Patricia Vandenberg

Dr. Norden Bestseller Box 13 – Arztroman


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Wir sind froh, daß du am Leben bleibst.«

      »Und was ist denn mit Sepp?« fragte er. »Dem passiert nie was.«

      »Er ist tot«, sagte sie leise. »Ihm war nicht mehr zu helfen.«

      Einmal mußte er es doch erfahren. Lucy war so unendlich müde, und im Augenblick fürchtete sie, daß es Achim an jeder Einsicht fehlen würde.

      »Er ist tot?« fragte der Junge.

      »Und längst begraben«, fügte Lucy geistesabwesend hinzu.

      »Ich wollte das Rad wieder hinstellen, Mutti«, sagte Achim leise. »Bis zum Schulschluß wären wir längst wieder dagewesen.«

      »Ich glaube dir, daß du es zurückgeben wolltest.«

      »Und nun ist es kaputt.«

      »Wußtest du überhaupt, wem es gehört, Achim?«

      »Freilich, dem Kurti Bauer. Er hat es nie angeschlossen. Er hat ja drauf gehofft, daß es ihm mal geklaut wird, damit er ein neues kriegt. Es war doch eine alte Karre.«

      »Er hat ein neues bekommen«, sagte Lucy.

      »Das ist ungerecht«, sagte Achim.

      »War es denn richtig, daß du seines genommen hast?«

      »Ich wollte es zurückgeben«, wiederholte Achim trotzig.

      Ob er es jemals einsehen wird, was er angerichtet hat? dachte Lucy bestürzt.

      »Bekomme ich mein Rad nun wieder, Mutti?« fragte er.

      »Du wirst noch lange nicht radfahren können«, sagte sie, »und daran ist niemand von uns schuld.«

      »Ich will nicht dauernd im Bett liegen«, sagte er bockig.

      »Das wirst du noch einige Zeit müssen, Achim. Wer nicht hören will, muß fühlen.«

      Hatte sie das wirklich gesagt? Hatte sie das sagen können?

      Seine Lippen verzogen sich schmollend. »Du bist doch böse«, murmelte er. »Ich habe Schmerzen.«

      »Und ich kann mich nicht für dich ins Bett legen und die Schmerzen auf mich nehmen, die du deinem Leichtsinn zuzuschreiben hast.«

      Bin ich das noch? fragte sie sich. Wie kann ich denn nur so mit ihm reden? Sie schaute ihn an. Er hatte seine Augen zusammengekniffen.

      »Von wem hat Kurti denn das neue Rad?« fragte er.

      »Von uns, damit dir niemand nachsagen kann, daß du es gestohlen hast. So reden nämlich die Leute, Achim. Denk mal darüber nach. Du hast jetzt Zeit dafür.«

      »Sepp hat mich doch überredet, Mutti. Er hat gesagt, daß es keiner merkt. Er wollte nicht glauben, daß ich schneller fahren kann als er.«

      Lucy senkte den Kopf. Sepp war schneller, und das war sein Tod, dachte sie. Aber woher hatte dieser Junge eigentlich ein Rad? Auch das ging ihr durch den Sinn, da sie endlich wieder klar denken konnte. Sie wußte inzwischen, in welchen bescheidenen Verhältnissen die Schindelbecks gelebt hatten.

      »Mit wessen Rad ist eigentlich Sepp gefahren?« fragte sie.

      »Ach, der hat immer wieder welche geschenkt bekommen. Manche Eltern schmeißen die älteren Fahrräder einfach weg und kaufen ihren Kindern neue. Du brauchst bloß mal gucken, wenn die Sperrmüllabfuhr kommt. Was da alles auf der Straße steht. Da sind manchmal ganz tolle Sachen dabei, auch Fahrräder. Sepp und Gustl haben sich dann immer welche zusammengebaut. Findest du das nicht toll, Mutti?«

      Sie haben ihre Fähigkeiten schlecht genutzt, dachte Lucy deprimiert. Und was auch geschehen ist, Achim bewundert diesen Sepp noch immer.

      Was konnten sie dagegen tun? Moral predigen? Ihm immer wieder vorhalten, daß vermieden hätte werden können, was geschehen war?

      Sie stand auf. »Ich werde jetzt heimfahren, Achim«, sagte sie. »Tini kann nicht alles allein machen.«

      »Ich möchte auch nach Hause«, brummelte er.

      »Du wirst heimkommen, wenn es der Arzt erlaubt.«

      »Es ist so langweilig hier«, begehrte er auf.

      »Ich habe dir Bücher mitgebracht. Du kannst lesen.«

      »Ich mag aber nicht lesen. Ich möchte mal wieder fernsehen.«

      »Das geht jetzt eben nicht, und außerdem ist unser Fernseher kaputt.«

      »Kauft ihr keinen neuen?« fragte Achim.

      »Nein, wir kaufen keinen. Dazu haben wir kein Geld.«

      Er riß die Augen ganz weit auf. »Warum nicht?« fragte er. »Wir sind nicht so arm wie Sepps Eltern, und wir sind doch versichert.«

      Oft genug hatte er das gehört. Immer hatte Erwin es gesagt, wenn mal was passiert war. Man konnte es Achim nicht zum Vorwurf machen, denn es war ihm sozusagen eingeimpft worden.

      »Man ist nicht gegen alles versichert, mein Junge«, sagte sie leise. »Wir wollen, daß du gesund wirst. Das ist uns wichtiger als alles andere.«

      Vielleicht war das falsch gewesen, was sie da gesagt hatte. Lucy Rogner quälte sich mit diesem Gedanken. Aber sie war so leergebrannt von all den Überlegungen, die sie Tag und Nacht beschäftigt hatten,

      daß sie schon gar nicht mehr wußte, was sie sagen sollte. Was konnten sie denn noch tun, damit Achim auf

      den richtigen Weg kam? Sie hatten ihm alles erlaubt. Zuviel? Diese Frage ließ sie nicht mehr los, und

      sie wußte, daß sich Erwin damit auch auseinandersetzte.

      Warum gerieten eigentlich so viele Kinder aus gutsituierten Familien auf die schiefe Bahn? Man hörte und las es immer wieder. Früher hatte sie immer gedacht, daß es bei ihnen so was nicht geben könnte.

      Gebeugt, mit schleppenden Schritten, ging sie zum Taxistand, und als sie dann vor dem Neubau hielten und der Taxifahrer sagte: »Dufte, so was wünsche ich mir auch«, kamen ihr die Tränen.

      Glück hat es uns nicht gebracht, dachte sie, als sie dann das Haus betrat.

      Alles stand an seinem Platz, wie es geplant war. Immer und immer wieder hatte sie es sich vorgestellt.

      Tini ordnete noch Blumen in eine Vase. »Du kommst ja schon, Mutti«, sagte sie erstaunt.

      Lucy streckte die Arme nach ihr aus, und als sie auch von Tinis Armen umfangen wurde, rannen ihr die Tränen über die verhärmten Wangen.

      »Ich habe mir diesen Tag ganz anders vorgestellt«, flüsterte sie.

      »Freu dich doch wenigstens ein bißchen, Mutti. Achim kommt ja wieder«, sagte Tini. »Schau dir endlich mal deine Traumküche an.«

      »Wo ist Vati?« fragte Lucy.

      »Nun reg’ dich nicht gleich wieder auf. Er hat sich bloß den Daumen geklemmt. Rainer hat ihn zu Dr. Norden gefahren. Es ist nicht schlimm.«

      »Und wo ist Ulla?«

      »Sie räumt ihr Zimmer ein.« Sie drehte sich um. »Ulla, komm runter, Mutti ist da!« rief sie.

      »Ja, ich komme schon. Ich bin gleich fertig!« rief Ulla zurück. Und dann kam sie, mit einem Lächeln auf den Lippen.

      »Mein Zimmer ist toll, Mutti«, sagte sie. »Mit Achims können wir uns ja Zeit lassen.«

      »Ja, damit können wir uns Zeit lassen«, sagte Lucy bedrückt.

      »Wir haben schon überlegt, ob wir ihm den alten Fernseher hineinstellen«, sagte Tini. »Rainer macht dann noch einen zweiten Anschluß.«

      »Das kommt nicht in Frage. Ich habe ihm gesagt, daß wir keinen Fernseher mehr bekommen«, erwiderte Lucy. »Er hat überhaupt nichts anderes im Kopf als diese verfluchten Krimis und Western. Damit ist Schluß.« Und dann sank sie auf den Küchenstuhl und schluchzte jammervoll.

      »Mutti,