Agnes Sapper

Die Familiensaga der Pfäfflings


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Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn der Vater war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein zürnendes Gesicht und die weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für Frieder. Aber Herr Pfäffling ging ans Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar nicht auf die Kinder. Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt, denn sie hatte immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter Stimme. So erzählte denn Frieder, dass der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte, sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen müssen, ja und dann – dann stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot und dick. »Wieviel?« fragte Marie. »Zwei.« »Das geht noch an,« meinte Karl, der große. »Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren,« und nun erzählte Wilhelm, der zweite: »Bei uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles durchgeschlupft, der war schlau!« Da hörte auf einmal das Trommeln an den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: »Der war ein Lügner und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen, du bekommst deine Harmonika wieder, aber – «

      Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und sagte eilfertig: »Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im Bügelzimmer das Klingeln gehört und ihr seid vorn und achtet nicht darauf!« Schuldbewusst liefen die der Türe am nächsten Stehenden hinaus und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkündend: »Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fräulein ist da!« »Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun fortgegangen wären!« sagte die Mutter vorwurfsvoll.

      »Manchmal ist's recht unbequem, dass Walburg taub ist,« meinte Anne und Else fügte altklug hinzu: »Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut, die hören sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!« »Seid ihr ganz zufrieden, dass wir unsere Walburg haben,« entgegnete Frau Pfäffling, »wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen, sie tut's um den halben Lohn. Und wieviel tut sie uns! Es ist traurig, zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muss sie sich mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde ich ihr den doppelten geben.« Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man gesprochen hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große Brett voll geputzte Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche hereintrug. Walburg war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und ihr Gesicht hatte einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand wusste viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfäfflinge wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen, und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt über die ungewohnte Hilfsbereitschaft. »Freundlichkeit ist auch ein Lohn,« sagte Frau Pfäffling, »wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann – « »Dann wird sie kolossal reich,« vollendete Karl.

      Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: »Ein guter Anfang des Schuljahrs,« sagte er. »Die Dame hat mir ihre Tochter als Schülerin angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das Fräulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als sei es noch ein dummes Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer, wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zählte das Geld auf den Tisch. ›Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,‹ sagte die Dame, ›so bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.‹ Darauf empfahl sie sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein. Da ist das Geld, wirst's nötig haben,« schloss Herr Pfäffling seinen Bericht und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drückten sich an die Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen Kleid durch die Frühlingsstraße rauschte, begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als ein Fräulein zu sein schien. »Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?« fragte Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig heraus zu buchstabieren, er lautete: Frau Privatiere Vernagelding.

      2. Kapitel Herr Direktor?

      November! Du düsterer, nebeliger, nasskalter Monat, wer kann dich leiden? Ich glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde. Du machst den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden noch nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen Arbeit.

      Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen Tisch unter der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier Brüdern schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte französisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und suchte nach geistreichen Gedanken für den Aufsatz, der andere blätterte im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwörtern, der vierte kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still beschäftigen sollte, was aber nicht immer gelang.

      Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten ein Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten sie ungestört ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn der Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern wussten sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei rückten sie ihre Stühle dicht zusammen, wickelten einen großen alten Schal um sich und wärmten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet, es wäre ihnen auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schränkchen stand eine Ganglampe. Sie musste immer brennen wegen der Stundenschüler, die den langen Gang hinunter gehen mussten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling seine Stunden gab. Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich die Türe des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf eine Stunde die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im Vorplatz und manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den Gang ging und begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern kühl. Schlimmer war's, wenn sie etwa überhörten, dass die Musikstunde vorbei war und die Schüler im Finstern tappen mussten. Dann erschraken sie sehr, stürzten eilig hinaus, um zum Schluss noch zu leuchten, entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt hatte.

      Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe. Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater noch sprechen: »das ist doch nicht e, wie heißt denn diese Note?«

      »Sie sind noch nicht fertig,« sagten sich die Schwestern und gingen wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch zu seiner Schülerin: »Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie sich daheim, wie diese Note heißt,« und gleich darauf kam Fräulein Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht, aber das Fräulein gehörte nicht zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: »Ach bitte, Herr Pfäffling, mir graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht machen?«

      Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: »Marianne!« und die Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken