Selbstmörderin, eine Dramatikerin seines Jahrgangs. Die Nachrufe, die man lesen konnte, labten sich am lustvollen Schauder, der Menschen ergreift, wenn sie erkennen, noch einmal davon gekommen zu sein. Da hatte jemand, der dem Schmerz und der Gewalt auf der Bühne Ausdruck gegeben hatte, seine Glaubwürdigkeit mit dem Tod bezahlt.
Diesen Opfergang wollte Lukas Bärfuss nicht antreten. Er wäre wohl auch ohne Wirkung geblieben. Er räsonierte: »Hätte ich mich in diesem Landhaus, wo die Stipendiatswohnung untergebracht war, aufgeknüpft, hätte es vielleicht eine Notiz in der Lokalzeitung gegeben, und die Empörung sich darin erschöpft, dass es nicht meine Wohnung und ich dort nur Gast, und: ein Stock tiefer ein Kindergarten war.« So ungleich, ahnte er, wären Pathos und Prosa verteilt. Er entschied sich den Weg in die Gegenrichtung anzutreten und schreibend in der Welt anzukommen.
Seine ungeheure Produktivität – er veröffentlichte seither 26 Theaterstücke, drei Romane, zwei Essaybände, Erzählungen, Hörspiele, Reden, Artikel – kommt nicht von ungefähr. Das Schreiben ist ihm Instrument, die Welt zu greifen, ihre Zusammenhänge zu erkennen, Orientierung zu finden – vielleicht dadurch auch Halt. Er ändert dafür immer wieder den Rahmen, die Genres, spielt virtuos mit verschiedenen Stilen, doch die Suchbewegung ist die gleiche, sie richtet sich darauf, den Abgrund zu überbrücken, die deutlich empfundene Differenz zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft.
Dem von mir erwähnten Brief war eine Skizze beigelegt, für die Lukas Bärfuss auf einen Stückauftrag hoffte. »Meienbergs Tod« sollte der Titel lauten, der nicht zufällig an einen Titel desjenigen erinnert, zu dessen Ehren heute der Preis vergeben wird.
Das Thema dieser Skizze war überraschend, wie so oft bei Lukas Bärfuss. Es lag nicht in der Luft und wartete darauf erlöst zu werden. Doch schon damals merkten wir – und das lag an diesem Brief –, dass man dem analytischen Blick dieses Autors für Stoffe unbedingt folgen sollte. Er sieht früher als andere, was uns beschäftigen müsste. Und: Das Thema, das er jeweils in ihnen findet, ist selten das, was man selbst vermuten würde, zeigen sie sich doch an ihrer Oberfläche harmlos, alltäglich. Erst durch seine Hinwendung öffnet sich die eigentliche Dimension, die beunruhigt, weil sie tiefer an das eigene Selbstverständnis rührt, als man wahrhaben oder auch zulassen möchte. Denn Lukas Bärfuss misstraut dem Umstandslosen, er ist ein scharfer Beobachter, begabt mit einer außerordentlichen Sensibilität für offene Situationen. Mit seinem bisherigen Werk hat er bereits eine umfangreiche Topografie der unbeantworteten und unbeantwortbaren Fragen unserer Zeit erstellt. Er ist auf der Suche nach Wahrhaftigkeit, nicht ohne gleichzeitig die Sorge durchblicken zu lassen, dass er dem, was er finden würde, womöglich nicht gewachsen ist. Doch zunächst zurück zu jener Skizze, jenem Stückentwurf »Meienbergs Tod«, den er nach Basel sandte und in dem sich ein Thema ankündigte, das Bärfuss durch sein Leben begleiten wird.
Der titelgebende Niklaus Meienberg war die Schweizer Ikone des investigativen Journalismus. Er war ein Störer in der Öffentlichkeit, ein Begehrender im Privaten, ein berserkerhafter Regel- und Selbstverletzer, dessen auffahrendes, autoritäres Gehabe seinen propagierten Überzeugungen gänzlich zuwiderlief. Er hatte sich schon zu Lebzeiten demontiert, wund gekämpft, litt am Ende unter psychotischen Schüben. Schließlich schluckte er Rohypnol. Zum Zeitpunkt von Bärfuss’ Vorschlag war diese streitbare Figur der jüngeren Generation – also uns – gerade noch ein Begriff. Eigentlich schon am Vergessenwerden, denn der übliche Ablauf von Verklärung und Entzauberung hatte schon stattgefunden.
Bärfuss bediente sich jedoch eines ästhetischen Mittels der Distanzierung, ließ Zeit und Raum sich krümmen bis sich verschiedene Erzählebenen berührten und neue Bedeutungsräume öffneten: Eine Schauspieltruppe, kostümiert als Dantonisten, war beauftragt, Szenen aus dem Leben dieses revolutionären Journalisten zu spielen. Doch keiner wollte seine Rolle übernehmen. – Es sei daran erinnert, dass um die Jahrtausendwende bereits das Ende der Geschichte ausgerufen worden und das öffentliche Engagement nicht in Mode war. – In der Bühnengegenwart der Truppe entbrannte eine heftige Diskussion über Politik, Moral und öffentliches Bewusstsein, bis einer der ihren mehr und mehr in Vehemenz, Hybris, Selbsthass mit der Rolle dieses Meienberg verschmolz. Unerträglich für die anderen, gegen die dieser Spieler wütete und die gemeinsame Unternehmung verunmöglichte. Am Ende waren diese erleichtert über dessen Tod und schickten ihm nach: »Du glaubst eine Berufung zu haben und früher waren wir eifersüchtig auf deine Leidenschaft im Stil, jetzt sind wir froh, davon verschont geblieben zu sein. Denn wir kennen vielleicht noch das Wie, doch das Wozu haben wir vergessen.«
Es ging Lukas Bärfuss nicht um Meienberg. Es ging ihm um die Gesellschaft, die ihn umgab, ihre Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Menschen, mit der Abweichung von der Norm und ihre Hilflosigkeit im Umgang mit den eigenen Überzeugungen, es ging ihm um sich als Teil von ihr.
Lukas Bärfuss selbst ist alles andere als ein Pöbler. Es handelt sich bei ihm vielmehr um einen Menschen, der seine Worte mit großer Bedachtsamkeit abwägt, der langsam spricht, den Gedanken ertastend, dem Gewicht des einzelnen Ausdrucks nachspürend, der keinen Satz zu viel sagt und keinen zu wenig, dessen Äußerungen druckreif sind.
Seine Behutsamkeit resultiert aus seinem distanzierten Verhältnis zur Sprache, die er zuallererst als Beobachtungsfeld, als gesellschaftlichen Raum begreift. Es gibt ja keine Sprache außerhalb der Diskurse, keinen Ort, an dem sie dem permanent drohenden Konformismus mit der Macht entgehen würde. Es gibt sie nicht, heißt das also, die eigene Sprache. Sie ist immer fremd, immer Konvention. Dieser durchaus schmerzlichen Nichtverfügbarkeit für das Eigene liegt die Erfahrung des Einzelnen zugrunde, in seinen Empfindungen und Triebfantasien sprachlos zu sein.
Daher schaut Bärfuss in seinen Texten auf den Ausstoß unserer Gesellschaft, ihre öffentliche Rede, ihre Festlegungen, ihre Argumentationslinien und sucht dabei nicht das Geheimnis hinter den Dingen, sondern darin, wie sie sich dargestellt wissen wollen. Er erforscht das systematisch. Zuerst im Theater.
Nicht umsonst zählt er unterdessen zu den wichtigsten und erfolgreichsten Dramatikern, die wir haben – er wird hierzulande und auch international gespielt. Er sucht die Bühne auf als öffentlichen Ort für Experiment und Erfahrung. Sowohl im Theater als auch in der Gesellschaft geht es um Zuschreibungen, Verabredungen, Akzeptanz – und um Verwandlung. Daher bietet es die einzigartige Möglichkeit, die Mechanismen des menschlichen Zusammenlebens zu untersuchen. In der Öffentlichkeit, als gemeinsames Erlebnis, als geteilte Erfahrung.
Zuerst unser Verhältnis zur Sprache: So wie die Schauspieler fremden Text lernen, um sich auszudrücken, so tun wir das außerhalb der Bühne auch. Wir sprechen eine Sprache, die bereits definiert ist, in die wir hineingeboren wurden. Diese Künstlichkeit betont Bärfuss. Die Sprache, die seine Figuren sprechen, ist klar und grundsätzlich. In der Erarbeitung während der Proben erweist sich: Es ist kaum möglich, sie sich improvisierend anzueignen, jedes hinzugefügte Wort, jedes Füllsel stört. Umformulierungen rächen sich spätestens im Folgesatz, Auslassungen auch. Bärfuss verweigert zudem die psychologische Ausstaffierung seiner Figuren. Er hält das nicht für wirksam. Es würde auch ablenken vom Wesentlichen, nach dem er sucht.
So hält er auch die Szenen seiner Stücke knapp, sie gleichen Tableaus, die unaufgeregt, sachlich, einen Konflikt zur Betrachtung freigeben. Oberflächlich haben Bärfuss’ Texte tatsächlich einen undramatischen Duktus. Doch in den Zwischenräumen brodelt es. Die Problematik, die sich in ihnen sukzessive auseinanderfaltet, zielt auf die Kernfragen der Moderne: Wie lieben, wie sterben, wie glauben wir, wie erinnern wir, wonach richten wir uns in unserer säkularisierten Gesellschaft, deren höchster Glaubensartikel der freie Wille ist, die persönliche Freiheit? Bärfuss begegnet diesen Fragen dialektisch, mit einem Denken, das gerade das Aufdecken von Ambivalenzen und Widersprüchen zum leitenden Motiv hat. Die Sachlichkeit im Duktus löst interessanterweise Aggressionen aus. Oftmals fühlt sich das Publikum provoziert, weil es gewahr wird, dass uns die Ideen, die wir uns über uns als Gesellschaft gemacht haben, am Ende nichts nützen werden.
Tatsächlich zielen Bärfuss’ Stücke auf Erkenntnisgewinn. Sie gleichen Laborversuchen. Er steckt sich jeweils ein Untersuchungsfeld in Raum und Zeit ab, so groß beziehungsweise so klein, dass es die Beobachtung zulässt. Er nimmt das Einzelne, Konkrete und studiert seine Voraussetzungen. Er lässt sich nicht täuschen von den unausgesprochenen Übereinkünften,