ein faszinierter. Er staunt darüber, wie unsere Gesellschaft funktioniert, mehr noch: er staunt darüber, dass dieses überaus komplexe Gefüge überhaupt funktioniert. Dieses Staunen verdankt sich dem Blick für die Gefährdung. In ihr entdeckt er enormes dramatisches Potenzial. Und darum baut dieser Dramatiker die Ausgangssituation seiner Stücke auch sehr präzise. Er fängt den Moment ein, in dem das Gleichgewicht kurz davor ist aus dem Lot zu fallen. »Mit den ersten Repliken sollte das Stück determiniert sein«, ist er überzeugt. »Der Stein ist geworfen und ich muss nur noch schauen wie er fällt.«
Im Zentrum vieler seiner Stücke stehen Figuren, die noch nicht in der Welt angekommen sind. Ist man ihnen einmal begegnet, verlassen sie einen nicht mehr. Und zwar nicht, weil sie einem so nahe gekommen wären, sondern weil man sich in ihrer Gegenwart fremd geworden ist. Die eigene Fremdheit in der Welt wird bewusst, die Fragilität, die dem sozialen Zusammenhang innewohnt.
Da ist zum Beispiel Dora aus »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« – sie soll hier beispielhaft für andere stehen. Dora ist jenes Mädchen, das ein Haarbreit nur neben unserer Welt liegt. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Ihre Mutter möchte ihr zukünftig ohne Sedierung durch Medikamente begegnen. Damit fängt das Stück an. Was folgt, ist der schwierige Prozess einer Menschwerdung. Da Dora nicht in den Rastern der normalen Kommunikation funktioniert, Situationen nicht antizipieren kann, entwickelt sie ein System sprengendes Potenzial, das selbst die liberalste Gesinnung überfordert. In der Folge erlebt sie, dass sie nicht frei über sich verfügen kann und man entdeckt, dass es einem selbst letztlich auch so ergeht, weil sich erst durch persönlichen Verzicht, durch Unterwerfung in einer Gesellschaft leben lässt. Sozialisation, das zeigt dieses Stück, lässt sich nicht lehren, nur lernen. Wir fühlen uns provoziert, weil der Diskurs, den wir zu führen gewohnt sind, in den konkreten dargestellten Situationen versagt. Unser Selbstbild kollidiert mit unserem Handeln. Und anders als unser liberales Selbstverständnis behauptet, sehen wir auch, dass wir nicht in der Lage sind, Widersprüche auf lange Sicht zu ertragen. Wir sehen uns stattdessen mit der Frage konfrontiert, was schließlich passiert, wenn die Geschichte, die wir uns von uns erzählen, nicht passt, wenn wir gewahr werden, dass die fremdeste Geschichte von allen diejenige ist, von der wir glauben, es ist die eigene. Die Antwort ist, so die Beobachtung: Gewalt. Gewalt, die Anpassungsprozesse erzwingt.
Lukas Bärfuss zeigt in seinen Stücken keine Fälle – das ist manches Mal ein Missverständnis –, sondern protokolliert, welches Gesicht sich ein Problem in der öffentlichen Diskussion gibt. Und er protokolliert das Dilemma, in das sich unsere Gesellschaft hineinmanövriert mit ihrem unaufhaltsamen Bestreben, für alles eine Lösung zu finden. Darin steckt die befreiende Komik seiner Texte. Das Lachen ist ihm wichtig. Als revolutionäre Kraft und als erkennende.
Da Dichtung – Schreiben und Sprechen überhaupt – nicht denkbar ist ohne ihre Prägung durch das konkrete Subjekt in seinem Gezeichnetsein durch die ihm eigene Erfahrung, erlauben Sie mir bitte einen kurzen Exkurs in seine Biografie: Lukas Bärfuss ist 1971 in Thun, einer kleinen Garnisonsstadt in der Schweiz, geboren. Die Familienverhältnisse waren schwierige, die Schulzeit ungeliebt und kurz, er lebte zuweilen auf der Straße, lebte vom Mundraub. Tätigkeiten als Gabelstaplerfahrer, Eisenleger, Gärtner und Lohnarbeiter eines Tabakbauern stehen in seinem Lebenslauf. Aber es ist nicht geraten, diese Zeit zu stilisieren. Die Arbeitsbereiche für einen Ungelernten waren der Not geschuldet. Schließlich – ein Märchen: Ein Mitarbeiter einer Entrümpelungsfirma überließ dem Obdachlosen das Lexikon eines Verstorbenen, dessen Haushalt gerade aufgelöst wurde.
Lukas Bärfuss’ Bildungshunger erwachte, systematisch arbeitete er dieses Lexikon durch, von A bis Z, fand zu den Büchern, fand zur Literatur als Gegenort, als Ort des Möglichen, des Nicht-Tatsächlichen, von dem aus das Tatsächliche in den Blick genommen werden kann, als »Rastplatz der Reflexion«, wie einmal der Sozialphilosoph Oskar Negt den gesellschaftlichen Wert der Literatur, des Theaters, der Kunst überhaupt beschrieb. Bärfuss las und las, suchte die klassischen Grundtexte unserer Zivilisation auf und entwickelte das untrügliche Gefühl, dass diese Lektüren mit seinem eigenen Leben zu tun haben. Er begann die Zeit zu vermessen zwischen dem Damals und Heute und untersuchte, was geblieben ist und was sich verändert hat. Er absolvierte eine Buchhändlerlehre und beschloss Schriftsteller zu werden, und er ist, wenn man ihm glauben darf, noch heute überrascht, dass diese kühne Behauptung gesellschaftliche Akzeptanz erfahren hat.
Und genau darum geht es Lukas Bärfuss fortan auch in seinem Schreiben: um gesellschaftliche Zuschreibungen, Verabredungen, Akzeptanz und natürlich – die versteckte Gewalt, die davon ausgeht und Fluchtversuche provoziert, die besonders in Bärfuss’ Prosa Thema sind. Seine drei Romane sind so stark, so konzentriert, so intelligent entwickelt, dass ich an dieser Stelle darauf verzichten muss, sie in der Kürze der mir gegebenen Redezeit anzureißen. Ich kann sie nur jedem anempfehlen und ich hoffe, in dieser Laudatio eine Spur für ihre Lektüre zu legen, denn auch sie handeln von jenen Verhaltensparadoxien.
Vielleicht verdankt sich die geschärfte Beobachtungsgabe für die blinden Flecken in unserem Selbstverständnis dem Parzival’schen Blick – eines, der verspätet in die Gesellschaft integriert wird, der die Sozialisation erst im jungen Erwachsenenalter nachholt und daher diesem Gemeinwesen gegenüber, bei dem er um Aufnahme ersuchte, die Distanz behält. In »Parzival«, einem dieser Grundtexte, sieht Bärfuss den Urkonflikt des Schriftstellers verhandelt, der sich einerseits danach sehnt, Teil jener Gesellschaft zu sein, die er beschreiben möchte, der sich wünscht, mitten in ihr zu stehen, von allem berührt zu werden, die größtmögliche Zeitgenossenschaft und Durchlässigkeit zu haben – der aber andererseits für und durch seine Arbeit als Dichter eine Distanz aufbaut. Dichtung, so Bärfuss, sei nur möglich in diesem Widerspruch.
Vielleicht ist es diesem verspäteten Einstieg in die Bildung auch zu verdanken, dass wir es bei diesem Autor mit einem so eigenständigen, unkorrumpierbaren Denker zu tun haben, der sich die Zeit nimmt, die es braucht, alles selber zu durchschreiten, sich selber zu erarbeiten, schreibend. »Was die Welt sagt und was in den Büchern steht, das kann nicht maßgebend für mich sein. Ich muss selber nachdenken, um in den Dingen Klarheit zu erlangen.« Diese letzte Replik aus Ibsens »Nora« zitiert Bärfuss oft und meint sich selbst. Er riskiert Umwege, viele, aber keine Abkürzung.
Die Gesellschaft, die Öffentlichkeit – Sie merken: ich reite ein wenig darauf herum – ist sein Thema. Und: Er meidet sie nicht. Im Gegenteil. Tatsächlich ist er ein brillanter »Öffentlichkeits-Arbeiter«: in seinen Reden, Vorlesungen, seinen hellsichtigen Essays lässt er uns explizit teilhaben an seinen Bildungsprozessen, den Entwicklungen seiner Fragestellungen.
Jeder Auftritt, jedes Buch, jede seiner Veröffentlichungen liest sich als die Fortsetzung eines Gesprächs, für das er mich, den Leser, Hörer, Zuschauer als Gegenüber sucht und – deswegen fühlt man sich wohl in seiner Nähe – in all seinen Irrtümern ernst nimmt. Bärfuss’ Texte sind adressiert, da spricht jemand, der Austausch sucht. Auch deshalb kann man sich ihnen nicht entziehen. Sein unumstößliches Vertrauen in das Gelingen einer Gedankenarbeit, die ihre Kraft aus sokratischer Selbstbefragung bezieht, ist sehr tröstlich und emanzipiert sein Gegenüber, das er darin einbezieht. In diesem Sinne ist Bärfuss ein Aufklärer, denn Aufklärung ist ein Modus des Denkens und, wie wir wissen, etwas Unabschließbares. Er hört nicht auf zu fragen: Was bedeutet das? Wer hat die Deutungshoheit – über die Gesellschaft, über sich selbst, sein Leben, seine Rolle?
Es geht ihm aber auch um die Möglichkeiten der Veränderung, eben jene Verwandlung, für die Bärfuss das Theater so liebt, das Verwandlung zeigt und Verwandlung ermöglicht. Es geht ihm um die Möglichkeiten der Veränderung auch außerhalb des Theaters. Er ist wahrhaft ein zoon politicon, ein politischer Mensch, der das Gemeinwesen zum Hauptgegenstand seiner Untersuchungen und – das ist herauszuheben – seines Handelns macht: Als Vater seiner Kinder und als Bürger eines Staates.
Daher scheut er auch nicht die Einmischung: 2015 zum Beispiel, vor den Schweizer Parlamentswahlen, veröffentlichte er in der »FAZ« einen eindringlichen Warnruf, der auf den Rechtsruck der Medien seines Landes aufmerksam machte, auf die Auswechslung von unliebsamen Journalisten in den Redaktionen, die bis dahin weitgehend unkommentiert geblieben war. Was darauf folgte war ein Sturm der Entrüstung. Man warf ihm Paranoia vor. Sein Schriftstellerfreund Pedro Lenz hatte ihm noch zugerufen: