es begriffen, daß sie noch lange brauchen würde, um über all dies hinwegzukommen.
Ulla hatte ihren Liebeskummer bereits überwunden in der Freude über ihr hübsches Zimmer. Wenn man so jung war, kam man schneller über Enttäuschungen hinweg, und sicher hatte auch dieser nette blonde Junge dazu beigetragen, der sie von der Schule heimbegleitet hatte.
Tini war nicht mehr so unbeschwert wie Ulla. Sie hatte auch viel nachgedacht. Sie setzte sich neben ihre Mutter und legte einen Arm um sie.
»Weißt du, was Herr Sommer gesagt hat, Mutti? Aus jedem Unglück wächst ein Glück. Du warst doch so tapfer. Wir haben dich sehr bewundert.«
»Dann laßt mich jetzt doch mal weinen«, sagte Lucy, aber ihre Stimme klang schon wieder zuversichtlicher. Die Tränen spülten vieles fort, aber nicht alles. Lucy Rogner wußte, daß ihr Leben nicht mehr im gewohnten Gleichmaß verlaufen würde. Manches mußte sie anders anpacken. Und Erwin Rogner wußte das auch.
Er nahm seine Frau in die Arme, als er kam. »Wir glaubten uns am Ziel unserer Wünsche, Lucy«, sagte er leise, »aber es scheint so, als wären wir am Anfang, und nun wollen wir nichts mehr falsch machen.«
»Wer bewahrt uns denn davor?« fragte sie.
»Unser Wille. Versuchen können wir es doch.«
»Versuchen wir es, Erwin«, sagte sie.
*
Dem Ziel ihrer Wünsche waren nun Helmut und Andrea schon ganz nahe gerückt. Sie zählten die Tage und die Stunden bis zur Geburt ihres Kindes. Andrea ging es blendend. Nicht das geringste Anzeichen gab es, daß der errechnete Termin auch eingehalten würde.
»Dr. Leitner hat sich geirrt«, sagte Helmut beklommen.
»Oder wir haben uns geirrt«, erklärte Andrea gleichmütig. »Wozu sich aufregen? Mir geht es doch gut.«
»Mir nicht«, brummte er.
»Bekommst du das Baby oder ich?« fragte sie lachend.
»Wie kannst du nur so ruhig sein, Liebling?«
»Ich weiß mich in guten Händen.«
»Auch Dr. Leitner kann sich irren.«
»Willst du mich nervös machen?« fragte Andrea.
»Ich werde nervös, ich bin es schon«, stöhnte Helmut.
»Gut, daß Sonja nicht solche Anzeichen zeigt. Ich möchte nicht acht Tage in der Klinik liegen und warten.«
»Aber auf die letzte Minute brauchst du nicht zu gehen.«
»Ich gehe, wenn die Wehen kommen und damit basta. Und ich spüre noch nichts. Jetzt fehlt nur noch, daß die Eltern anrufen und es auch nicht mehr erwarten können.«
Andrea hatte es kaum ausgesprochen, als auch schon das Telefon läutete. Andrea stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, als die aufgeregte Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr tönte.
»Ja, ich bin immer noch zu Hause, Mutti… Nein, es tut sich noch nichts. Warum sollte ich denn jetzt schon in die Klinik fahren? Ich fühle mich bestens… Nein, daran denke ich nicht, Mutti, und fang jetzt bitte nicht wieder damit an. Ich bin nicht Sonja, sondern Andrea.« Und dann knallte sie den Hörer auf. Sie war zornig. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie, »immer wieder muß man von Sonjas Baby anfangen. Wenn das aufmunternd sein soll…«
»Reg dich nicht auf, mein Liebes«, sagte Helmut. »Es ist doch nicht so gemeint.«
»Reg dich nicht auf, reg dich nicht auf – wie oft habe ich das gehört. Es ist ja nicht so gemeint. Aber aufmunternd ist es auch nicht. So, damit ihr endlich Ruhe gebt, gehe ich in die Klinik. Aber dort laßt ihr mich in Ruhe. Ich will niemanden sehen, damit ihr es wißt. Ich will nichts hören. Ich will mich nur weiterhin freuen.«
Helmut war völlig konsterniert, als sie tatsächlich nach ihrem Mantel griff.
»Ich werde nichts mehr sagen, Schatzilein«, murmelte er. »Komm, leg dich nieder.«
»Ich denke nicht daran. Dr. Leitner wird mich schon verstehen. Ihr macht mich verrückt.«
Wie betäubt half ihr Helmut in den Mantel. »Ich hole den Wagen aus der Garage«, sagte er kleinlaut. »Es stürmt fürchterlich, Liebes. Es schneit.«
»Das ist mir wurscht«, sagte Andrea. »Ich kann auch zu Fuß gehen, wenn der Wagen nicht anspringt.«
»Sei doch vernünftig, Andrea«, sagte Helmut flehend.
»Ich bin vernünftig«, erwiderte sie. »Ihr dreht durch.«
Der Motor sprang an. Helmut fuhr ganz vorsichtig.
Andrea sagte: »Wenn du weiter so langsam fährst, kommt unser Kind wahrscheinlich im Auto zur Welt. Dann sind wir nämlich erst morgen in der Klinik. Und morgen ist der Termin.«
Es war elf Uhr abends, und Helmut fuhr ein bißchen schneller. Eine Viertelstunde später waren sie in der Klinik, bedeckt mit Schneeflocken, die in der Wärme, die sie nun umgab, schmolzen.
»Ich werde Dr. Leitner rufen«, sagte die Stationsschwester.
»Tun Sie das«, sagte Andrea. »Er soll meinen Mann beruhigen. Er kriegt nämlich das Kind.«
Die Schwester lächelte. »Das kennen wir«, meinte sie, und Helmut Sommer plumpste in einen Sessel.
Dort blieb er auch sitzen, als Dr. Leitner herbeieilte.
»Meine Frau ist so komisch«, murmelte er. Dann schlief er in dem Sessel ein, denn er hatte einen harten Arbeitstag hinter sich.
*
Um diese Zeit lagen sie sonst längst im Bett. Der Zeiger der Uhr rückte unaufhaltsam vorwärts, ohne daß Helmut davon etwas merkte. Aber nur eine Stunde war vergangen, als er wachgerüttelt wurde.
»Was ist denn, Liebling?« fragte er schlaftrunken.
»Ich bin nicht Ihr Liebling«, sagte Dr. Leitner schmunzelnd. »Augen und Ohren auf, Herr Sommer, Sie haben einen Sohn!«
»Wollen Sie mich verschaukeln?« fragte Helmut.
»Das würde mir nicht einfallen. Ich kann nur sagen, daß Ihr Sohn eine wundervolle Mutter hat.«
»Das Baby – es ist schon da?« fragte Helmut verwirrt. »Aber wieso denn?«
»Weil es überaus pünktlich ist, lieber Herr Sommer. Nun kommen Sie erst einmal zu sich.«
»Ich träume«, sagte Helmut heiser.
»Sie träumen nicht. Sie können Ihren Sohn sogar gleich sehen. Er will nämlich auch seine Ruhe haben.«
»Und Andrea?« fragte Helmut benommen.
»Sie möchte jetzt auch ganz gern schlafen. Erst das Baby oder erst Ihre Frau?«
»Erst meine Frau«, erwiderte Helmut. Und dann kniete er an ihrem Bett und hielt ihre Hände.
»Ich kann es noch nicht glauben«, flüsterte er.
»Dann schau ihn dir doch an. Er ist so süß und war so rücksichtsvoll. Genau sechs Pfund wiegt er, wie es Dr. Leitner angekündigt hat.«
»Überpünktlich ist er auch«, murmelte Helmut.
»Wie du«, sagte Andrea lächelnd. »Er wird werden wie du, so lieb und zuverlässig.«
»Übertreib doch nicht, Liebling. Ich habe auch meine Mucken.« Er bedeckte ihr Gesicht mit zärtlichen Küssen. »Ich bin so froh, daß alles gutgegangen ist. Wieso war dir gar nichts anzumerken? Ich verstehe das nicht. Du mußt doch vorher etwas gespürt haben.«
»Ich habe nichts gespürt. Nur so ein bißchen Ziehen und Stechen. Aber was ich mir in all den Monaten vorher eingebildet habe, war viel schlimmer. Beim nächsten Kind lasse ich mich nicht mehr auf die Palme bringen, damit ihr das gleich wißt.«
Kaum war das eine da, sprach sie vom nächsten,