widerspiegeln. Die Leitdivise des deutschen Pflegesystems dabei lautet, ambulant vor stationär: Die Unterstützung chronisch gebrechlicher Menschen soll, so lange wie irgend möglich, in deren häuslicher Umgebung stattfinden, und dies ist unter den heute bestehenden Rahmenbedingungen auch gut zu schaffen. Das jedenfalls legen der mediale Diskurs, die in Befragungen artikulierte Weltsicht der Bevölkerungsmehrheit, und nicht zuletzt die geltende Gesetzeslage (SGB 11 § 43,1) nahe.
Gewiss: Es scheint Allgemeinwissen zu sein, dass die Familie – anders als in früheren Zeiten – nicht mehr alles leisten kann und soll. Man weiß: Es gibt kollektiv finanzierte und sozialpolitisch normierte Hilfen, die das Unterstützungsarrangement gezielt ergänzen (können). Auch besteht ein öffentliches Bewusstsein dahingehend, dass die fraglichen Interventionen bestimmten ethischen Maßstäben genügen sollen, z. B. den Respekt vor der menschlichen Intimsphäre oder die Regeln eines würdevollen Umgangs mit Personen, die sich nicht mehr selbst helfen können. Hier greifen auch bestimmte Professionalitätsvorstellungen, wenngleich über diese vielfach gestritten wird. Gleichzeitig liegt die Zuständigkeit für das ambulante Pflegearrangement zu großen Teilen in der Verantwortung der privaten Lebenswelt. Der Normalfall ist der, dass in der häuslichen Umgebung Familienangehörige oder – in Ausnahmefällen – das außerfamiliäre soziale Netzwerk den Aufbau und den reibungslosen Ablauf eines solchen Arrangements sicherstellen. Was das Netzwerk betrifft, so wünschen sich Experten und Fachpolitikern zwar neue gemeinschaftliche Lösungen (Seniorengenossenschaften, Mehrgenerationenhäuser, »care communities« verschiedenster Colour, ehrenamtliche Initiativen im Sozialraum etc.); doch ist die Alltagsrealität weit davon entfernt (selbst Nachbarn sind häufig nur geringfügig involviert).
Der Zuschnitt (semi-)professioneller Interventionen wiederum, welche seit zwei bis drei Jahrzehnten als fester (möglicher) Bestandteil des o. g. Pflegearrangements gelten können, ist ein spezifischer: Das Unterstützungssystem bietet Hilfen in kurzen Zeitblöcken, gegebenenfalls mehrfach am Tag, aber konzentriert auf einzelne, überwiegend körperbezogene Verrichtungen; die Interventionen sind routinisiert, modularisiert, in ihren Einzelbestandteilen zwischen Nutzern bzw. Familien