der viel zu jung aussah, wie ein Quartaner, der sich an die Uni verirrt hatte. Er war unterhaltsam zynisch und hatte das laute frische Lachen eines Spitzbuben. Obwohl ich dachte, da er in Bern wohnte, er müsse reich sein – denn aus Bieler Sicht waren alle Berner reich –, freundeten wir uns an. Er wohnte in einem besetzten Wohnblock, Wände wurden in allen Farben gestrichen, Badewannen waren Kühlschränke, Zimmer waren Discos oder Massenlager. Bern begann mir zu gefallen.
An einer der vielen Partys kreuzte er auf, schaute etwas erwachsener aus als andere, war aber ebenso uncool und etwas zu überschwänglich wie alle anderen Berner Männer – aus Bieler Sicht. Unser erstes Gespräch war kurz, ich stand an einem improvisierten Buffet mit vor allem Alkohol drauf und suchte nach einer Flasche, in der noch drin war, was draufstand, da spricht er mich von hinten an.
»Hey, bist du Raphael? Ich bin der Luki. Habe gehört, dass du schreibst.«
»Ja.«
»Ich schreibe auch. Du Gedichte, nicht wahr? Cool! Ich eher so Kurzgeschichten.«
»Cool. Freut mich, äh, Luki.«
In der Erinnerung sehe ich so eine Art Kreuzung von jungem Johnny Cash und Nick Cave vor mir, jedenfalls was die Kleider betrifft. Ein begeistertes Lachen, vielleicht ein Schulterklopfen. Ich dachte damals, das sei Attitüde, um bekannt zu werden oder so. Ich hatte kaum jemandem erzählt, dass ich Gedichte schreibe, also folgerte ich, dass Lukas ein Freund von Urs sein musste. Wohl ein Amateur, dachte ich in meiner Arroganz.
Die nächsten Jahre kreuzten sich unsere Wege oft. Meine Arroganz wich einer Begeisterung für improvisierte Lesungen in besetzten Häusern, Berndeutschen Rap und viel WG-Leben. Immer tauchte irgendwo auch Bärfuss auf, meist kam er später als alle anderen und ging früher. Er war der Einzige, der eine Armbanduhr trug und auch immer wieder darauf schaute. Er wirkte oft, als hätte er weniger Zeit als wir. Wir waren Studenten, ließen uns mehr oder weniger von unseren Eltern aushalten, er war Buchhändler im »Lindwurm« in Fribourg und hatte diese Art Unterstützung nicht. Kein Hochschulabschluss, keine Uni.
Urs und ich waren Germanisten und quälten uns durch Wilhelm Raabe oder Stefan Zweig. Bärfuss verschlang Weltliteratur, las amerikanische und russische Wälzer, war nicht gebunden durch Seminarstoff oder Termine. Er las, um sich zu bilden und um Schreiben zu lernen.
1996 überredete er mich, mit ihm zum »Offenen Block« in Solothurn zu fahren. »Dort darf jeder lesen, der will, das ist doch super.« Ich wusste nicht recht, und doch ging ich mit. Bärfuss kann sehr überzeugend sein, er ist direkt, begeisternd und gibt einem das Gefühl, dass vieles möglich ist, und dass man ein Spielverderber ist, wenn man nicht mitmacht.
In Solothurn las er eine Geschichte über einen jungen Schnösel der – soweit ich mich erinnern kann, bei T. S. Eliot wohnte, in der Nachbarschaft von Ezra Pound. Irgendwo kam auch noch ein Rollbrett vor. – Ich las nach ihm und war zu nervös, um richtig zuzuhören, doch war der Applaus wohlwollend. Ich las einige an H. C. Artmann angelehnte Liebesgedichte an eine imaginäre »Ludmilla«. Es wurde gelacht, und tags darauf wurden wir beide namentlich in der »Berner Zeitung« erwähnt.
Ich war glücklich und dankbar, dass Luki mich überredet hatte. Danach gab es mehr Lesungen und Happenings in besetzten Häusern, er schrieb sein erstes Stück, eine Neufassung von Oedipus und ich wurde vom Regiestudenten Samuel Schwarz als Musiker verpflichtet, der das Stück in einer riesigen, geschlossenen Fußgängerunterführung in Zürich inszenierte. Wir froren alle, obwohl es Sommer war, in diesen kellerartigen Gängen am Escher-Wyss-Platz. Doch passte die unwirtliche Umgebung zum Stück. Es war ein düsterer, roher Oedipus. Wie auch Bärfuss’ Sprache düster war, roh. Ja, zum Teil fast ungelenk, aber dennoch kräftig, alttestamentarisch. Keine leichte Kost. Sprachlich erinnerte es mich an den jungen Dürrenmatt, der in seinen »Stoffen« schrieb, er habe, als er mit Schreiben anfing, zuerst Deutsch lernen müssen, daher sei sein parataktischer Stil gekommen, und nicht etwa wegen seiner Affinität zum Expressionismus.
Dürrenmatt war Emmentaler, Bärfuss kommt aus Thun. Sein leiblicher Vater starb in der Zeit, in der wir uns kennenlernten, in dem Dorf, aus dem mein Vater stammt. Bärfuss kümmerte sich allein um die Beerdigung. Er organisierte die Bestattung, löste die Wohnung auf, erledigte alle Formalitäten. Jeder Tote macht uns etwas erwachsener.
Nach der Jahrtausendwende wurden unsere Leben hektischer, Bärfuss zog nach Zürich, ich blieb in Bern. Doch immer machten wir Ausflüge oder reisten zusammen. Ich begleitete ihn an die französischsprachige Uraufführung des Stückes »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« in Lausanne, vielleicht, weil ihn damals Französisch, das er heute fließend beherrscht, noch etwas nervös machte. Und: Wer geht schon gerne allein an eine Premiere?
Er besuchte mich 2003 in New York, wo ich ein Stipendium hatte, und von dort aus flogen wir nach Santo Domingo, wohin seine Mutter und sein Stiefvater gezogen waren, da der Stiefvater keine volle Rente beziehen konnte. Sie hatten mehr oder weniger mit der Schweiz abgeschlossen, der Kontakt war spärlich und ich verstand, weshalb er die Reise nicht allein machen wollte. Santo Domingo dann war Rum in Halbliterflaschen, dominospielende Dominikaner, die Mutter, die Bettlern zuschaut, die Kehrichteimer durchsuchen, und sagt »wenigstens frieren sie hier nicht«, seltsame Schweizer Clubs mit alten Männern, die über Santo Domingo und die Schweiz herziehen, junge Dominikanerinnen am Arm, und wir mittendrin, verloren, aber wenigstens zu zweit.
Ich traf ihn ein paar Wochen nach dem Tod seines Halbbruders, an seinem vierzigsten Geburtstag. Seine Mutter habe den Tod registriert. In die Schweiz kam sie nicht. Wieder organisierte Bärfuss eine Beerdigung praktisch allein.
Später wollte ich mit meiner Frau, frisch verheiratet, nach Südfrankreich fahren. An einen Ort, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zugänglich war. Bärfuss bot sich als Fahrer an, organisierte ein Auto. Unglaublich hilfsbereit, wie immer. Wir fuhren nach einer gemeinsamen Lesung am Genfersee los, hörten laut Melvins im Auto und machten Witze über »Flitterwochen zu dritt«. Vielleicht weil Bärfuss nicht viel Zeit mit seiner Familie verbrachte, fühlt sich Zeit mit ihm immer familiär, vertraut, ungezwungen an.
Das Haus war groß genug, die Ruhe auch. Bärfuss schrieb in einem Zimmer mit Sicht auf die Hügellandschaft des Languedoc in seiner stilsicheren Schrift die ersten Seiten von »Koala«. Wie immer, Handarbeit.
Ich erinnere mich, wie er von einem Gespräch mit einem Schreinerlehrling erzählte, das er im Zug geführt hatte. Der Lehrling fragte ihn, was er denn beruflich mache.
»Wie? Schriftsteller? Das möchte ich nie sein!«
»Warum?«, fragte Bärfuss zurück.
»Da musst du immer gut sein. In meinem Beruf muss ich die Anforderungen erfüllen, aber du musst besser sein, immer bei den besten. Das wäre mir zu anstrengend.«
»Ich pflichte dem angehenden Schreiner zu«, sagte Bärfuss zu mir. Wir lachten. Nicht weil es lustig war, sondern weil es stimmte. Das Schreiben ist für Bärfuss ein knochenhartes Geschäft. Abgabetermine sind ihm ein Albtraum. Deshalb, nicht wegen der Eitelkeit, ist die Anerkennung wichtig und so unglaublich schön.
Judith Gerstenberg
Trotzdem Laudatio zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2019 an Lukas Bärfuss 1
»Das Abenteuer«, schrieb der heute zu Ehrende vor vielen Jahren, »das Abenteuer ist es, ein Leben zu leben. Die Vereinzelung, die Absonderung passiert früh genug, von sich aus, ohne Zutun. Doch jetzt gilt es, mit dieser menschlichen Gesellschaft zu koexistieren und das heißt: Ich muss die Gesellschaft studieren. Nur was man nicht kennt, schmerzt.«
Jemand, der sich diese Aufgabe stellt, weiß um den Abgrund, er spürt die Angst, dass das Abenteuer, ein Leben zu führen, misslingen könnte. Lukas Bärfuss notierte die eben zitierten Sätze vor zwanzig Jahren in einem Brief, gerichtet an die damalige künstlerische Leitung des »Theater Basel«. In ihm ließ er der Verzweiflung eines jungen Autors freien Lauf, der nicht