Wilfried Metsch

Die Kunst des Aufstands


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des Militärs«128

      »In der klassischen Zeit der Straßenkämpfe wirkte (…) die Barrikade mehr moralisch als materiell.«129 Es handelte sich darum, die »Truppen mürbe zu machen durch moralische Einflüsse«.130 Die Erschütterung »der Festigkeit des Militärs« ist der »Hauptpunkt, der im Auge zu halten ist«,131 will man Chancen im Straßenkampf haben. Bleiben jedoch die »Soldaten zuverlässig«132 und kann das Militär ohne politische Rücksichten handeln, scheitert der Aufstand.

      Immer wieder betont Engels, dass ein Sieg nur möglich war, »weil die Truppe versagte, weil den Befehlshabern die Entschlußfähigkeit ausging oder aber, weil ihnen die Hände gebunden waren.«133

      Scheitert jedoch die Erschütterung und Demoralisierung der Armee, »so bewährt sich, selbst bei einer Minderzahl auf Seiten des Militärs, die Überlegenheit der besseren Ausrüstung und Schulung, der einheitlichen Leitung, der planmäßigen Verwendung der Streitkräfte und der Disziplin.«134 Zudem steht den militärisch unerfahrenen Insurgenten oft eine »brutale Soldateska« gegenüber, die sich in traditionellen Kriegen sowie »in den vielen kleinen Konflikten zwischen Militär und Volk«135 ausbilden konnte.

      Als letztes Mittel zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung können die jeweiligen Machthaber außerdem auf verlässliche Kolonialtruppen und/oder auf koloniale Unterdrückungsmethoden oder in Vielvölkerstaaten auf intakte Militärverbände nationaler Minoritäten zurückgreifen. Als Beispiele seien nur genannt:

      –»Cavaignacs Militärdiktatur aus Algerien nach Paris verpflanzt«136 während des Pariser Juniaufstands 1848. »Das Volk hatte bisher keine Ahnung von solch einer algierischen Kriegsführung mitten in Paris.«137

      –Die englische Regierung benutzt Irland als »Vorwand«, um »eine große stehende Armee zu unterhalten, die im Bedarfsfalle, wie es sich gezeigt hat, auf die englischen Arbeiter losgelassen wird, nachdem sie in Irland zur Soldateska ausgebildet wurde.«138

      –1893 warnt Engels die Sozialisten in Wien vor Generalstreik, Straßenkampf und Barrikaden, da »man Euch durch Tschechen, Kroaten, Ruthenen etc. ohne weiteres über den Haufen schießen kann.«139

      3.Generell sind für proletarische Aufständische »ihre Verteidigungsmittel völlig unzureichend« und fehlen »militärische Kenntnisse und militärische Organisation bei den Mannschaften vollständig«.140 Nicht nur für den Wiener Aufstand 1849 ist es typisch, dass »die Volkspartei nach 8 Monaten revolutionärer Kämpfe keinen Militär von größeren Fähigkeiten hervorgebracht oder für sich gewonnen«141 hat.

      Grundsätzlich liegt also der Schlüssel zu Sieg oder Niederlage der Insurrektion im militärisch-politischen Verhalten der Streitkräfte. Diese Erkenntnis bestätigt die schon am 15. September 1848 in der »Neuen Rheinischen Zeitung« zu lesende Meldung:

      »Militärrevolte in Potsdam und Nauen. Der Konflikt zwischen Demokratie und Aristokratie ist im Schoß der Garde selbst ausgebrochen (…). Die Potsdamer Soldatenrevolte erspart uns wahrscheinlich eine Revolution.«142

      Insbesondere der Badische Aufstand von 1849 zum Schutz der ersten deutschen demokratischen Reichsverfassung, der Paulskirchenverfassung, ist ein Musterbeispiel hinsichtlich der Rolle des Militärs:

      »Der Aufstand in Baden kam unter den günstigsten Umständen zustande, in denen eine Insurrektion sich nur befinden kann. (…) Die Armee, die in andern Aufständen erst besiegt werden mußte, die Armee, von ihren adligen Offizieren mehr als irgendwo anders schikaniert, seit einem Jahr von der demokratischen Partei bearbeitet, seit kurzem durch die Einführung einer Art allgemeiner Wehrpflicht noch mehr mit rebellischen Elementen versetzt, die Armee stellte sich hier an die Spitze der Bewegung und trieb sie sogar weiter, als die bürgerlichen Leiter der Offenburger Versammlung wollten. Die Armee gerade war es, die in Rastatt und Karlsruhe die ›Bewegung‹ in eine Insurrektion verwandelte«.143

      Dieses Problem der politischen Eroberung und Paralyse des Militärs, um einen möglichst unblutigen Revolutionsprozess zu ermöglichen, wird Engels bis kurz vor seinem Tod beschäftigen. Verzweifelt versucht er, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands entsprechende Lösungswege aufzuzeigen. Er stößt auf taube Ohren. Noch schlimmer: Seine Anregungen und Vorschläge werden in der Parteipresse zensiert, unterschlagen und abgelehnt.

      Was ermöglicht den zeitweiligen Sieg auf der Barrikade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts?

      In der antifeudal-bürgerlichen Volksrevolution spielt das in Bürgerwehren/Nationalgarden organisierte bewaffnete Bürgertum eine entscheidende Rolle. Unterstützt die Bürgerwehr den Volksaufstand, ergeben sich gute Chancen, um auf den Barrikaden zu siegen.

      Auf dreifache Weise hilft deren Eingreifen den Aufständischen:

      a)Die Bürgerwehr trat »direkt auf Seite des Aufstands«144 oder

      b)brachte »durch laue unentschiedene Haltung die Truppen ebenfalls ins Schwanken«145 und

      c)lieferte »dem Aufstand obendrein Waffen«.146

      Weitere positive Faktoren auf Seiten der Insurgenten für den Sieg auf den Barrikaden sind:

      –Sie kämpfen »mit dem größten Heldenmut«,147

      –unterscheiden sich vom gewöhnlichen Rekruten durch freiwilligen, begeisterten Einsatz und »heroischen Mut«148 und

      –bauen auf den Kampfwillen und die unermesslichen Reserven des Volkes, denn »in der Cite schossen Mädchen aus den Fenstern auf die Soldaten«.149

      –Letztlich sind es »Menschen und nicht Gewehre, die Schlachten gewinnen müssen.«150

      Als wichtige Bedingung für den Barrikadensieg in der antifeudal-bürgerlichen Volksrevolution muss auf Seiten des Militärs allerdings deren Demoralisierung eintreten, indem

      a)die Truppe versagt (moralische Zerrüttung),

      b)den Militärbefehlshabern die Hände zur Niederschlagung der Insurrektion politisch gebunden sind und

      c)es Offizieren und Mannschaften an der Entschlussfähigkeit fehlt oder gar

      d)Teile der Armee mit den Insurgenten fraternisieren.

      Wenn jedoch auf den Barrikaden die rote Fahne weht und die soziale Republik ausgerufen wird – z. B. Juniaufstand 1848, der Pariser Kommuneaufstand 1871 –, zieht sich die bewaffnete Bourgeoisie (Bürgerwehren/Nationalgarden) nicht nur aus den Kampfhandlungen zurück, sondern bekämpft im bürgerlichen Eigeninteresse den proletarischen Aufstand. Das Bündnis zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse gegen feudale politische Herrschaftsformen steht immer auf der Kippe.

      1895 konstatiert Engels im Rückblick auf die 48/49er-Revolutionen: Trat die »Bürgerwehr von vornherein gegen den Aufstand« an, »wurde dieser auch besiegt«.151

      Für Engels ist die asymmetrische Ausgangslage einer Arbeiterinsurrektion allerdings Ansporn, immer wieder über die Gewaltfrage im Revolutionsprozess nachzudenken.

      Die Regeln der Kunst des proletarischen Aufstands

      Die seriöse Abwägung der Chancen und Risiken eines Aufstands ist nur die eine Seite der Medaille. Ebenso notwendig ist die Fähigkeit, die Kampfhandlungen zu organisieren und die Kämpfenden in Gefechten taktisch zu führen.

      1852 fasst Engels in der Broschüre »Revolution und Konterrevolution in Deutschland«, basierend auf den Erfahrungen der Revolutionen seiner Zeit, seine Ansichten zur Kampfführung zusammen:

      So wie der Krieg ist »der Aufstand eine Kunst (…) und gewissen Regeln unterworfen, deren Vernachlässigung zum Verderben der Partei führt, die sich ihrer schuldig macht. Diese Regeln, logische Schlußfolgerungen aus dem Wesen der Parteien und Verhältnisse (…) sind klar und einfach.«152

      Diese