Agnes Sapper

Die Familiensaga der Pfäfflings


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verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer musste also mit mancher Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen.

      So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker in der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht eben schlechte Zeugnisse nach Hause.

      An einem solchen Novemberabend war es, dass Herr Pfäffling in das Zimmer trat und seiner Frau zurief: »Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu mir herüber, aber bitte gleich!« und er hatte kaum hinter ihr die Türe zugemacht, als er ihr leise sagte: »Ein hochinteressanter Brief!« Sie folgte ihm über den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: »Lies, lies nur!« und als er sah, dass sie mit der fremden Handschrift für seine Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er: »Die erste Seite ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus Marstadt schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er wolle mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte, Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer größeren aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen; Cäcilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?« Da wiederholte sie mit fröhlichem Lachen seine eigenen Worte: »Ob ich Lust hätte? Wie kann man nur so fragen!«

      Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee und besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet eröffnete. Und sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und rief: »Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die Kartoffeln kalt!«

      »Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau,« sagte Herr Pfäffling neckend, folgte Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll Fröhlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her, und die glückliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller Übereinkunft die Eltern zunächst vor den Kindern noch nichts von dem unsicheren Zukunftsplan erwähnten.

      Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige Aufregung hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren gut bekannt, doch hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei diesem Anlass nun kündigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit auf den nächsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen und mit dem fünf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfäffling war in einiger Aufregung wegen des Gastes. »Er ist ein etwas verwöhnter Herr,« sagte er zu seiner Frau, »ein Junggeselle, der nicht viel Sinn für Kinder hat, am wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den Hintergrund treten.«

      »Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder nicht,« sagte Frau Pfäffling.

      »Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Esszimmer bringen. Die Kinder können ja irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen gemütlichen Teetisch.«

      Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, dass sie an diesem Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der Vater zu den Kleinen: »Lasst euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es euch sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!«

      Zunächst mussten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung herzustellen, bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme. Das Wetter war leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten.

      Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der Vater in der Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit dem zäh an den Fußsohlen haftenden Lehm ließ sich nicht gut auf den Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die Schwestern bemühten sich, mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern. Da tat sich ein Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: »Kinder, ihr macht das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber hinauf!«

      »Es ist ja der Kinderfeind droben!« rief Elschen kläglich.

      »O weh!« sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, »was tut auch ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße gut ab.«

      Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wusste nicht recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den Brüdern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die Türe hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra für seine kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle eingeübt, die wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem Zaun, der den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz trennte. Im Oktober waren neue Rekruten eingerückt, die nun täglich ihre Turnübungen ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war ein guter Bekannter, ein früherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte. Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren zuzuschauen, war von großem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun und plauderte freundschaftlich mit Karl.

      Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber. Unter den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über ein gespanntes Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen Anlauf, um über die Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal misslungen war, so kam er doch das sechste mal darüber und der Schweiß redlicher Anstrengung stand ihm auf der Stirn. Die beiden anderen Ungeschickten machten gleichgültige, störrische Gesichter und träge Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück kommandiert wurde, mussten sie nach exerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. Dazu fing es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich darunter, und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da, zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, dass Schnee und Regen herunter fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die Brüder über ihn. Er würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. Welche Schande, wenn ein Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz bestünde. Es durfte nicht sein, dass er immer nur Harmonika spielte, sie wollten ihn auch springen lehren, er musste mittun, gleich morgen. Er sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht: drei eifrige Unteroffiziere gegen einen ungeschickten Rekruten!

      Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen, die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, dass sie erkundigen sollten, wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf, erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor.

      »Er ist im Wohnzimmer,« flüsterte Marie, »wir gehen in das Musikzimmer, da hört man uns nicht.«

      Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das Eckzimmer. Dort fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was sie gerne gehabt hätten, von Büchern und Heften oder Spielen hier nichts zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie waren naß und durchkältet. »Wir wollen miteinander ringen, dass es uns warm wird,« schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: »Ich nehme es mit der ganzen Marianne auf,« rief er, »kommt, du Marie gegen meine rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt